Freier Personenverkehr - Keine Zuwanderung? - von Nationalrat Luzi Stamm, Baden-Dättwil AG

Zur Beruhigung der Stimmbürger behaupten die Befürworter der Personenfreizügigkeit unablässig, diese löse keine Wanderbewegungen aus. Das ist blanker Unsinn. Wo Wohlstands-Unterschiede Tatsache sind, hat es - sofern freie Wanderung zugelassen wurde - in der Geschichte der Menschheit immer Wanderungen gegeben. Unhaltbare Prognosen Völlig willkürlich werden derzeit Prognosen in die Welt gesetzt, wie viele Einwanderer die Schweiz im Falle der Einführung auch der Ost-Personenfreizügigkeit zu erwarten habe. Diese Prognosen sind un-seriös. Sie missachten ein ökonomisches Grundgesetz, das nichts anderes als eine banale Binsen-wahrheit zum Ausdruck bringt: Je attraktiver ein Land ist, desto mehr Menschen wollen in dieses Land ziehen. Die Schweiz wird ein Ziel von Einwanderungswilligen sein, solange sie attraktiv ist. Erst dann, wenn die Schweiz heruntergewirtschaftet ist, wird niemand mehr kommen wollen. Wer behauptet, die Schweiz werde keine nennenswerte Einwanderung erleben, hat sich entweder bereits mit deren Niedergang abgefunden oder betreibt diesen Niedergang gezielt und bewusst. Andernfalls sagt er nicht die Wahrheit.

Massive Zuwanderung
Entgegen häufigen Behauptungen gibt es auch innerhalb der EU Wanderungsbewegungen, sobald Wohlstands-Unterschiede sichtbar sind. Der Beweis: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind von den lediglich rund fünfzehn Millionen DDR-Bürgern innerhalb weniger Jahre rund zwei Millionen in den Westen gezogen. Der dortige Wohlstand lockte. Weil Übergangsfristen noch nicht abgelaufen sind, kennt die EU die volle Personenfreizügigkeit heute noch nicht. Dies müsste, wer von angeblich nicht stattfindenen Wanderungsbewegungen daherredet, zumindest anfügen.

Offenbar wissen viele Menschen überhaupt nicht, wie gross die Zuwanderung in den letzten Jahren war. Von der Schweiz ging - ohne freien Personenverkehr - seit Jahrzehnten grosse Anziehungskraft aus. Diese ist klar grösser als innerhalb der EU. In den neunziger Jahren wurden mehr als eine Million neue Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen erteilt (genau 1001320). Das ist, gemessen an der Wohnbevölkerung, Weltrekord. Berücksichtigt man auch die Auswanderung, so wuchs die Einwohnerzahl der Schweiz von 1990 bis heute um 700000 Menschen - mehr als die Bevölkerung der Städte Zürich, Basel und Genf zusammengezählt. Dieser markante Zuwachs fand statt trotz sehr tiefer Geburtenrate. Die Einwohnerzahl der Schweiz vergrössert sich allein durch Einwanderung um jährlich mehr als fünfzigtausend Personen - um mehr als die Stadt Luzern Einwohner zählt.

In Zukunft noch mehr
Oft wird argumentiert, die vor kurzem eingeführte Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und den fünfzehn «alten» EU-Staaten hätte keine nennenswerte Einwanderung bewirkt. Mit der Wahrheit hat diese Behauptung wenig zu tun. Obwohl diese Personenfreizügigkeit faktisch erst seit dem 1. Juni 2004 gilt, häufen sich derzeit besorgniserregende Negativmeldungen.

Schon am 25. Mai 2004 verkündete der «Blick» in grossen Lettern: «Gipsermeister lehnen GAV ab - jetzt schnappen ihnen Ausländer die Aufträge weg!»  Am 12. September 2004 verkündete die «Sonn-tagsZeitung» per Überschrift:  «Deutsche schicken Arbeitslose in die Schweiz».  Die Zeitung «20 Minu-ten» schrieb am 13. September 2004: «Arbeitslose Ossis für Schweiz rekrutiert - Deutsche Arbeits-ämter veranstalten Anlässe, in denen sie für Jobs in der Schweiz werben.» Gemäss Radiomeldung vom 11. Oktober 2004 sind die schweizerischen Schreiner unter Druck geraten, weil ausländische Schreiner dank dort tieferen Löhnen zu tiefen Ansätzen in der Schweiz arbeiten und Schweizer Schreinern die Aufträge wegschnappen. Liechtenstein hat nach Einführung der Personenfreizügigkeit nach kürzester Zeit die Notbremse ziehen müssen, weil die Zahl eingewanderter Ärzte sprunghaft anstieg. In der Schweiz ist dieses Problem derzeit noch nicht virulent, weil mit dem gesetzlichen Verbot der Eröffnung neuer Arztpraxen ein (kurzfristig wirkungsvoller) Riegel geschoben wurde.

Amtlich vertuschte Wahrheit
Selbst die Bundesverwaltung verfälscht derzeit Zuwanderungszahlen. Offensichtlich zur Beeinflussung der bevorstehenden Volksabstimmung. Mit Rundschreiben vom 5. September 2003 forderte das zu-ständige Bundesamt die Kantone auf, statt Jahresbewilligungen Kurzaufenthaltsbewilligungen zu ertei-len, damit die Statistik weniger alarmierend aussehe («die frühzeitige Ausnützung der Kontingente würde die Akzeptanz der EU-Erweiterung ernsthaft in Frage stellen», sagte das Bundesamt wörtlich). Gleichzeitig wurde im Brief offen zugegeben, «angesichts ... des Arbeitsmarkts beunruhigt uns die
Entwicklung».

Wieso sollte die Zuwanderung - wenn sich darüber heute schon zwischen der Schweiz und Deutsch-land grosse Probleme auftürmen - bei der EU-Erweiterung nach Osten nicht viel grösser werden? Die Wohlstands-Unterschiede zwischen Osteuropa und der Schweiz sind riesig. In Estland beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen 146 Euro, in Lettland 198 Euro, in Litauen 203 Euro. Der Durchschnitts-Stundenlohn in den neuen EU-Oststaaten liegt bei rund vier Euro pro Stunde. Die dortige Arbeitslosigkeit ist riesig, die Sozialleistungen sind äusserst gering. Allein in der Slowakei wird
geschätzt, rund 400 000 Roma, die dort fast alle von äusserst mickriger Sozialhilfe leben, könnten westwärts ziehen.  Luzi Stamm, Nationalrat