Tony Blairs europäische Sendung - offener Brief an die Neue Zürcher Zeitung - von Doris Auerbach

Es ist nicht so, als hätte ich mich nicht längst an Ihre für meine Begriffe mitunter höchst eigenartigen Kommentare gewöhnt; dennoch bin ich der Auffassung, dass der obige Titel Ihrer Ausgabe Nr. 140 vom 18./19. Juni 05 das Mass des Erträglichen übersteigt. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Angriffskrieg gegen den Irak bereits ein Jahr vor dessen tatsächlichem Beginn zwischen US-Präsident George W. Bush und dem britischen Premierminister Tony Blair beschlossen worden war. Darüber hinaus hatte Blair bei einem Treffen Mitte 2002 erklärt, man würde die Gründe für den Angriff "schaffen", was zu den inzwischen als erbärmliche Lügen entlarvten Behauptungen geführt haben dürfte. Wie sollte dieser Mann, der somit für das gegenwärtige Inferno im Irak direkt mitverantwortlich ist, noch ein Anrecht darauf haben, für uns eine Sendung zu erfüllen? Dies hat er in meinen Augen für immer verspielt. Nicht erstaunlich dagegen ist, dass ihm die Presse eine solche zubilligt. Mit einer derartigen Aussage betrachte ich die mehrheitlich gegen den Irakkrieg eingestellten EU-Bürger als regelrecht verhöhnt. Daher empfinde ich auch Ihre Ansicht, dass sich die ab dem 1. 7. von Blair zu übernehmende EU-Ratspräsidentschaft für die im Moment ziemlich angeschlagene und verunsicherte Europäische Union "als geschichtlicher Glücksfall erweisen könnte", als haltlose Übertreibung.

Was Ihre Prognose betrifft, dass kaum noch jemand damit rechnet, dass Schröder nach einer vorgezogenen Bundestagswahl weiterhin regieren wird, so scheint mir diese etwas voreilig.   Angela Merkel hat ihr Ansehen bei den Deutschen durch ihre zustimmende Haltung zum Irakkrieg, die ihr als Willfährigkeit der USA gegenüber angelastet wurde, schwer geschädigt, was nicht zu Gunsten eines durchgehenden Wahlsiegs der CDU spricht. Die von der CDU/CSU ins Auge gefasste Möglichkeit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer dürfte ein übriges tun. Dem Bürger weitere Lasten aufzubürden schwebte allerdings auch schon SPD-Wirtschaftsminister Clement vor, der meint, dass "der Faktor Arbeit günstiger werden muss," der Staat die Unternehmenssteuern senken soll und das Defizit z.B. über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer hereinzuholen wäre. Der neue CDU-Landeschef von Baden-Württemberg, Günther Oettinger, bezeichnete die Forderung der SPD nach arbeitnehmerfreundlichen Tarifabschlüssen soeben gar als unverantwortlich. Abgesehen von der verächtlichen Arroganz, die in diesen Worten zum Ausdruck kommt, dürfte diese Einstellung keinerlei Stimmenwerbung für seine Partei darstellen. An seinem "bezugsfreundlichen" Gehalt hingegen scheint Oettinger nicht rütteln zu wollen. Insofern ist es schwierig, die Lage  abzuschätzen.
 
Die von Ihnen angeführten "dumpfen Ängste", die Chirac und Schröder ihren Bürgern hinsichtlich des sogenannten "angelsächsischen Modells" "einzujagen versuchen", sind für mich nicht greifbar. Gerechtfertigte Ängste hingegen erzeugt noch immer die Bolkestein-Direktive, die, wie Le Figaro vom 6.4.05 schrieb, auch unter dem Etikett "Frankenstein-Direktive" verleumdet wird. Gegen diese haben die europäischen Gewerkschaften im März dieses Jahres mit mehr als 50 000 Kundgebungsteilnehmern in Brüssel demonstriert. Erste "Früchte" dieses Konzepts und der damit verbundenen negativen Auswirkungen sind inzwischen hinlänglich bekannt. Was offenbar niemand anspricht, ist die Frage, wer für die so überaus zahlreich auftretenden "Selbständigerwerbenden", die sich unter Preis anbieten,  gegebenenfalls erforderlich werdende Ausgleichszahlungen trägt. Die "Ich AG", für die bislang noch keine Voraussetzungen für prüfbare Buchführungen erfüllt sind, sind folglich auch noch nicht kontrollierbar. Somit kann auch nicht überprüft werden, welcher Erwerbsanteil  angemeldet wird. Folglich sind diese Selbständigerwerbenden nur für den Prozentsatz gedeckt, den sie offiziell deklarieren, was bei Unfall resp. in Krankheitsfällen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen dürfte. Während unsere Politiker in der Öffentlichkeit vor allem die positiven Aspekte der EU-Osterweiterung betonen, steigt die Zahl der Firmen, die durch die neue Konkurrenz aus dem Osten in existentielle Schwierigkeiten geraten. Wie hiess es doch im übrigen in Ihrer Ausgabe Nr. 102 vom 3.5.05: "Wer polnische Handwerksbetriebe oder chinesische Textilien abwehrt, beraubt Polen und Chinesen ihrer Verdienst- und Aufholchancen." Ich kann hier wenig Aufholchancen, dafür umso mehr Profitchancen erkennen, vor allem für die Unternehmen. In diesem Zusammenhang China anzuführen, halte ich für gänzlich abwegig. Wären die Bevölkerungen gerade der aussereuopäischen Billiglohnländern nicht von ihren eigenen Regierungen preisgegeben, hätten sie ihre Löhne sowie das Niveau ihrer Infrastruktur längst verbessert, die  Kinderarbeit eliminiert oder, was China betrifft, die dort immer noch herrschende, für meine Begriffe "hausgemachte" krasse Armut, die Korruption und die Umweltverschmutzung des Landes behoben. Des weiteren heisst es: "Wenn westeuropäische  Unternehmen von tieferen Löhnen und Steuern ihrer osteuropäischen Töchter profitieren, oder die neuen Mitgliedstaaten etwas Reformmut in die EU-Gesetzgebung bringen, so geht die EU als Ganzes gestärkt in den globalen Wettbewerb." Wohl kaum. Gerade die Steuerfreiheit, die sich westliche Unternehmen im Zuge der "globalen Flexibilität" generell in den Billiglohnländern gesichert haben, zeitigen die bekannten Folgen. Wer, frage ich Sie, soll unter diesen Umständen auf die Dauer unsere eigene, immerhin hochentwickelte Infrastruktur unterhalten? Sicher nicht die Unternehmen! In der gleichen Ausgabe wird uns noch erklärt: "Als "Chefprotektionist" gebärdet sich in beiden Fällen Chirac [es geht um einen Richtlinienentwurf zur EU-weiten Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte und die Textileinfuhr aus China]. Sind eigene Industrien oder Wähler betroffen, sitzt das protektionistische Hemd eben fast überall näher als der marktwirtschaftliche Rock." Und warum nicht? Oder wäre es Ihnen lieber, dass die EU-Bevölkerung in der Folge auf dieselbe Weise im Stich gelassen wird, wie dies in den Billiglohnländer geschieht? Gerade Chirac erleidet immer wieder Angriffe von Ihrer Seite; in diesem Fall steht er zu Recht für sein Land ein. Die mit der Globalisierung verbundenen Absichten waren im übrigen schon in den frühen 70er Jahren voraussehbar, als die neugebildete Trilaterale Kommission einen Bericht mit der Empfehlung veröffentlichte, dass die amerikanischen Arbeitsplätze exportiert und die Löhne der Amerikaner gesenkt werden müssten, damit die Globalisierung Erfolg hätte. Genau das ereignete sich in der USA in den folgenden drei Jahrzehnten. Das Begleitprodukt war, dass während derselben Periode die reichsten US-Bürger ihren Anteil am Reichtum des Landes verdoppelten.
 
Wie Sie schreiben, ist die Arbeitslosigkeit in England nur halb so hoch wie in den grossen westlichen Ländern Kontinentaleuropas. Hier gilt es zu vermerken, dass sich im März  2005 123 000 Osteuropäer in Grossbritannien registriert haben;  40% waren ohnehin schon im Land. Diese billigen Arbeitskräfte aus Osteuropa bedeuten für das Land, dass die Löhne in den "Zuwanderungskategorien" tief bleiben, da ja das Arbeitsangebot steigt. Die Osteuropäer sind bei den Arbeitgebern sehr beliebt, gelten als arbeitsam und ehrgeizig  - als ob dies die übrigen Arbeitnehmer im Schnitt nicht auch wären -  und sind mit Löhnen zufrieden, die die Engländer nicht akzeptieren würden. Die sprichwörtliche Gleichmacherei in der EU hört also mit Vorliebe dort auf, wo sich dies für die Unternehmen als vorteilhaft erweist. Was den Ist-Zustand des britischen Arbeitsmarkts betrifft, so muss man wissen, dass der Abstand zwischen den höchstbezahlten und niedrigstbezahlten Arbeitern heute grösser ist als zu irgendeinem Zeitpunkt ab 1886, als mit Aufzeichnungen hierzu begonnen wurde. Was also spräche hier zu Gunsten des von Ihnen angeführten "angelsächsischen Modells?"  1         
 
Was den EU-Arbeitsmarkt als solchen betrifft, so sind die Aussichten effektiv düster. Man stelle sich vor, dass sich der Internationale Währungsfonds schon im Juli 2000 angemasst hat, sich für 'bescheidenere Löhne' in Europa auszusprechen. Darüber hinaus verlangte er im Herbst 2001, dass die Arbeitsschutzgesetze abgebaut werden. Letzteres legte der IWF auch Berlusconi nahe, wogegen die Italiener massiv protestierten. Es wird, wie mir scheint, mit allen Mitteln versucht, den Bürger auf jede Weise von seinem bisherigen Standard herunterzuholen, es wird aber dennoch von ihm verlangt, die jährlichen IWF-Quoten, die Milliardenhöhe erreichen, für den IWF zu erarbeiten. Wen wundert es unter diesen Umständen noch, dass es die deutschen Arbeitgeber diesen März wagen konnten, offen einen radikalen Sozialabbau zu fordern. Es wäre durchaus vorstellbar, dass unsere Wirtschafts?elite? davon träumt, uns auf Löhne herunterzudrücken, wie sie etwa in den Emiraten gezahlt werden, wo z.B. philippinische Frauen an 7 Tagen pro Woche für 100  - im Monat arbeiten. Letztlich, so wetterte der langjährige CDU-Generalsekretär Geißler in einem Interview mit dem österreichischen Wirtschaftsmagazin "trend", können die weltweit operierenden Unternehmen ?genau so frei agieren wie die Mafia, die Drogendealer und die Terroristen?. Die politischen Eliten, so Geißler, entwickelten keine langfristig-strategische Konzeption und die Arbeitslosigkeit sei nicht Schicksal, sondern die Folge von schweren politischen Fehlern und von Dummheit. Um auf Bolkestein zurückzukommen, dessen erste Teilnahme an einer Bilderberger-Konferenz für das Jahr 1996 in Toronto verzeichnet ist, so ist dieser gegen Volksabstimmungen, da er nicht an die direkte, sondern nur an die repräsentative Demokratie glaubt.
 
Wie man in Ihrer Ausgabe Nr. 140 des weiteren lesen kann, heisst es in Brüssel, dass "die Bürger in den EU-Ländern mit geplanten Volksabstimmungen zunächst besser informiert und aufgeklärt werden müssten, als dies in Frankreich und in den Niederlanden der Fall gewesen sei." Dies ist ein schlichtweg absurdes Argument, mit dem sich die EU-Zentrale Sand in die Augen streut. Gerade weil die Bürger dank hervorragend aufklärender Artikel über den Kern der EU-Verfassung genauestens im Bild waren, haben sie diese abgelehnt. Allein schon die geplante Militarisierung, von der Javier Solana bereits im Jahr 2000 schwärmte, dass sie sich mit "Lichtgeschwindigkeit" vollziehen würde, bedeutet eine gnadenlos wachsende finanzielle Bürde. Hier kann kein Konzept mehr herrschen, da sinkende Löhne und stete Auslagerungen von Arbeitsplätzen mit einem übersteigerten Militäretat unvereinbar sind. Es hat nicht den Anschein, als dächte auch nur eine der Brüsseler "Spitzen" darüber nach, dass sich ihre Strategien ausschliesslich über eine nicht länger zu verantwortende Verschuldung umsetzen lassen.
 
Wie Sie schreiben, ist Blair entschieden gegen Vorstellungen, die sich Europa als eine Art Gegenmacht oder Supermachtrivalen zu Amerika erträumen, was auf Grund seiner Funktion als verlässlicher Verbündeter der USA nicht anders zu erwarten ist. Schliesslich hat er sich für eine Vormachtstellung der USA und gegen eine multipolare Welt ausgesprochen. In einem Interview mit der Financial Times London (28.4.03) sagte er: "Einige wollen eine sogenannte multipolare Welt, in der man verschiedene Machtzentren hat, aber ich glaube, dass sich diese schnell zu rivalisierenden Machtzentren entwickeln würden"; an einer Pressekonferenz in London führte er u.a. aus: "Nur als enger Verbündeter der USA könne Europa mächtiger werden." Blair sieht, wie Sie darlegen, Amerika und Europa vielmehr als Partner [?.] und durch fundamentale gemeinsame Ideale wie Freiheit und Demokratie sowie mindestens teilweise gemeinsame wirtschaftliche Interessen verbunden. Diese Sicht dürfte gerade noch bei jemandem ankommen, der die Vorgänge in den zerstörten Ländern Afghanistan und Irak weder durchdacht noch erfasst hat. Solange ferner Besatzungstruppen als Friedenstruppen getarnt bleiben, kann von Freiheit nicht die Rede sein, auch nicht in Afghanistan, wo Karzai Anfang April das Pentagondiktat angenommen und den Bau  von 9 neuen US-Militärbasen in den Provinzen Herat, Helmand, Nimruz, Balkh, Khost und Paktia bewilligt hat. 2 Dadurch wird gleichzeitig auch der Iran eingekreist. Die Entscheidung geht auf den Besuch von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Kabul im Dezember 2004 zurück. Wo sollen hier Freiheit und Demokratie herrschen? Beide Länder bezeichne ich als vollständig unterjocht. Was Blairs Ideale betrifft, so interpretiere ich deren Basis als dahingehend, dass weitere Kriege um die Ressourcen jederzeit geführt werden können, da uns nichts davor rettet, uns in jedem Fall massiv an den Kosten des Wiederaufbaus beteiligen zu müssen. Dieser Ansicht scheint auch der derzeitige EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker zu sein, der uns wissen lässt, dass Bush soeben ein grosses Signal in Richtung Europa gesendet hat. Was sollte dieses Signal anderes beinhalten als die übliche Patentlösung, nämlich die Aufforderung, dass sich die Welt jetzt gemeinsam für den Aufbau der Demokratie im Irak einsetzen muss, obwohl die militärische Übermacht der US-Truppen dort unvermindert wütet. Die Demokratie spielt nicht die geringste Rolle, es geht ausschliesslich darum, dass wir einen Teil der Kriegsfolgekosten tragen, obwohl der Irak genügend Öl hätte, um diese selbst zu tilgen, käme dieses je in die richtigen Hände. Damit bleibt die Arbeitskraft des Steuerzahlers nicht nur  willentlich missbraucht, sondern regelrecht zweckentfremdet. Darüber hinaus muss dieser noch Aussagen zu Freiheit und Demokratie ertragen, die man, wie bereits vor dem Irakkrieg erlebt, lediglich als zutiefst verlogen bezeichnen kann, was ein Bericht von Scott Ritter vom 19.6.05 erneut belegt. 3 Hieraus einige wenige Punkte: <Washington spricht heute von "Diplomatie" und dem Wunsch nach einer friedlichen Lösung der iranischen Frage. Die Fakten jedoch sprechen von einer anderen Agenda, der von Krieg und dem gewaltsamen Sturz des theokratischen iranischen Regimes.> [Es sei daran erinnert, dass man vormals Khomeini, der im Februar 1979 in den Iran zurückkehrte, in aller Gemütsruhe von Paris aus den ersten radikal-islamischen Gottesstaat installieren liess, obwohl man seine Ideologie kannte; dies, um die persischen Ölquellen, die der Schah nicht freiwillig drosseln wollte, in den Griff zu bekommen. Es war Khomeini, der die USA als den grössten Satan bezeichnete.]  <Der Krieg der USA gegen den Iran, so Ritter, hat schon begonnen. Die US-Überflüge über iranischen Boden mit unbemannten Drohnen sind bereits im Gange; daneben gelangt weiteres hochentwickeltes militärisches Material zum Einsatz. Die Verletzung des Luftraums einer souveränen Nation stellt bereits eine Kriegshandlung dar. Der Irankrieg  ist jedoch bereits weit über die Phase der Erhebung von Spionagedaten hinausgelangt. Bush bedient sich der ihm nach dem 11.9. eingeräumten weitreichenden Befugnisse, um mehrere geheime offensive Operationen im Landesinneren des Irans anzubahnen. Am offensichtlichsten sind die kürzlich von der iranischen Oppositionsgruppe MEK ( Mudjaheddin el-Khalq) durchgeführten, von der CIA gestützten Aktionen. Die MEK stand ehemals unter der Leitung der gefürchteten Geheimdienste Saddam Husseins, arbeitet heute jedoch ausschliesslich für die CIA. Es ist eine bittere Ironie, dass die CIA sich einer noch immer als Terrororganisation bezeichneten Gruppe bedient, damit diese Bombardierungen im Iran durchführt, und zwar solcher Art, wie sie dieBush-Administration im Irak täglich verurteilt. Im benachbarten Aserbaidschan sind US-Vorbereitungen im Gange, um eine massive militärische Präsenz aufzubauen. Die diesbezüglichen logistischen Planungen sind weit fortgeschritten.> [Dies ist völlig konträr zu den Aussagen des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew vom 25. Mai, sein Land sähe keinen Grund, sein Territorium für fremde Militärstützpunkte zur Verfügung zu stellen. Aserbaidschan sei bisher ohne solche ausgekommen und gedenke, dies auch künftig zu tun.] <Scott bedauert die Blindheit der meisten Amerikaner gegenüber den verräterischen Anzeichen eines Krieges.>
 
Sie schreiben abschliessend: <Wenn es der EU unter britischer Führung gelingt, neues Selbstvertrauen zu gewinnen und von der realitätsfernen Vorstellung eines europäischen Einheitsstaates überzeugender als bisher abzurücken, dann wird auch für eine Mehrheit der Schweizer Bürger ein Beitritt in absehbarer Zeit kein Tabu mehr sein. Unter allen gegenwärtigen europäischen Führern traut man Tony Blair am ehesten den Willen und die Fähigkeit zu, die EU in diese Richtung zu lenken.>  Dies ist stark zu bezweifeln, da diese Sichtweise meiner Meinung nach völlig konträr zu Blairs Plädoyer für die Vormachtstellung der USA ist, so dass ich annehme, dass er im Gegenteil dazu alles tun wird, um der Idee Jean Monnets doch noch zum Sieg zu verhelfen. Denn Monnet wollte die "Vereinigten Staaten von Europa" mit einer einzigen Regierung und einem einzigen Parlament verwirklichen. Somit dürfte Blair eher die bislang unter dem Schlagwort "Economic Governance" betriebene Zielsetzung fortsetzen, eine supranationale, die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten endgültig zur Makulatur machende politische Entscheidungsinstanz für Europa zu schaffen. Den ersten Ansatz hierzu sehe ich in seiner jetzigen Aussage vor dem Europäischen Parlament. Die beiden Nein in Frankreich und den Niederlanden interpretierte er nicht als Voten gegen die Verfassung, die Bürger hätten das Referendum vielmehr als Vehikel benutzt, um ihrer tiefen Unzufriedenheit mit dem Lauf der Dinge in Europa Ausdruck zu geben. Dies stellt ist in meinen Augen eine einzigartige Verdrehung und groteske Verfälschung des Signals dar, das die Neinsager gaben. Es geht nicht, wie Blair uns jetzt glauben machen will, um die politische Führung in Europa, sondern um dessen geplanten Umbau. Es gilt, die oligarchische Struktur der EU, die Bevölkerung und Parlamente den Lobbyisten der Grossindustrie und der Banken unterwirft, nicht aus den Augen zu verlieren. Ergäbe es sich, dass an Stelle repräsentativer Regierungen kooperierender Nationalstaaten letztlich nur noch mächtige private Finanz- und Wirtschaftsinteressen im Namen "ökonomischer Sachzwänge" politisch das Sagen hätten, so wäre dies das "postmoderne EU-Empire", von dem, wie es heisst, der britische Ideologe Robert Cooper, der in 2003 das Amt des Generaldirektors für politische und militärische Angelegenheiten des EU-Ministerrats bekleidete, zu schwärmen pflegte. Auch Berlusconi plädierte im Juli 2003 in Rom indirekt für die Abschaffung der EU-Kommission und forderte, dass Europa eine wirkliche Regierung bekommen müsste. Das ist genau das, was die EU-Bürger unter keinen Umständen wünschen. Was die Frage des Beitritts der Türkei zur EU betrifft, so gehört gerade Tony Blairs New Labour zu denjenigen, die diesen entschieden befürworten. Berlusconi seinerseits liess im August 2003 verlauten, er werde auch weiterhin die 'Hochzeit der Türkei mit der Europäischen Union betreiben'.
 
Der Schweizer Bürger wäre daher gut beraten, zuzuwarten und die Worte des Vicomte de Villiers zu beherzigen, der am 21.6. in einem Interview mit Le Figaro folgendes sagte: Der Brüsseler Gipfel hat der Eröffnung von Verhandlungen mit der Türkei am 3.10.05 seine Zustimmung erteilt. Damit hat er letztlich die historische Gelegenheit verpasst, alles einzuebnen, um  neu zu beginnen, und ein Europa bejaht, das uns immer schlechter beschützt und uns immer teurer zu stehen kommt.

Doris Auerbach                                
 
1Quelle: Mark Curtis, Web of Deceit - Britain?s Real Role in the World  ISBN 0-09-944839-4
2 http://www.reseauvoltaire.net/article16718.html
3 http://english.aljazeera.net/NR/exeres/7896BBD4-28AB-48BA-A949-2096A02F864D.htm
Scott Ritter ist ehemaliger UN Waffeninspektor im Irak und Autor von ?Iraq Confidential: The Untold Story of America's Intelligence Conspiracy?, das im Oktober 2005 bei Tauris erscheinen soll.
cc:
Peter Aebersold, Zürich
W. Wahl, Zürich
Young4FUNpolitonline [www.politonline.ch] u.a.