Zum EU-Rettungsschirm

d.a. Es lässt sich durchaus argumentieren, dass der in jedem Artikel zum EFSF überaus zahlreich erscheinende Begriff der »öffentlichen Hilfe« auf nicht

zu übersehende Weise insofern eine diskrete Verschleierung erfährt, als es der über unser Los entscheidenden Brüsseler Crew so gut wie nie passiert, diese bei ihrem wirklichen Namen zu nennen und hier von Steuern zu sprechen. So liest man denn auch, dass die Banken nun bereit seien, über den Verzicht von 50 % ihrer Forderungen an Griechenland zu verhandeln, dass jedoch die Euro-Staaten im Gegenzug weitere öffentliche Hilfe in Aussicht stellen; selbstredend ohne jegliche Mitsprache der Bürger. Und dieser kann sich ohnedies lediglich im Stich gelassen fühlen, hat sich doch die Mehrheit der über die Erweiterung des Europäischen Finanzstabilitätsfonds abstimmenden deutschen Parlamentarier mit ihrem Ja - obwohl die damit verbundenen Gefahren rückhaltlos aufgezeigt worden waren - als treue Diener ihrer Herren erwiesen. Damit wird sich der Steuerzahler ein weiteres Mal für die ›öffentliche Hilfe‹ zusätzlich verschulden müssen. So heisst es denn auch ganz einfach: Auf der Grundlage des Schuldenschnitts »ist der ›öffentliche Sektor‹ der Gipfelerklärung bereit, Griechenland bis 2014 mit zusätzlichen Krediten von bis zu 100 Milliarden € zu unterstützen«, von denen wohlweislich nicht ein Euro vorhanden ist. Es ist bereits abzusehen, dass das gesamte Prozedere darauf hinauslaufen wird, dass jede Art von Deckung, bleibt die Rückerstattung von Krediten aus, zum Schluss an eben diesem geschundenen Steuerzahler hängen bleibt. Diese für die übrigen EU-Bürger gestrickte ›Finanzzwangsjacke‹ ist die griechische Bevölkerung offenbar nicht willens, zu erkennen. Des weiteren sind sie nicht bereit, auf die angedrohten Massnahmen der Behörden zu reagieren, wenn es um Steuerhinterziehung  geht. Steuerhinterziehung ist Volkssport in Griechenland. Laut Schätzungen werden jährlich 30 % = rund 20 Milliarden € an Steuern hinterzogen. Damit könnte das gesamte Haushaltsloch in diesem Jahr gestopft werden. Doch den Griechen scheint das ebenso egal zu sein wie der Warnschuss der Behörden. Am Abgrund zocken sie einfach weiter. Auch sonst erweisen sie sich bei ihren fortgesetzten Demonstrationen, schonend ausgedrückt, als äusserst unklug, da die sich dabei ereignenden Zerstörungen ihren Haushalt aufs neue belasten - es sei denn, man baut ganz einfach darauf, dass ihnen ›die öffentliche Hilfe‹ auch hier unter die Arme greifen wird.

 

Eine weitere regelrechte Verdummung besteht aus meiner Sicht in der von den EU-Staaten in diesem Zusammenhang an den IWF ergangenen Aufforderung, sich an dem geplanten, bis Ende des Jahres auszuhandelnden zweiten Griechenland-Programm zu beteiligen. Diese Beteiligung müssen sie doch ebenfalls finanzieren, das Kapital des Internationale Währungsfonds besteht doch aus nichts anderem als aus Steuergeldern, die von den Mitgliedern in Form ihrer Beiträge jedes Jahr eingezahlt werden. Und von ihnen sind über die Jahre hinweg nachweislich Milliarden an Steuern für immer wieder auftretende Finanzkrisen in den Sand gesetzt worden. Mit anderen Worten: Auch hier dienen ausschliesslich die von uns erarbeiteten und entrichteten Steuern dazu, für die Schäden, die durch die von anderen Staaten begangene Korruption und Steuerflucht entstehen, aufzukommen.

 

Die Neue Zürcher Zeitung Nr. 252 vom 28. 10. 2011 teilt bezüglich des IWF folgendes mit: »Die Schweiz soll bis Ende 2012 die Kapitalverdoppelung des IWF ratifizieren. Laut Schweizer Währungshilfegesetz ›kann der Bund einzelnen Staaten oder Staatengruppen Währungshilfe in Form von Darlehen und Garantien gewähren und diese Aufgabe an die SNB delegieren. Für Kredite, die die SNB vergibt, übernimmt der Bund dann das Ausfallsrisiko; diese Garantien müssten vom Parlament gutgeheissen werden‹.« Im Klartext: Erstens kann auch die Kapitalverdoppelung lediglich über eine substantielle Aufstockung der jährlich von den Mitgliedern eingezahlten Steuergeldern erfolgen; zweitens gibt der IWF damit zu erkennen, dass er mit weiteren Finanzkrisen rechnet Auch das bedeutet - ohne Scheuklappen gesehen - die Ausbeutung der arbeitenden Schicht. Und was uns niemand sagt, wir zahlen immer zweimal, also ganz gleich, in welcher Form neuerliche, an fremde Staaten gewährte Kredite geleistet werden; der Bund stellt nun einmal nichts anderes als den Bürger dar, so dass jede ausfallende Rückerstattung zu Lasten der Bevölkerung geht. Hier die Beiträge der Schweiz beim IWF per Mai 2011: 3,45 Milliarden SZR (Sonderziehungsrechte, die Währungseinheit des IWF), das sind ca. 2,5 Milliarden Schweizer Franken. Siehe hierzu auch   http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1193   Kann der IWF die Welt retten? In der Ausgabe des Sterns vom 27. 10. war ein anlässlich der Brüsseler Krisensitzung aufgenommenes Foto abgebildet, auf dem der polnische Ministerpräsident Donald Tusk Angela Merkel einen Handkuss gibt. Warum auch nicht? Weiss er doch, dass im Fall des Abrutschens gefährdeter EU-Mitgliedsstaaten die Deutschen diejenigen sind, denen die Hauptlast aufgebürdet wird.

 

Im nachfolgenden veröffentlichen wir Auszüge aus dem Artikel von Prof. Heiner Ganßmann,

Wir sind der Markt - Spekulation und Alltag

 

Ob wir Zeitung lesen, Radio hören oder fernsehen, immer ist in diesen Krisenzeiten von den »Märkten« die Rede. Obwohl sie dauernd in den Nachrichten auftauchen, also offenbar genau beobachtet werden, ist der herrschende Eindruck, daß sie große, anonyme Mächte darstellen. Selbst wenn von Investoren oder Anlegern die Rede ist, also immerhin von Personen, erfährt man selten, um wen es sich handelt. Weil Roß und Reiter nicht benannt werden, assoziieren wir mit diesen »Märkten« irgendwelche Zusammenrottungen oder Verschwörungen gieriger Spekulanten, Banker, Heuschrecken, Hedgefonds, Krisengewinnler. Bei den »Märkten« geht es um die Finanzmärkte, vorzugsweise die Börsen. Und was da gehandelt wird, sind Waren zweiter oder dritter Ordnung: Aktien, Devisen, Schuldverschreibungen und Derivate. Es geht um Papiere, auf denen Unternehmensanteile, Eigentumsrechte, Zahlungsverpflichtungen, Fremdwährungsguthaben, Warentermingeschäfte notiert sind. Warum ist der Handel mit solchen Objekten aufregender als der mit Konsum- oder Produktionsgütern? Was die Finanzmärkte von normalen Märkten unterscheidet, ist der höhere Anteil rein spekulativer Transaktionen. Die Marktteilnehmer sind so nervös und erregbar, weil sie mehr oder weniger riskante Wetten abschließen und auf hohe Gewinne hoffen. Es ist wie beim Hahnenkampf in südlichen Ländern. Dramatisch ist nicht der Kampf, nicht die Frage, welcher Gockel den anderen niedermacht. Die Emotionen kommen ins Spiel, weil die Zuschauer vor dem Kampf auf den Ausgang gewettet haben. Jetzt hoffen und bangen sie: Ist der Einsatz verloren, oder vermehrt er sich?

 

Das Börsengeschehen ist Spekulation. Es geht also weniger ums Kaufen und Verkaufen als vielmehr darum, daß die Beteiligten Preis- oder Kursentwicklungen antizipieren, um dank ihrer Antizipation Gewinne einzustreichen; oder daß sie Preisdifferenzen und –inkonsistenzen beobachten, die Arbitragegeschäfte [1] ermöglichen. Bei beiden Formen der Spekulation ist der Faktor Zeit entscheidend: Gewinne macht, wer eine Chance als Erster sieht und nutzt. Dadurch kommt die Hektik auf, die das Börsengeschehen so aberwitzig aussehen läßt und die durch Nutzung modernster Kommunikationstechniken immens gesteigert wird. Das Prinzip bleibt jedoch gleich. Wer als Erster die Information hat, daß die Kaffeeernte in Nicaragua wegen Unwetterschäden schlechter ausfallen wird, kann erhöhte Preise antizipieren und schnell zu dem Preis kaufen, der auf den alten Ernteerwartungen beruht, um ebenso schnell wieder zu verkaufen, wenn die neuen Erwartungen eingepreist sind. Und wer um die Zahlungsfähigkeit der Leute weiß, denen mit Hilfe von Subprime-Hypotheken fragwürdige Immobilien verkauft wurden, kann deren Schuldnerverhalten beobachten und, sobald eine relevante Zahl die Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllt, darauf wetten, daß die Kurse für die aus diesen Hypotheken zusammengebastelten Wertpapiere sinken. Das Wetten auf Kursfall nennt man short sales, Leerverkäufe. Obwohl diese neuerdings einen schlechten Ruf haben, gehören sie - im Unterschied zu ungedeckten Leerverkäufen - zum normalen Börsengeschehen. Bei beiden handelt es sich um Spekulation auf eine Baisse, also auf fallende Kurse. Früher war das Wissen um diese Abläufe nur etwas für Eingeweihte. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Aber die globale financialisation hat inzwischen dazu geführt, daß der Schwanz der Finanzmärkte mit dem Hund der Weltwirtschaft wedelt: weshalb die ganze Welt betroffen ist, wenn etwas schiefgeht. Darum wird der verbreitete ökonomische Analphabetismus, das Unwissen über die Funktionsweise der Finanzmärkte, immer mehr zum Problem. Politiker wie Wähler scheinen dem Auf und Ab der Märkte nicht nur machtlos, sondern auch kognitiv hilflos gegenüberzustehen. Aber wenn es in Demokratien überhaupt eine Chance geben soll, die Finanzmärkte durch neue Regeln wieder einzuhegen, muß das allgemeine Verständnis der typischen Finanztransaktionen entschieden zunehmen.

 

Deshalb ist es auch fatal, wenn in der Berichterstattung über das Finanzsystem beim pauschalen Gerede von den Märkten die wirklichen Akteure wie hinter einem Schleier verschwinden. Wobei häufig bereits die triviale Einsicht verlorengeht, daß zu jeder Markthandlung mindestens zwei Akteure gehören. Ihr Zusammenspiel beginnt mit schlichten Mitteilungen. A sagt: Ich kaufe Ware x zum Preis p, B sagt: ich verkaufe Ware x zum Preis p+; C sagt: ich verleihe Geld zum Zins z, D sagt: ich leihe Geld zum Zins z. Ist mit diesen Signalen ein Interesse an einer Transaktion geweckt, kann man verhandeln. Wenn sich A und B auf einen Preis einigen, findet ein Handel statt; wenn nicht, eben nicht. Die Mitteilungen können sich auch zu Transaktionsketten vervielfältigen, über die hochkomplexe Kooperationsmöglichkeiten realisiert werden. Dabei folgen die Akteure der einfachen und uns allen vertrauten Maxime der Geldwirtschaft: Billig kaufen und teuer verkaufen; oder billig leihen und teuer verleihen.

 

Was spielt sich nun bei der typischen Baisse-Spekulation ab? Beim Leerverkauf erwartet Akteur S das Sinken des Marktpreises einer Aktie. S leiht sich von Akteur A gegen eine Gebühr die Aktie, mit dem Versprechen, sie zu einem späteren festgesetzten Zeitpunkt zurückzugeben. S verkauft die geliehene Aktie zum aktuellen Marktpreis an Akteur B. Wenn alles läuft wie erwartet, kauft S die Aktie zum gesunkenen Preis von einem weiteren Akteur C und kann sie pünktlich wieder an A zurückgeben. Diese Transaktionskette lohnt sich für S nur dann, wenn der Preis tatsächlich wie erwartet sinkt und sein Gewinn größer ist als die Gebühr, die er an den Verleiher der Aktie zahlt. Aber warum verleiht A, als erster Transaktionspartner von S, seine Aktie, statt selbst das Geschäft zu machen? Weil A die Aktie gar nicht verkaufen will, durch Ausleihen aber zusätzlich (zur Dividende oder dem erwarteten Kurszuwachs) verdienen kann. Für A ist die angebotene Gebühr also wie ein Zins auf verliehenes Geld. B wiederum kauft die Aktie von S, weil er, anders als S, einen stabilen oder steigenden Kurs erwartet oder mehr Aktien des betreffenden Unternehmens erwerben will (etwa um seinen Einfluß auf das Unternehmen zu stärken). Der vierte Transaktionspartner C verkauft seine Aktie an S, weil er einen noch größeren Kursverlust erwartet oder vielleicht Geld braucht. Beim ungedecktem Leerverkauf verkauft S die Aktie an B, bevor er  überhaupt einen A gefunden hat, der ihm diese verleiht. Wenn sich die Preise anders als erwartet entwickeln, riskiert er also, daß er nach dem Verkauf einer Aktie, die er gar nicht hat, keinen Verleiher dieser Aktie findet. Sein Geschäft ist geplatzt. Es ist nicht immer einfach, all diese Operationen als das zu erfassen, was sie sind: eine Abfolge von paarweisen Interaktionen.

 

Bullen und Bären und ein Rudel Wölfe

Bevor die Märkte zu einem Rudel Wölfe degenerierten, beschrieb man das spekulative Börsengeschehen noch mit dem metaphorischen Rückgriff auf zwei Arten von Biestern: als Kampf zwischen Bullen und Bären. Die Bullen sind dabei zum Beispiel die Organisatoren von Immobilienfonds und die Halter der entsprechenden Papiere, die ein Interesse an stabilen oder steigenden Kursen haben. Sie wehren sich gegen Kursverluste, indem sie versuchen, einen preisdrückenden Verkäuferüberhang durch eigene Zukäufe auszugleichen, so wie es derzeit die EZB mit den Staatsschuldenpapieren der Pigsi (die um Italien erweiterte Gruppe der ursprünglichen Pigs-Staaten Portugal, Irland, Griechenland, Spanien) macht. Gleichzeitig wollen die auf fallende Kurse setzenden Leerverkäufer, die Bären, die anderen davon überzeugen, daß es höchste Zeit ist, auszusteigen. Mitunter hilft eine gezielte Desinformation, die Preise zu drücken - oder eine koordinierte, blitzartige Verkaufsaktion. Wenn sich die Kursstabilisierer in einer kritischen Situation noch einmal durchsetzen, verlieren die Bären, die zu früh auf Kursverluste gewettet haben. Setzen sich dagegen die Baisse-Spekulanten durch, verlieren die Bullen über den Kursverlust hinaus auch noch ihre für die Stützungskäufe eingesetzten Mittel. Bei diesem Duell können die Einsätze und Risiken beider Parteien sehr hoch sein, weil häufig große Räder mit wenig eigenen Mitteln und viel Kredit gedreht werden. Entscheidend für den Erfolg sind dabei Timing und Tempo der Transaktionen. Eben deshalb spielen Gerüchte, Antizipationen, Hektik, Angst oder Euphorie die große Rolle, die Finanzmärkte von normalen Märkten unterscheidet. Das überkomplexe Kuddelmuddel des globalen Finanzsystems scheint akut auf eine Katastrophe hinauszulaufen. Läge es da nicht nahe, das Heil in einfachen Lösungen für komplizierte Probleme zu suchen, also Spekulation, dann Börsen, dann Kredit und schließlich Geld abzuschaffen? Träume von einer einfachen Welt helfen leider nicht. Angesagt ist aber ein genauerer Blick auf die Spekulation. Den Investoren kommt es nicht darauf an, das ihnen anvertraute Geld so zu verwenden, daß die Eigentümer daraus langfristig ein möglichst sicheres und hohes Einkommen beziehen. Sie zielen vielmehr auf schnelle Gewinne mittels Antizipation der Durchschnittsmeinung hinsichtlich der Wertentwicklung einer Anlage, um dann die erwarteten Wertschwankungen auszunutzen. Diese Investoren orientieren sich gerade nicht an den berühmten Fundamentaldaten, bei Aktien etwa an der Produktivität oder Innovationsfähigkeit eines Unternehmens als Grundlage seines erhofften Markterfolgs oder an der erwarteten Dividende. Sondern allenfalls an der Vermutung, wie veränderte Fundamentaldaten das Anlageverhalten der anderen Marktteilnehmer beeinflussen könnten. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Wenn Kurse der Aktien von Automobilunternehmen oder Banken schlagartig um 20 % fallen, um sich noch am selben Tag wieder zu erholen, hat das nichts mit den realen Gewinnaussichten der Unternehmen zu tun. Hier handelt es sich um  Spekulation auf Kursverluste und den Wiedereinstieg in den Kauf, wenn die Kurse hinreichend gefallen sind. Dabei ist häufig auch ein Herdenverhalten im Spiel, weil viele Anleger bei einer plötzlichen Kursbewegung nicht auf Papieren sitzen bleiben wollen, die eine halbe Stunde später 10% weniger wert sind. Dann verkaufen auch sie noch schnell, zumal sie dasselbe Papier vielleicht binnen einer halben Stunde für ein paar Prozent weniger zurückkaufen können. Angesichts solchen Verhaltens stellt sich die Frage: Warum behandeln wir die Finanzmärkte nicht wie einen Zoo, in dem eine merkwürdige Spezies bei ihren merkwürdigen Spielen zu betrachten ist? Die Antwort: Hinter den dauernd beschworenen Märkten, die angeblich unausweichliche Sachzwänge exekutieren, steckt nichts anderes als wir selbst - und unser Geld. Wenn in den Börsennachrichten von Anlegern oder Investoren die Rede ist, stellen wir uns Leute vor, die ihr eigenes Geld, die berühmten freien Spitzen aus hohen Einkommen, gewinnbringend mal hierhin, mal dahin schieben. Und wir gehen davon aus, daß sie sich über die Ertragsaussichten eines Unternehmens oder die Zahlungsfähigkeit eines Staats genau informiert haben. Diese Vorstellung ist irrig. Tatsächlich sind die Anleger zumeist Angestellte, deren Beruf es ist, das Geld anderer so zu nutzen, daß ihr Arbeitgeber - häufig eine Bank - gute Gewinne macht und zugleich die Zinsen einspielt, die dem tatsächlichen Eigentümer versprochen wurden.

 

Vor kurzem mußten die Anleger in Staatsanleihen feststellen, daß diese Käufe keine gute Idee waren. Denn in Griechenland, Irland und Portugal, aber scheinbar auch in Spanien und Italien, ist der Staatsschuldenberg so stark gewachsen, daß sich jeder, der bis drei zählen kann, ausrechnen kann: Das Geld kommt nicht zurück, jedenfalls nicht ohne haircut. Wer das zuerst merkt, hat ein schönes Objekt für Baisse-Spekulation gefunden. Gelingt sie, fallen die Preise, und deshalb versuchen immer mehr Anleger, diese Staatsanleihen zu verkaufen. In der verqueren Sicht der Finanzmärkte wird dieses Ereignis allerdings nicht als das dargestellt, was es ist, nämlich ein herber Verlust für alle, die diese Papiere einmal teurer gekauft haben, als sie sie nun verkaufen. Vielmehr ist primär von einer Staatsschuldenkrise die Rede, die sich an dem steilen Anstieg der Erträge etwa auf griechische Staatsschuldenpapiere ablesen läßt. Diese Erträge gelten als Risikoaufschläge. So entsteht der Eindruck, als müßten Portugal oder Griechenland sofort höhere Zinsen für ihre Schulden zahlen. Das ist aber nicht der Fall, jedenfalls dann nicht, wenn der betroffene Staat aktuell keine neuen Staatsschuldenpapiere ausgibt. Die ausgerufene Krise ist vielmehr ein Zweitmarktproblem, es geht also um den Handel mit bereits in privaten Händen befindlichen Papieren. Wenn der betreffende Staat seine Zahlungsverpflichtungen einhält, erzielen die neuen Käufer tatsächlich höhere Erträge. Wenn nicht, haben sie sich verspekuliert, und die Verkäufer hatten recht, weil sie ihre Verluste klein halten konnten. Der Witz an dieser Art, das Risiko von Anlagen in Staatsschulden mit Hilfe der aktuellen Erträge auf bereits ausgegebene Staatsobligationen darzustellen, besteht vor allem in dem erzeugten Eindruck, daß nicht die privaten Halter der Staatspapiere in der Krise stecken, sondern der betreffende Staat, auch wenn er, etwa weil er unter den Eurorettungsschirm gezwungen wurde oder die Europäische Zentralbank  interveniert, aktuell gar nicht auf dem Markt auftritt. So entsteht politischer Handlungsbedarf. Da die Wirtschaftsmedien davon ausgehen, daß die Märkte immer recht haben, steht nun ein Staat als hochriskanter Schuldner dar. Also fragt sich auf einmal alle Welt, was zum Beispiel in Griechenland los ist. Dabei kommt dann naturgemäß einiges zutage, aber selten etwas wirklich Neues: Vetternwirtschaft, schlechte Steuermoral, ein aufgeblähter öffentlicher Sektor. Was bedeutet dies für den betroffenen Staat? Er hätte ein akutes Problem mit den Märkten erst dann, wenn er entweder umschulden oder neue Schulden aufnehmen müßte. Er hat zweitens jedoch ein Problem mit seinen Rettern, der EZB, den anderen Euroländern und dem IWF, die auf Sanierung der Staatsfinanzen mittels Privatisierungen und drastischer Sparprogramme pochen. Dummerweise wird dabei der Patient nicht gesund, weil die Austeritätspolitik die Wirtschaft einbrechen läßt, womit die Aussichten auf Stabilisierung hinüber sind. Die Kollerateralschäden des Spiels treffen alle

 

Aber war da nicht noch was? Schließlich haben auch solche Staaten, die zurzeit von den Märkten unter Druck gesetzt werden, erst vor zwei, drei Jahren diese Märkte vor sich selbst gerettet. Und die Regierungen der reichen Länder haben - zu Lasten der unbefragten Steuerzahler - Unsummen in das Finanzsystem gesteckt. Wie kommt es, daß die Märkte jetzt den Spieß umdrehen können? Wie konnte aus der Finanz- und Bankenkrise eine Fiskalkrise auch der reichen Länder werden?

Viele Staaten sind so enorm verschuldet, weil die Regierungen unter Verweis auf das berühmte systemische Risiko - too big to fail - ihre Banken retten mußten. Das sind bekanntlich Institute, die sich ansonsten als Global Players geben und ihre Steuern gern dort zahlen, wo sie am niedrigsten sind. Wie sich im Gefolge der Lehman-Pleite gezeigt hat, genügt der Bankrott weniger wichtiger Banken, um eine Kettenreaktion auszulösen, die in den Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems zu münden droht. Ohne staatliche Interventionen wäre damals wohl die gesamte Weltwirtschaft in Schockstarre verfallen. Wenige Jahre später sind die Retter in der Krise. Da die Staaten bei der Bankenrettung hohe Schulden aufgenommen haben, ist jetzt ihre Kreditwürdigkeit bei den Anlegern beeinträchtigt. Aber wer sind diese Anleger? Womöglich dieselben Akteure im Finanzsystem, die gerade mit Staatshilfen gerettet wurden? Wir erfahren es nicht. Im wolkigen Gerede von den Märkten bleiben sie unsichtbar. Was wir sehen, ist eine parallel zur Finanzkrise entstandene Fiskalkrise, die vagabundierend einen Nationalstaat nach dem anderen ergreift. Weil ein insolventer Staat seine Kreditgeber und damit die Banken der andern Staaten gefährden kann, deren Rettung wiederum zu neuen insolventen Staaten führen würde, dreht sich ein gigantisches Krisenkarussell. Ebenso gigantisch ist das Dilemma, vor dem damit die Regierungen stehen. Denn nun müssen die weniger kreditwürdigen Staaten, die eine Massenflucht der Anleger aus ihren Schuldenpapieren erleben, von den noch kreditwürdigen gerettet werden. Die sind zur Hilfe für die Wackelkandidaten schon deshalb genötigt, weil sonst ihre Banken erneut gefährdet wären. Hier läuft vor unseren Augen, aber auf abgehobener Ebene, ein undurchsichtiges Geschehen ab: Die Spekulation geht weiter, die Börsen fahren Achterbahn; und die politischen Akteure sehen hilflos zu, weil sie nicht verstehen oder verstehen wollen, was ihnen passiert *. Dummerweise können wir uns als staunendes Publikum nicht schulterzuckend abwenden. Denn die Kollateralschäden dieses Spiels treffen uns alle, und sie kommen teuer. Die seit langem anhaltende Globalisierungs-, Deregulierungs- und Privatisierungsmanie hat bewirkt, daß es - jedenfalls im entwickelten Teil der Welt - fast niemanden mehr gibt, der in dieses Spiel nicht eingebunden wäre. Auch wer kein großes Vermögen, sondern nur ein Bankkonto und ein paar Rücklagen besitzt, verspürt die Krise als persönliche Bedrohung. Von den früher oder später eintretenden Folgen für den Arbeitsmarkt ganz abgesehen.

 

Was tun? In einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind wir auf Koordination und Kooperation angewiesen: darauf, daß andere etwas für uns und wir etwas für andere tun. Deshalb gibt es keine einfachen Lösungen, wie etwa die Abschaffung der Spekulation oder der Banken oder gar des Geldes. Aufgrund wechselseitiger Abhängigkeiten müssen wir auch im Bereich der Wirtschaft unsere Interessen von Repräsentanten, etwa von sachkundigen Geldverwaltern, wahrnehmen lassen. Im Bereich der Politik erwarten wir, daß sich eine gewählte Kaste gegenüber den Interessen des Volkes, das sie zu vertreten vorgibt, nicht allzu weit verselbständigt. Nötigenfalls muß sie abgemahnt oder abgewählt werden. Aber genauso sollten wir auch die Akteure auf den Finanzmärkten als Repräsentanten unserer Wirtschaftsinteressen zurückpfeifen können. Ottilie und Otto Normalverbraucher möchten nicht, daß jemand unbeauftragt mit ihren Ersparnissen spekuliert. Und schon gar nicht, daß sie, wenn es schiefgeht, von ihren politischen Repräsentanten gezwungen werden, mit ihren Steuern für immense Spekulationsverluste geradezustehen. Die Märkte, gegenüber denen sich die Politik ohnmächtig stellt, sind ein Fetisch. In Anlehnung an den trotzigen Ruf: Wir sind das Volk! ist es Zeit für den Ruf: Wir sind der Markt!. Das bedeutet, die Märkte in die Verfügung derjenigen zurückzuholen, die sie ermöglichen und zugleich von ihnen betroffen sind. So wie wir politische Repräsentanten haben wollen, die auf vernünftige Weise unsere langfristigen Interessen wahrnehmen, brauchen wir Finanzinstitutionen, die sich verantwortlich um unser Geld kümmern. Die sollen also nicht nur den Geldwert stabil halten, sondern die Spekulation durch Entschleunigung, Besteuerung und Reregulierung in sozialverträgliche Grenzen bannen

 

 

 

Der von politonline hier in gekürzter Form veröffentlichte Originalartikel erschien in der Ausgabe

von LE MONDE DIPLOMATIQUE Nr. 9623 vom 14. 10. 2011  © Le Monde diplomatique, Berlin

Heiner Ganßmann ist Professor emeritus für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschien von ihm: Doing Money. Elementary Monetary Theory from a Sociological Standpoint, New York (Routledge) 2011; alle Hervorhebungen durch politonline

 

[1] Arbitragegeschäfte funktionieren so: Ein Eurobesitzer möchte Schweizer Franken (CHF) kaufen. Für einen Euro bekäme er 1,10 CHF. Gleichzeitig kann er für einen Euro 1,40 US-Dollar kaufen. Wären die Wechselkurse konsistent, bekäme man für einen Dollar (1,10/1,40=) 0,78 CHF. Wenn man aber für 1 Dollar 0,80 CHF kaufen kann, lohnt sich der indirekte Tausch. Man wechselt erst Euro in Dollar, dann Dollar in Schweizer Franken und bekommt so für den Euro 1,12 CHF.

*  siehe auch den Artikel auf Seite 6 der Ausgabe LMD 9623 vom 14. 10. 11