Weshalb ist die Wirtschaft für die Personenfreizügigkeit? - Oder "mangelndes Wissen; denn so unverschämt lügt keiner!" - von Nationalrat Luzi Stamm, Baden (AG)

Jeder kann sich ausmalen, was passieren würde, wenn Spanien freie Einwanderung aus Marokko zulassen würde. Kein Spanier käme auf die Idee, die Personenfreizügigkeit mit dem viel ärmeren Marokko zu fordern, auch kein Wirtschaftsvertreter. Auch kein amerikanischer Unternehmer würde wohl je freien Personenverkehr mit Mexiko propagieren. Kein japanischer Wirtschaftsverband würde je freie Einwanderung aus China gutheissen. Kein reiches Land würde freie Zuwanderung aus viel ärmeren Staaten zulassen. Weshalb setzten sich denn Schweizer Wirtschaftsvertreter für die Ausweitung des Personenverkehrs auf EU-Oststaaten ein?

Niemand würde behaupten, freier Personenverkehr zwischen Marokko und Spanien läge im Interesse der Spanier. Freie Einwanderung zwischen einem armen und einem reichen Land wirkt immer und überall nivellierend, sie ist damit immer zum Nachteil des wohlhabenden Landes. Wer das Gegenteil erzählt, könnte ebenso gut behaupten, Wasser fliesse aufwärts. 
 
Was zwischen Spanien und Marokko gilt, gilt - wenn auch etwas abgeschwächt - natürlich auch zwischen der Schweiz und Oststaaten, in welchen die Menschen rund zehnmal weniger verdienen als bei uns. Kein Mensch kann ökonomische Gesetze ausser Kraft setzen. Dass der Bundesrat die Personenfreizügigkeit mit den EU-Oststaaten trotzdem will, auch wenn sie uns Armut bringt, ist logisch. Seit 13 Jahren gibt er offen zu, dass er die Strategie verfolgt, der EU beizutreten. Wer in die EU will, will selbstverständlich auch den freien Personenverkehr, koste es, was es wolle.
 
 
Aber weshalb die Wirtschaft?
 
Aber weshalb fordern denn Schweizer Wirtschaftsverbände dasselbe? Obwohl sie wissen, dass schon 2007 auch noch Rumänien und Bulgarien der EU beitreten werden, in einigen Jahren die Balkanstaaten (Serbien / Kosovo, Bosnien, Albanien etc). Im Gespräch unter vier Augen habe ich noch nie einen Unternehmer erlebt, der im Ernst befürwortet, dass bei EU-Osterweiterungen selbst für die ärmsten EU-Oststaaten freie Zuwanderung gelten soll.
 
 
Könnte sein, dass die massgebenden Wirtschaftsvertreter dem Bundesrat auf den Leim gekrochen sind? Man lese, was sich z.B. am 24. April 2004 abspielte (Weltwoche Nr. 23.05): „Entscheidend waren zwei Treffen am 29. März 2004, die von Beteiligten als „bundesrätliche Überfälle“ bezeichnet wurden. Ohne Voranmeldung platzen an jenem Montag Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und Chefunterhändler Michael Ambühl in eine Sitzung des Vorstan­des der Bankiervereinigung. Zur gleichen Zeit überrumpelte Wirtschaftsminister Joseph Deiss den prominent besetzten 14-köpfigen Economiesuisse-Vorstandsausschuss mit den obersten Chefs der Banken, der Pharma- oder Maschinenindustrie. Beide nötigten die verdutzten Runden, die bilaterale Logik der Regierung mit Statements und Millionen zu unterstützen“.
 
 
Wie reagiert man auf den Telefonanruf eines Bundesrats?
 
Wer in der Politik ist, weiss, was sich an solchen Sitzungen abspielen kann. Leute, die noch keine Zeit hatten, sich mit dem Thema zu beschäftigen, stehen plötzlich vor einer Abstimmung. Sie heben vorschnell die Hand, erst im Nachhinein erkennen sie die Tragweite ihrer Entscheidung. Zurück können sie später nicht mehr, ohne das Gesicht zu verlieren. Nachträglich versuchen sie, den vorschnell getroffenen Entscheid zu rechtfertigen. Genau das geschieht jetzt mit massgebenden Wirtschaftsvertretern. Die Wirtschaftselite hat dem Bundesrat zuliebe „Ja“ gesagt, längst bevor sie sich informierte, worum es überhaupt geht.
 
 
Wie reagiert ein Unternehmer, wenn er plötzlich einen Bundesrat am Telefon hat, der ihn bedrängt, „ich zähle auf Dich“, „nun musst Du mir helfen“, „die Wirtschaft muss nun endlich mal tief in die Tasche greifen“, „diese Abstimmung müssen wir gewinnen“. Zu Hunderten haben unsere obersten Wirtschaftschefs schon vor eineinhalb Jahren „Ja“ gesagt und dem Bundesrat Unterstützung zugesichert; ohne zu merken, dass jeder EU-Osteuropäer einen Rechtsanspruch erhält, in die Schweiz zu ziehen; selbst derjenige, der sich nicht anpassen und nur von den Sozialwerken profitieren will.
 
 
Pure Unwissenheit von Wirtschaftsvertretern
 
Noch als die Wirtschaft ihre Werbebroschüre verfasste, die jetzt überall verteilt wird, hat sie offensichtlich sogar noch gemeint, „zuwandern darf nur, wer über einen gültigen Arbeitsvertrag verfügt“. Dieser zentrale Satz in der Broschüre „facts der Wirtschaft“ verschlägt jedem, der auch nur einigermassen gut informiert ist, den Atem. Er ist so falsch, dass alles dafür spricht, dass er aus purer Unwissenheit geschrieben wurde. Denn so unverschämt lügt keiner, schon gar nicht in einer Broschüre, die hunderttausendfach verteilt wird.
 
 
Wer behauptet, bei einem „Ja“ am 25. September brauche es einen Arbeitsvertrag, um in die Schweiz zu kommen, hat von der Materie keine Ahnung. Vielmehr gilt: Jeder kann kommen, der Arbeit sucht (bis zu maximal 15 Monate); jeder kann kommen, der „ausreichende“ finanzielle Mittel ausweist; jeder kann als Student kommen; Verwandte können kommen (z.B. wer den Schwiegersohn in der Schweiz hat); wer weniger als drei Monate in der Schweiz tätig sein will oder wer einmal pro Woche nach Hause zurückkehrt (z.B. per Bus übers Wochenende zurück nach Osteuropa), braucht nicht einmal mehr eine Aufenthaltsbe­will­ligung. Und vor allem gilt: Jeder kann jederzeit als selbständig Erwerbender kommen.
 
 
Deutschland zeigt, was das heisst. Das Land wird überrannt von osteuropäischen „Ein-Mann-Gesellschaften“, welche als Selbständige ihre Arbeit zu Tiefstpreisen anbieten, völlig legal. Sie kommen zu Hunderttausenden als „Ein-Mann-Geschäft“, als „Ein-Frau-Putzinstitut“, als „Ich-Taxi“, als Taglöhner; sie wohnen in Billigunterkünften oder gar Massenlagern. Die Löhne brechen zusammen, die Arbeitslosigkeit explodiert, die Armut steigt.
 
                                                                                                                              
Sie können nicht mehr zurück
 
Der Bundesrat spannt in seine massive „Ja“-Propaganda-Kampagne alles ein, was Rang und Namen hat. Mag sein, dass einige Unternehmer aus Eigennutz „Ja“ sagen, weil sie von Staatsaufträgen abhängig sind oder anderweitig auf die Gunst des Bundesrats angewiesen sind. Aber viel wahrscheinlicher ist, dass die grosse Mehrheit der Wirtschaftsvertreter einfach zum Mitmachen überredet wurde. Auch diejenigen, die eingesehen haben, welch unsinnige Behauptungen sie in die Werbe-Broschüre geschrieben haben, können nicht mehr zurück; auch diejenigen nicht, die inzwischen am Beispiel von Deutschland längst realisiert haben, welch verheerende Langzeitfolgen der Schweiz blühen, wenn aus den Oststaaten jedermann ungebremst einwandern kann.