Afghanistan - ein unvermindertes Inferno

politonline d.a. Wie nicht anders zu erwarten, haben 442 Abgeordnete des deutschen Bundestags für einen verlängerten Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gestimmt, obwohl man dort sehr genau weiss, wie unpopulär dieser ist. »Deshalb«, führt Ch. Kneffel aus [1], »tut man auch alles, um ihn möglichst aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten. Auch aus dem Bundestagswahlkampf. Das war jedenfalls der Grund, warum die Verlängerung des ISAF-Mandats diesmal um 14 statt wie üblich 12 Monate erfolgte.«

Diese Entscheidung, schreibt H. G. Vogelsang, »ist eine Fehlentscheidung, denn die Welt entspricht nicht der westlichen Propaganda und dagegen sind zunächst mehr als zwei Drittel des deutschen Souveräns. Dagegen sind sodann Rußland und Asien, die sehr wohl wissen, daß sie auf der US-Vernichtungsliste folgen sollen. Dagegen ist das muslimische Lager. Das sind 1,3 Milliarden Menschen. Dagegen ist selbstverständlich auch die Christenheit, wenn auch leider weniger vehement. Und dagegen ist die Mehrheit der Bevölkerung in Europa und in der USA. Wir bedauern die SoldatInnen, die der Doktrin der untergehenden Weltmacht USA geopfert werden sollen. Mancher von ihnen wird die Heimat nicht wiedersehen. Aber - es ist ihre freie Entscheidung. Niemand kann zu einem völkerrechtswidrigen Einsatz gezwungen werden.«

Es sei hier an eine bereits im November 2006 vom damaligen US-Botschafter für Kabul, Ronald Neumann, ausgesprochene Forderung erinnert, an der sich offensichtlich nichts geändert hat: »Die Deutschen sollten mitkämpfen, und auch mitsterben, wenn nötig.« Bei der Übernahme der zuvor von Norwegen angeführten Schnellen Eingreiftruppe im Norden Afghanistans am 30. Juni dieses Jahres durch die Bundeswehr erklärte der bisherige Kommandeur Solberg, daß die deutschen Soldaten damit rechnen müßten, eigene Verluste zu erleiden, aber auch selbst zu töten. Gleich, ob man die brutal hohe Zahl der Opfer der Massaker oder die fortgesetzten Angriffe auf zivile Ziele betrachtet, beide Aussagen werden hierdurch vollzogen. Von Gefangennahme ist kaum mehr die Rede. Kritik an der NATO selbst wird generell selten geäussert. Wenigstens erfolgte eine solche im März dieses Jahres durch den CDU-Politiker Willy Wimmer, der erklärte, dass sich die Militärallianz »seit dem Fall der Mauer von einem Verteidigungsbündnis zu einem globalen Einsatzkommando« entwickelt hat, »ohne daß die Menschen in den NATO-Mitgliedstaaten dabei eine Einwirkungsmöglichkeit gehabt hätten«. Auch das ist ein Spiegel unserer Demokratie, die immer wieder den Eindruck hinterläßt, daß die Mehrheit der uns Regierenden konsequent weghört, wenn aufgezeigt wird, wie wir übergangen werden. Hinsichtlich der Afghanistan-Politik legte Wimmer im August 2007 folgendes dar: »Wir müssen feststellen, daß die Situation in Afghanistan aus dem Ruder gelaufen ist. Die Taliban, aber auch die terroristische Organisation Al Qaida, hätten ohne die Unterstützung der  USA, Saudi-Arabiens und Pakistans nie entstehen können. Die Amerikaner haben sich ihre Bedrohung selbst geschaffen. [Anmerk. Auch das ist schon hundertfach gedruckt und gesagt worden - sichtlich ohne irgendeine Wirkung]. Präsident Karzai hat mir vor wenigen Wochen unter sechs Augen gesagt, daß die Amerikaner den Krieg vor drei Jahren zu Ende bringen können hätten. Ich stelle mir die Frage, warum das nicht geschehen ist. …. Wenn wir heute vor einer Bedrohung stehen, die gleichwohl größer ist als noch vor 5 Jahren, dann kann etwas mit der Politik nicht stimmen. Vielmehr müssen wir uns fragen, welcher unserer Bündnispartner welche Interessen im Zusammenhang mit dem Krieg in Afghanistan hat. Ich komme viel in der Welt herum und konnte schon in den 90er Jahren feststellen, daß die USA ein strategisches Interesse an dieser Region hatte: von der Frage ausgehend, wie aus Zentralasien Erdgas und Erdöl zur Versorgung Indiens herangezogen werden kann - und zwar nach Möglichkeit unter Vermeidung von Trassen, die durch den Iran führen. Mir stellt sich die Frage, ob man uns aus diesen übergeordneten strategischen Gründen für Jahrzehnte in Afghanistan binden will.« In Ergänzung dieser Sicht der Dinge veröffentlichen wir nachfolgend den neuesten Beitrag von Christoph R. Hörstel. Anmerken möchten wir noch, daß sich der Ausdruck »Enduring Freedom« für den Krieg in Afghanisan als wohl die perverseste Charakterisierung der fortschreitenden Verwüstung dieses Landes bezeichnen läßt. 

Afghanistan in Blut und Chaos: Urteil eines Augenzeugen: Das Experiment ist gescheitert - Von Christoph R. Hörstel

Am heutigen Donnerstag [16.10.08] wird der Bundestag das Mandat für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan verlängern, diesmal um 14 statt um 12 Monate - über die Bundestagswahl im nächsten Jahr hinaus [Anmerk.: was bereits erfolgt ist]. Überdies wird das Kontingent von 3500 auf 4500 Soldaten aufgestockt. Dabei zeigt der Verlauf des sieben Jahre dauernden Krieges, daß sich die Kämpfe mit jeder Aufstockung der internationalen Truppen ausgeweitet haben. Aus unmittelbarer Erfahrung berichtet der Autor des folgenden Beitrags. 

Im Herbst 2001, als ich der einzige westliche Fernsehkorrespondent mit einem freien Visum der Taliban in Afghanistan war, sah ich reichlich Beweise dafür, daß die Luftwaffe der USA absichtlich zivile Ziele angriff. Meine anschließende Beratertätigkeit für Afghanistans Vizepräsidenten Haji Abdul Qadeer endete, als Qadeer 2002 ermordet wurde. Ergebnis der Beratung seines Bruders, Haji Din Mohammad, in dessen Eigenschaft als Gouverneur der Provinz Nangarhar, war eine neue Methode der Ausarbeitung einer Entwicklungsstrategie für eine afghanische Provinz mit voller Unterstützung der gesamten Provinzregierung. Führende Mitarbeiter der UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (UNAMA), der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit (CIMIC) und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen waren anwesend. Doch westliche Offizielle ließen keinerlei Neigung erkennen, die Erfahrung in anderen Landesteilen anzuwenden.

Skandalös ist der Missbrauch von Entwicklungshilfegeldern für die Zahlung von Beraterhonoraren, die 1000 US-$ pro Tag ausmachen, für unkoordinierte Projekte und für Rückflüsse an Geberländer, die bis zu 40 % ausmachen. So werden auch im kommenden Winter in abgelegenen Seitentälern wieder viele Afghanen verhungern. In Kursen für ausgewählte Führungskräfte der deutschen ISAF-Truppe habe ich die Interessen der USA in der Region so beschrieben: China und Iran sollen eingekreist, Russland soll eingedämmt werden. Auch um der Kontrolle von Öl- und Gaspipelines willen versuchen die USA, sich die Beherrschung Zentralasiens auf lange Zeit zu sichern - durch »Terrormanagement«. So heißt die zynische Strategie, die islamische Widerstandsbewegung mit Hilfe pakistanischer Geheimdienste gezielt zu unterstützen, um einen Vorwand für wachsende Truppenpräsenz zu haben. Keiner der zuhörenden Generäle hat je widersprochen. Daß die Bundesregierung seit Jahr und Tag über dieses Verfahren informiert ist, bestätigte mir unlängst ein hochrangiger Mitarbeiter mit Zugang zu den wöchentlichen Lageberichten der Geheimdienste. Das wohl schockierendste Verbrechen ist die offen erklärte Anwendung von Uranwaffen, vor allem durch die USA. Diese Waffen verursachen bei den betroffenen Menschen genetische Defekte - die Folge sind hunderte, wenn nicht tausende schwer geschädigter Kinder- oder führen zu einem langsamen Tod. Das ist ein Kriegsverbrechen, das ich als »stillen Völkermord« bezeichne. Sämtliche (auch westliche!) Krankenhäuser in Kabul weigern sich, entgegen dem hippokratischen Eid ihrer Ärzteschaft, Nachweise durch Gewebeproben zu sichern. 

Die USA verfolgen ganz offenbar eine Eskalationsstrategie. Dazu gehört, daß Drogenwarlords mündlich und täglich widerrufbar lizenziert und von der NATO dazu eingesetzt werden, das Land zu beherrschen und die Bevölkerung zu unterdrücken. Auch Deutschland beteiligt sich an diesem Geschäft, um die eigenen Truppen vor Taliban-Attacken zu schützen. Während die Besatzerstaaten über die Ausbildung der afghanischen Polizei nachdenken, ist eben diese Polizei heftig im Drogengeschäft engagiert - bis hinauf zum Minister. Die afghanische Organisation »Tribal Liaison Office« (TLO) sagt, daß »niemand Distriktchef der Polizei werden kann, ohne daß der örtliche Drogenwarlord genickt hat«. Teile der NATO-Streitkräfte wollen jetzt gegen Drogenwarlords vorgehen. Sie werden freilich versuchen, nur gegen diejenigen vorzugehen, die allzu intensiv mit den Taliban zusammenarbeiten. Und schon bei dieser Auswahl werden sie fürchterlich scheitern und das Chaos komplettieren. Auf diese Weise verfolgen die USA und ihre Verbündeten die Strategie, jede noch existierende oder überlebende Form von Ordnung zu unterminieren, einschließlich des jahrhundertealten paschtunischen Stammesgesetzes »Paschtunwali«. Mord, Folter und willkürliche Verhaftungen durch Sicherheitskräfte sind weit verbreitet, kein Ministerium ist frei von Korruption, die Kabuler Verwaltung ist eine Scheininstitution. Es gibt weder Sicherheit noch Gerechtigkeit. In der Nationalarmee (ANA) halten sich die Zahlen von Rekrutierung und Desertion auf niedrigem Niveau die Waage. Eine Lösung für die Konfliktsituation am Hindukusch gibt es nur in Zeiteinheit mit einem Lösungsplan für Pakistan. In Afghanistan müssen die US-Operation »Enduring Freedom« (OEF) gestoppt, das ISAF-Mandat scharf limitiert und die Entwicklungshilfe mindestens verdreifacht werden. Alle ausländischen Truppen sind binnen fünf Jahren stufenweise abzuziehen. Eine afghanische Lösung für Afghanistan erfordert ein weltweites Verbot der Einmischung (mit UN-Sanktionsmöglichkeiten) und Kontakte mit allen Beteiligten, einschließlich der Taliban. 

http://www.neues-deutschland.de/artikel/137280.afghanistan-in-blut-und-chaos.html 16.10.08 Von Christoph R. Hörstel; der Autor, Regierungs- und Unternehmensberater in Afghanistan und Pakistan, ist seit 23 Jahren immer wieder in der Region tätig.

Siehe auch http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=835 Presse-Erklärung von Christoph R. Hörstel vom 3. Januar 2008  und

http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=549 Blick auf Afghanistan und den dortigen Drogenhandel von Doris Auerbach

1http://www.berlinerumschau.com/index.php?set_language=de&cccpage=17102008ArtikelKommentarKneffel1  17.10.08
Alle Hervorhebungen durch politonline