Ins Jenseits - und retour - von Jürgen Elsässer

»Warum kauften sie sich Rückfahrtkarten?« Die These, daß die Londoner Bomben von Selbstmordattentätern gelegt wurden, gerät durch immer mehr Indizien unter Druck. Wovon die britischen Sonntagsblätter voll waren, konnte man in der deutschen Presse am gestrigen Montag mit der Lupe suchen: Die These von den vier Selbstmordattentätern, die sich am 7. Juli in Londoner U-Bahnen und einem Doppeldeckerbus in die Luft gesprengt haben sollen, wird immer unwahrscheinlicher. »Warum kauften sie sich Rückfahrkarten, wenn sie sterben wollten?«, fragte etwa der Independent on Sunday.

Auch Scotland Yard mußte einräumen: »Wir haben keine eindeutigen Beweise, daß die Männer Selbstmordattentäter waren«. »Das Quartett sei unter Umständen von Hintermännern in eine Falle gelockt worden«, zitierte der Sunday Telegraph aus Geheimdienstkreisen. Und weiter: Die Hintermänner wollten womöglich »nicht riskieren, daß die vier Männer gefaßt werden und alles verraten». Diese These erscheint plausibel, weil die Verdächtigen nicht nur Rückfahrkarten gelöst, sondern auch ihre Parkscheine brav bezahlt hatten. Außerdem hatten sie die Bomben nicht um den Körper geschnallt, wie bei Selbstmördern üblich, sondern trugen sie in Rucksäcken, die sie auch hätten abstellen können, um sich dann in Sicherheit zu bringen. Weiterhin sahen zwei Verdächtige Vaterfreuden entgegen, ihre Frauen waren schwanger – ein weiteres Motiv, um sich ein Weiterleben zu wünschen. Ungewöhnlich auch, daß die Männer nicht kurz vor der Zündung das ansonsten übliche »Allah Akhbar!« – Gott ist groß – ausriefen.

Auch im Verhalten des Attentäters im Doppeldeckerbus spricht einiges für die Theorie vom unfreiwilligen Ableben. »Wurden die Bomber gelinkt? Das würde Berichte erklären, wonach ein Mann im Bus kurz vor der Explosion in seiner Tasche herumwühlte«, schrieb der Independent on Sunday. Insbesondere diese, die vierte Detonation, gibt den Ermittlern Rätsel auf. Warum erfolgte sie erst um 9.47 Uhr, fast eine Stunde nach den beinahe synchronen ersten drei? Sollte Hasib Hussain, der mutmaßliche Attentäter, ursprünglich auch in eine U-Bahn einsteigen, nahm dann aber ersatzweise den Bus, weil »seine« Linie an diesem Vormittag nicht befahren wurde? Warum geriet er in Panik und fummelte in seinem Rucksack herum? Warum stellte er sich nicht an den Aufstieg zur Wendeltreppe, wo die Explosion die maximale Verwüstung hervorgerufen hätte, sondern hielt sich weit hinten auf dem Oberdeck auf? Aber die verspätete Bus-Bombe paßt auch nicht richtig zur Version der »gelinkten« Attentäter. Denn angenommen, die vier Kids wollten ihre Bomben abstellen und sich dann aus dem Staub machen, wurden aber böse überrascht, weil der Zünder auf einen früheren Zeitpunkt als den von ihnen angenommenen eingestellt war – dann hätte auch die vierte Bombe zu diesem »falschen« Zeitpunkt hochgehen müssen und nicht 57 Minuten später.

Mit der These von den Selbstmord-Bombern steht und fällt die Panikmache, die man in den letzten Tagen in der westlichen Presse lesen konnte: Weil die vier Verdächtigen vollkommen unauffällige britische Jugendliche gewesen waren, müsse man sich künftig nicht nur vor Haßpredigern und anderen fundamentalistischen Rauschebärten in acht nehmen, sondern auch vor den – vermeintlich – brävsten Moslems auf der Hut sein. »Es gibt, darin sind die Ermittler sich einig, einen neuen Typus Terrorist. ›Clean Skin‹, ›reine Haut‹ haben die Fahnder ihn getauft, es sind Männer, die nicht oder nur sporadisch oder jedenfalls unerkannt Trainigscamps besuchen, nicht in den Irak reisen, nicht mal Verbindungen zu bekannten Radikalen pflegen,« heißt es etwa im aktuellen Spiegel.

Was aber, wenn die Clean Skins keine willigen, sondern unwillige oder zumindest unwissende Vollstrecker waren? Die Eltern von Mohammed Sidique Khan sagen, ihr Sohn müsse von Terroristen einer »Gehirnwäsche« unterzogen worden sein. Ein Onkel von Shahzad Tanweer ist überzeugt: »Er war es nicht. Es müssen Kräfte hinter ihm gewesen sein.«

Damit stellt sich die Frage nach den Masterminds. Natürlich ist nicht auszuschließen, daß es skrupellose Drahtzieher aus der internationalen Djihad-Szene waren, nach denen die Ermittler nun fahnden. Wenn sich allerdings herumspricht, daß Al Qaida junge Leute zum Bombenlegen benutzt und diese anschließend absprachewidrig liquidiert, würde dieser ominöse Verein schnell seine Sympathisanten verlieren. Ist es vorstellbar, daß Super-Terroristen so blöd sind?

Dokumentiert: Zufällige Parallele oder mehr?

* Eine Beraterfirma mit Verbindungen zu Regierungs- und Polizeikreisen hat am 7. Juli eine Antiterrorübung in London durchgeführt – gleichzeitig zu den Bombenanschlägen und an denselben U-Bahnhöfen. Peter Power, Leiter dieser Firma Vigor Consultants und früher Mitarbeiter von Scotland Yard, gab dazu BBC Radio 5 am Abend des 7. Juli ein Interview.

Power: Um halb neun an diesem Morgen führten wir für einen Betrieb mit über tausend Mitarbeitern eine Übung durch. Zugrunde gelegt waren gleichzeitige Bombenanschläge exakt an den Bahnhöfen, wo es an diesem Morgen passierte, deswegen stellen sich mir noch jetzt die Nackenhaare hoch.

Moderator: Habe ich das richtig verstanden: Sie führten eine Übung durch, wie man mit so etwas umgehen könnte, und es ist während dieser Übung passiert?

Power: Genau, und es war ungefähr halb neun diesen Morgen, wir planten das für ein Unternehmen und aus offensichtlichen Gründen. Ich will seinen (des Unternehmens) Namen nicht aufdecken, aber sie hören zu und sie werden es wissen. Und wir hatten den Raum voller Krisenmanager, die sich zum ersten Mal trafen, und innerhalb von fünf Minuten entschieden wir uns ganz schnell, daß das jetzt echt ist. Dann nahmen wir uns die richtigen Schritte im Krisenmanagement vor und schalteten vom langsamen zum schnellen Nachdenken um und so weiter.

* Internetadresse der Sendung: www.bbc.co.uk/fivelive/programmes/drive.shtml. Leider nimmt BBC seine Sendungen nach sieben Tagen aus dem Netz – heute ist das Interview unter der angegebenen Adresse also nicht mehr zu finden.


In einer späteren Erklärung bestätigte Power die Übung, machte allerdings darauf aufmerksam, daß »lediglich ein paar Krisenmanager« beteiligt waren, die den Ernstfall für die 1000 Firmenangehörigen simulierten.