Die Neue Regionalpolitik (NRP) - das Ende des Föderalismus?

Im Staatskundeunterricht in der Schule habe ich gelernt, dass die Schweiz aus Bund, Kantonen und Gemeinden besteht. Jeder Teil für sich hat eine Exekutive, Legislative und Judikative. Zusammen mit der direkten Demokratie und der Neutralität ist das die perfekte Staatsform für unser Land.

Der von unten gewachsene Föderalismus der Schweiz, mit den 26 Kantonen und fast 3000 Gemeinden auf kleinem Raum, festigt den Zusammenhalt der Bevölkerung. Eben wegen der Kleinheit ist alles überschaubar. Bürgerinnen und Bürger kennen ihre PolitikerInnen, wählen ihre Schulpflegen und Lehrer selbst. In kleinen Gemeinden stellen sie auch selbst die Feuerwehr und die Sanitätsdienste. Auch die kleinste Gemeinde hat das Recht, ihre Gemeinderatsmitglieder selber zu wählen und die Gemeinde so zu gestalten, dass alle darin glücklich und zufrieden sind. Hat man das Glück, ein paar gute - oder auch nur einen guten - Steuerzahler in der Gemeinde zu haben, ist man unabhängig und bestimmt über das eigene Wohl selbst.
 
1991 hat sich der Bundesrat den Beitritt zur Europäischen Union als politisches Ziel gesetzt. Das ist aber nur zu erreichen, wenn der schweizerische Föderalismus an die supranationalen und grossräumigen Strukturen der EU angepasst wird. Politologen, als Vordenker eines EU-Beitritts, meinen, dass unser Land so nicht in die EU passen würde und deshalb «modernisiert» werden müsse. In ihren «Visionen» teilen sie die Schweiz neu in sechs bis acht Regionen ein, die von der Grösse her ungefähr den österreichischen Bundesländern entsprechen. Städte könnten mit den umliegenden Gemeinden zu «Agglomerationen» zusammengeschlossen werden, aus kleinen Dörfern sollen grosse werden. Nach Ansicht dieser Strategen würde das der modernen und globalisierten Welt besser entsprechen.
 
Dank der direkten Demokratie geht die Umstrukturierung der Schweiz nur in kleinen Schritten voran. Es hat sich in Volksabstimmungen immer wieder gezeigt, dass Zusammenschlüsse von historisch gewachsenen Kantonen keine Chance haben. 1996 definierte der Bundesrat seine Regionalpolitik neu. Inskünftig soll der Bund vermehrt Zentren unterstützen, die wettbewerbsfähig und innovativ sind und sich im globalisierten Standortwettbewerb besser behaupten können. Kleinere Gemeinden sollen zusammengelegt werden, schwächere Regionen, Berg- und Randgebiete sollen in der neuen Regionalpolitik (NRP) nicht mehr im Vordergrund stehen. Dasselbe gilt auch bei der Planung von neuen Strassen, Schienen und Postverbindungen. Abwanderungen, und somit Entvölkerung, werden in Kauf genommen. Abgelegene Landstriche und Bergregionen, die nicht in die neue Politik einbezogen werden könnten, würden «passiv saniert», d.h. «sozialverträglich» aufgegeben und entleert und könnten weiter als Landreserve oder Landschaftsparks dienen.
 
Gemeindefusionen hat es zwar schon immer gegeben und dagegen ist auch nichts einzuwenden, wenn die Bevölkerung der betroffenen Dörfer einer Fusion zustimmt. In neuerer Zeit aber sind vermehrt Gemeindezusammenschlüsse zu beobachten, die von oben angestossen werden: Der Kanton verspricht zum Beispiel Prämien für die Bereitschaft zum Zusammenschluss oder droht Kürzungen des Finanzausgleichs an. Oder die Fusion wird ganz einfach mit obrigkeitlicher Gewalt diktiert. Jüngste Beispiele sind die Gemeinde Paradiso, die - Volksentscheid hin oder her - nun zur Stadt Lugano gehört und Ausserbinn im Kanton Wallis. Der Zentralismusgedanke der Planer ist überdeutlich sichtbar!
 
Die Meinung der Regionalisierer, kleinere Gemeinden seien zunehmend finanziell und personell überfordert und könnten aus Kostengründen wegrationalisiert werden, stimmt so nicht. Der Anteil an freiwilliger und gemeinnütziger Arbeit ist in den Gemeinden nach wie vor sehr gross. Ein Bauer in einem kleinen Dorf ist vielleicht der bessere Gemeindepräsident, weil er seine Mitbürger kennt, als ein G-schtudierter in einer grösseren Stadt, der zum Volk keine Beziehung mehr hat.
 
In zahlreichen Kantonen sind seit einiger Zeit Bestrebungen im Gange, die historisch gewachsenen Strukturen zu straffen und ihre Territorien zu «reformieren», Richtung Zentralismus. Freiheit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung kommen immer mehr unter die Räder. Das Geschwafel von der «Professionalisierung und Zentralisierung der Verwaltungen» bewirkt das Gegenteil. Es suggeriert dem Bürger von oben, dass er nicht fähig sei, ein Amt zu übernehmen. Ein verwalteter Bürger mit seiner Anspruchshaltung gegenüber dem Staat ist das Resultat - und der verursacht mehr Kosten als der selbstbewusste Bürger, der nicht nur Wähler und Stimmbürger ist, sondern auch das Gemeinwesen mit seiner freiwilligen Mitarbeit aktiv mitträgt, belebt und zusammenhält. Eine Abkehr davon wäre eine problematische Entwicklung für den Produktionsstandort Schweiz, den Föderalismus und für die gelebte direkte Demokratie!
 
Anita R. Nideröst
8049 Zürich