»Es ist schlimmer denn je«

Der Publizist Alfred Grosser über israelische Siedlungspolitik, den Zentralrat der Juden in Deutschland

und das Gedenken an den Holocaust. Das Gespräch mit Professor Grosser führte Alexander Marguier.
 
Herr Professor Grosser, diese Woche war der neue Außenminister Westerwelle zum Antrittsbesuch in Israel. Hat er alles richtig gemacht?
Er hat es zumindest weniger falsch gemacht als seine Vorgänger. Westerwelle hat immerhin ein bißchen darauf angespielt, was etwa in der israelischen Siedlungspolitik falsch läuft. Jedenfalls fand er andere Worte als die Bundeskanzlerin, die im vergangenen Jahr vor der Knesset so auftrat, als sei sie ein Mitglied der Likud-Partei.
 
Kaum ein wichtiger deutscher Politiker - und erst recht kein Regierungsmitglied - würde es wagen, harsche Kritik an Israel wegen seiner Siedlungen zu üben. Auch Westerwelle versteckte sich gewissermaßen hinter der Road Map. Sie halten das für einen Fehler?
Ich finde es sogar katastrophal, daß man nicht die EU-Resolution vom Februar dieses Jahres respektiert, die fordert, daß der Siedlungsbau gestoppt wird. Man könnte ja wenigstens einmal daran erinnern, daß die Europäer das gefordert haben. Und daß Israel sich trotz andauernder Versprechungen nie daran gehalten hat. Es ist derzeit sogar schlimmer denn je, wenn in Ost-Jerusalem Menschen vor die Tür gesetzt und ihre Häuser beschlagnahmt werden.
 
Bleibt allerdings die Frage, ob die israelische Regierung sich durch deutliche Worte aus Deutschland beeindrucken lassen würde - oder ob so etwas nicht sogar das Gegenteil bewirken könnte.
Deutschland könnte zum Beispiel sehr leicht Druck ausüben, indem es die Finanzierung israelischer U-Boote in Frage stellt. Aber Obama hat in Sachen Siedlungsbau ja auch schon kapituliert.
 
Allerdings steht Deutschland aufgrund seiner Vergangenheit in einem besonderen Verhältnis zu Israel - die Solidarität gehört zur Staatsräson.
Ich fände es besser, Deutschland würde sich auf sämtliche Gründe besinnen, aus denen heraus man den Nationalsozialismus ablehnt. Diese Ideologie war nämlich nicht nur antisemitisch, sie war insgesamt rassenverachtend. Warum macht man sich also nicht dafür stark, dass die Würde der Menschen für alle gilt - ob Jude, Palästinenser oder sonst wer. Wer das nicht tut, ist dem Anti-Nazismus nicht treu.
 
Was ist dann mit der besonderen Verpflichtung Deutschlands gegenüber den Juden?
Natürlich gibt es die. Und im Sinne von Reparationen und Haftung ist auch enorm viel getan worden - was die Schuld nicht relativiert. Außerdem wird überall in Deutschland mit unzähligen Denkmälern dieser Schuld gedacht; Synagogen werden wieder aufgebaut, die Erinnerung wird wachgehalten. Aber im Sinne dieser Erinnerung muss auch gesagt werden: Es darf niemand verachtet werden. Und Israel verachtet die Moslems.
 
Während des Gaza-Kriegs vor knapp einem Jahr waren auch hierzulande viele Menschen über die harte Vorgehensweise Israels empört - während die deutsche Regierung mit Kritik sehr vorsichtig umging. Besteht eine Kluft zwischen der israelfreundlichen Regierung und einer womöglich israelkritischen Bevölkerungsmehrheit?
Gewiss. Das merke ich schon daran, daß es immer heißt »Sie dürfen das sagen«, wenn ich mich als Jude in Deutschland israelkritisch äußere. Viele Menschen hier haben den Eindruck, daß sie ihre Kritik nicht artikulieren dürfen. Die deutsche Regierung und die meisten deutschen Medien haben nicht sehen wollen, was für Greuel während des Gaza-Kriegs geschehen sind. Und der Zentralrat der Juden in Deutschland macht sich ganz selbstverständlich die Haltung der israelischen Regierung zu eigen, wonach dieser Krieg so menschlich wie möglich geführt wurde.
 
Wer Israel kritisiert, läuft Gefahr, als Antisemit gebrandmarkt zu werden - ob im Einzelfall zu Recht oder nicht, sei dahingestellt. Ganz naiv gefragt: Wie viel Kritik ist angemessen? Und in welcher Form ist sie es?
Jede Kritik ist erlaubt, warum sollte sie verboten sein? Was die Form angeht: Indem man zum Beispiel erklärt, daß es in Gaza Kriegsverbrechen gegeben hat. So wie es schwarz auf weiß im Goldstone-Bericht über den Gaza-Krieg zu lesen ist. Und ich weise darauf hin, daß der Autor dieses Berichts ein zionistischer Jude ist.
 
Ihnen selbst wird mitunter vorgeworfen, Sie würden sich als Jude von Antisemiten vereinnahmen lassen; der Publizist Henryk Broder hat Sie deswegen einen alten Trottel genannt. Trifft Sie diese Kritik?
Ach was. Zumal Broder ja auf keines meiner Argumente je eingegangen ist. Ich habe allerdings den Eindruck, daß sich Broder neuerdings in seiner Rolle als bedingungsloser Anwalt Israels selbst nicht mehr ganz wohl fühlt. Seine Kritik am deutschen Zentralrat war jedenfalls nicht unberechtigt.
 
Was werfen Sie dem Zentralrat vor?
Das fängt schon mit der Zusammensetzung des Zentralrats an, die ein Skandal ist. Denn 90 % aller Juden in Deutschland kommen aus dem Osten - und kein einziger von ihnen ist im Zentralrat vertreten. Aber noch schlimmer ist das reflexhafte Schwingen der Antisemitismuskeule, sobald irgendwo Kritik an Israel laut wird. Dadurch wird Antisemitismus ja geradezu erzeugt. Denn der Zentralrat nimmt für sich in Anspruch, alle Juden in Deutschland zu vertreten - und macht sie mit seiner Haltung zu Fürsprechern der israelischen Politik.
 
Broder hat vor kurzem für Wirbel gesorgt, als er ankündigte, Präsident des Zentralrats werden zu wollen. Unter anderem mit dem Ziel, die Leugnung des Holocaust straffrei zu stellen. Reine Provokation?
Das war natürlich Provokation. Sein Kernanliegen ist aber gar nicht so falsch, nämlich dem Zentralrat klarzumachen, daß er nicht bei jeder Gelegenheit aufzuschreien braucht, als würde Deutschland noch in der dunklen Vergangenheit leben.
 
Sie selbst vergleichen den Holocaust etwa mit der Ermordung der australischen Ureinwohner oder der Indianer, mit dem Völkermord an den Armeniern oder mit den Verbrechen Stalins - ohne das alles gleichzusetzen. Trotzdem stellt sich die Frage: Was sollen solche Vergleiche bezwecken?
Ganz einfach: In Deutschland wie in Frankreich zögert man immer noch, beispielsweise das Ausmaß der Verbrechen von Leuten wie Stalin oder Mao angemessen darzustellen. Und zwar aus Angst vor dem Vorwurf, damit den Holocaust zu verniedlichen. Mao hat mehr Menschen getötet als irgendjemand vor ihm - aber in den Geschichtsbüchern steht dazu praktisch überhaupt nichts.
 
Trotzdem bleibt der Holocaust schon aufgrund seiner geradezu industriellen Tötungsmaschinerie etwas Singuläres. Sehen Sie die Gefahr, daß mit dem Wegsterben der Generation, die den Schrecken noch mit eigenen Augen erlebt hat, auch die Erinnerung an den Holocaust schwindet?
Ich glaube das nicht, allein schon wegen der vielen Erinnerungsorte, die es in Deutschland gibt. Ganz zu schweigen von den ungezählten Büchern und Filmen über den Holocaust. Daran wird übrigens auch deutlich, wie unterschiedlich die Gewichtung in der Erinnerungskultur ist - wer interessiert sich zum Beispiel für die Erinnerungen eines alten Palästinensers an die Geschehnisse des Jahres 1948 . . .
 
Sie sind oft zu Besuch in Deutschland. Erleben Sie hierzulande antisemitische Ressentiments?
Charlotte Knobloch, der Präsidentin des Zentralrats, wurde in einem Radiointerview einmal eine ähnliche Frage gestellt. Ihr fiel aber nichts Konkretes dazu ein, obwohl sie im gleichen Gespräch einen wachsenden Antisemitismus in Deutschland beklagt hatte. Mir geht es da ein bißchen ähnlich, was die Antwort betrifft. Natürlich gibt es den alten Antisemitismus, wie er besonders auch in der DDR verbreitet war. Es kommt aber leider ein neuer hinzu, der durch die israelische Politik provoziert wird. Und eben durch die Tatsache, daß sich der Zentralrat diese Politik zu eigen macht und auf Demonstrationen die israelische Flagge zeigt. Ein anderes Beispiel: Vor wenigen Tagen wurde dem israelischen Historiker Ilan Pappe auf Betreiben der jüdischen Gemeinde vom Münchener Oberbürgermeister die Erlaubnis wieder entzogen, an der Universität einen Vortrag zu halten. Der Grund: Ilan Pappes kritische Ansichten zur Gründung Israels. Solche Redeverbote sind schädlich und kontraproduktiv.
 
Sie kritisieren die Politik Israels. Aber welche Alternative haben Sie anzubieten?
Solange Israel den Stopp des Siedlungsbaus nicht einmal in Erwägung zieht, ist eine Zweistaatenlösung ohnehin ausgeschlossen. Man sollte also Theodor Herzl, den Begründer des Zionismus, ernst nehmen, der mit Israel einen weltlichen Staat schaffen wollte, der allen Juden offensteht und in dem alle Bürger gleiche Rechte haben - egal, ob es sich um Juden, Moslems, Christen oder sonst wen handelt. So steht es übrigens auch in der israelischen Unabhängigkeitserklärung Ben Gurions aus dem Jahr 1948. Das ist in Israel aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Ziel des israelischen Außenministers ist es, so viele Araber wie möglich aus dem Land zu treiben.
 
Gibt es etwas, daß Ihnen trotzdem Hoffnung macht?
Im Moment gar nichts.
 
Und Ihre größte Angst?
Auf arabischer Seite war die erste Generation verhandlungsbereit. Aus der zweiten Generation ist die sehr gewalttätige Hamas hervorgegangen. Die dritte Generation aber hat überhaupt nichts mehr zu verlieren. Und wer nichts zu verlieren hat, ist auch bereit, sein Leben zu opfern. Das finde ich allerdings sehr beängstigend.   
 
Der Versöhner
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29.11.2009, Nr. 48 / Seite 55 
Alfred Grosser kam 1925 in Frankfurt am Main zur Welt, 1933 emigrierte die Familie nach Frankreich. Im Zweiten Weltkrieg schloß er sich der französischen Widerstandsbewegung an. Später studierte Grosser Politik und Germanistik und übernahm 1955 eine Professur an der Sorbonne. Durch sein vielfältiges publizistisches Engagement gilt er als einer der Wegbereiter der Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich. Bis heute unterrichtet er an Hochschulen in beiden Ländern. Der Vater von vier Söhnen ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Soeben ist sein jüngstes Buch Von Auschwitz nach Jerusalem - über Deutschland und Israel bei Rowohlt erschienen.