Die Schweiz und die Europäische Menschenrechtskonvention - Demokratieumgehung - Von Ulrich Schlüer

Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde von unserem Land als für die Schweiz

verbindlich bereits vor Jahrzehnten ratifiziert. Damals, Europa steckte noch tief im Kalten Krieg, war ganz Bundesbern der übereinstimmenden Ansicht, die Konvention fasse lediglich das zusammen, was für die Schweiz seit Jahrzehnten selbstverständlich war und dass der Bundesrat die Ratifikation somit allein, also ohne Parlament und ohne Volksabstimmung beschliessen könne. Man verstand das Dokument als eine Art Freiheits-, Gerechtigkeits- und Rechts-Charta des freien Westens und damit als Kontrapunkt zum Totalitarismus des unter dem Sozialismus ächzenden Ostblocks.  

Eine nennenswerte Opposition erwuchs dieser Interpretation der Menschenrechtskonvention eigentlich von keiner Seite. Sie blieb für Jahrzehnte im Bewusstsein der Völker und Menschen Europas als Deklaration verankert, welche den Menschen als freies, selbstverantwortliches Wesen mit verbrieften Menschenrechten vor Willkür jeder Art schützen würde. Im Lauf der letzten zwanzig Jahre veränderte diese Deklaration allerdings ihren Charakter. Zwar wurden weder Inhalt noch Geltungsbereich ausgewechselt. Aber die Auslegung der Konvention veränderte sich – und damit vor allem auch die Wirkung dieser veränderten Auslegung. Nicht mehr der Schutz des Einzelnen vor Willkür stand im Mittelpunkt. Die Richter des inzwischen geschaffenen Menschenrechtsgerichtshofs interpretierten die Konvention vielmehr zunehmend als Regelwerk, das dem Einzelnen korrektes Verhalten aufträgt. Die Konvention wurde zunehmend als Reglement verstanden und von Richtern ausgelegt, die sich zu Beobachtungen und Verwaltern einheitlichen korrekten Verhaltens entwickelten, und die zunehmend jene zu verurteilen begannen, die sich dem sich bildenden Kanon politischer Korrektheit nicht einfach devot zu unterziehen bereit waren. Das wurde der Schweiz bewusst, als Strassburg, der Sitz des über die Einhaltung der Menschenrechtskonvention wachende Gericht, unser Land plötzlich mit von wachsendem Widerwillen zeugender Kritik zu überziehen begann.

Konsequenzen
Dass hier die Gesamtheit der Stimmbürger einer Gemeinde abschliessend über die Bürgerrechtserteilung an Einwanderer befinden konnten, das quittierte Strassburg mit zunehmend deutlich sichtbarem kollektiven Naserümpfen: Eine solcherart umgesetzte direkte Demokratie leiste einer nicht akzeptablen «Willkür» Vorschub, befand Strassburg, das Entscheidungsbereiche definiere, die der Bürger, auch in einem demokratischen Staat, nur noch mit vorbehaltlosem Ja abzunicken hätte. Bundesgericht und Bundesrat erwiesen sich alsbald als Strassburg-gefügig: Ohne Volksentscheid entzogen sie bislang freien Bürgern das politische Recht, über Einbürgerungen frei zu entscheiden. Die Einbürgerung wurde zum Verwaltungsakt abgewertet. Heute entscheiden Funktionäre, nicht mehr freie Bürger. Auch der demokratische Entscheid des Schweizer Souveräns zum Minarettverbot erntete harsche Kritik der Richter über das von oben gebotene Einheitsverhalten von zur Korrektheit zu erziehenden Bürgern. Politische Freiheit findet in einer derart festgelegten Reglementierung keinen Platz mehr – obwohl doch gerade die politische Freiheit als eines der wesentlichsten Menschenrechte überhaupt zu bezeichnen wäre. Aber die Strassburger Richter wissen inzwischen besser, was der Menschheit bekommt und was nicht. Und sie haben es auch fertiggebracht, dass der Schweizerische Bundesrat dem Strassburger Stirnrunzeln mehr Bedeutung beimisst als hiesigen Volksentscheiden. Das wurde der Schweizer Öffentlichkeit deutlich, als sich der Bundesrat schlicht weigerte, die an der Urne gutgeheissene Ausschaffungsinitiative so umzusetzen, wie sie von Volk und Ständen demokratisch beschlossen worden ist. Und vor wenigen Tagen musste sich die Schweiz – derzeit täglich tausendfach belogen, getäuscht und abgezockt von illegalen Einwanderern – auch noch demonstrative Schelte von irgendeiner Strassburger Figur gefallen lassen, die unserem Land nichts weniger als angeblich grassierende rassistische Ausländerpolitik vorwarf.
 
Volksabstimmung?
Interessant ist, wie Bundesbern heute die Wirkung der Europäischen Menschenrechtskonvention einschätzt. Es war vor etwa einem Jahr, als der Vizedirektor des Bundesamtes für Justiz, der den Bundesrat in allen Rechtsfragen kontinuierlich beratende Dr. Luzius Mader, eine interessante Beurteilung zur Europäischen Menschenrechtskonvention abgab: So um die zwanzig Jahre nach deren Ratifikation sei dem Bundesrat angesichts der sich abzeichnenden Auslegung dieser Konvention bewusst geworden, dass die Ratifikation eigentlich in den Kompetenzbereich des Parlaments gefallen wäre. Und angesichts der heutigen Auslegung dieser Konvention müsse gar festgestellt werden, dass diese Konvention mit ihren Tatsache gewordenen Auswirkungen auf die schweizerische Gesetzgebung eigentlich dem obligatorischen Referendum, also der Volksabstimmung unterstellt werden müsste. Maders Feststellung löste sofort eine Gegenfrage aus: Wenn der Bund heute die Wirkung dieser Konvention dahingehend einschätze, dass sie zwingend der Volksabstimmung zu unterstellen sei, weshalb setzt er diese nicht sofort an, gleichsam mit der Frage, ob die Schweiz angesichts der Tatsache gewordenen Auswirkungen bei dieser Konvention weiterhin verbleiben wolle? Die Gegenfrage erntete – nicht unerwartet – Entsetzen zu Bundesbern. Denn Bundesbern schätzt die vom Wortlaut der Konvention den Bürgern gewährleisteten Rechte und Freiheiten nicht besonders – die Regulierungs- und Beschränkungsmöglichkeiten, welche der heutigen Auslegung dieser Konvention entspringen, dafür um so mehr.  

Daraus erklärt sich die Nicht-Umsetzung der von Volk und Ständen beschlossenen Verwahrungsinitiative. Daraus erklärt sich die Nicht-Umsetzung der von Volk und Ständen beschlossenen Minarettverbots-Initiative. Daraus erklärt sich die Nicht-Umsetzung der von Volk und Ständen beschlossenen Ausschaffungsinitiative. Derzeit steht das Spannungsfeld Demokratie und Aussenpolitik in unserem Land wieder einmal zur Diskussion. Dank der Auns-Initiative Staatverträge vors Volk. Wird diese angenommen, dann werden die demokratischen und politischen Rechte der Bürger angesichts einschränkender internationaler Konventionen markant aufgewertet. Bundesbern  - mit kopflosen reichen Wirtschaftsverbänden im Schlepptau-  bekämpft diese Initiative allerdings vehement. Denn Bundesbern will keine Demokratie. Bundesbern will die Herrschaft. Und internationale, die Demokratie begrenzende Konventionen helfen Bundesbern, unerwünschte demokratische Rechte einzuschränken.  [1]

Kommentar politonline: Was den Bau von Minaretten betrifft, so sei folgendes in Erinnerung gerufen: Als der Europarat im Juni 2010 eine Resolution verabschiedete, die das Minarettverbot ausser Kraft setzen sollte, stimmte auch SVP-Nationalrat André Bugnon (VD) zu. Ende August diskutierte der SVP-Fraktionsvorstand, ob Bugnon deshalb aus der Europaratsdelegation entfernt werden sollte. Bugnon kämpfte in der Folge mit zweifelhaften Argumenten um seinen Ruf: Enttäuschten Wählern sagte er, er habe der Resolution gar nicht zugestimmt. Die Journalisten hätten das Wahlprotokoll falsch gelesen. Jedoch ist Bugnons Ausrede falsch: Wie im Protokoll nachzulesen ist, hatten in der Abstimmung alle fünf Anwesenden inklusive Bugnon der Resolution zugestimmt: Fehr, Pedergnana, Hartmann, Sommaruga, Lehmann, Bugnon.  [2]  Die von der Parlamentarier-Versammlung des Europarats verabschiede Resolution lehnt auch ein generelles Burka-Verbot ab; sie hatte ferner von der Schweiz verlangt, den Minarett-Baustopp bis zur endgültigen Aufhebung des Verbots auszusetzen. Der Minarettbau müsse ebenso zugelassen werden wie der Bau von Kirchtürmen.  [3]  

Es erstaunt immer wieder  -  milde ausgedrückt -  mit welcher Unbekümmertheit der Bau von Moscheen in Europa von muslimischer Seite als eine Art Selbstverständlichkeit betrachtet wird, ohne dass man in diesem Zusammenhang jemals darauf zu sprechen käme, in welchem Ausmass sich die Verfolgung von Christen in muslimischen Ländern gesteigert hat. So war auch BR Doris Leuthard, damals Bundespräsidentin, bei Ihrem Besuch in Indonesien im Juli 2010 die Frage gestellt worden, warum die Schweizer keine Minarette wollten und wovor sie Angst hätten. In ihrer Antwort hielt diese fest, dass es bei der Abstimmung lediglich um den Bau neuer Minarette ging und dass weder der Bau von Moscheen noch die Religionsfreiheit eingeschränkt seien. Offenbar habe ein Teil der Schweizer Bevölkerung die Minarette aber als Bedrohung für unser kulturelles Erbewahrgenommen. Deshalb sei jetzt der Dialog mit den Muslimen wichtig, und deshalb habe man eine Plattform für den interreligiösen Dialog gegründet.  [4]  Nicht festzustellen ist bislang, dass eine ähnliche Plattform in muslimischen Ländern eingerichtet worden wäre. Nun ist gerade zu Indonesien festzuhalten, dass im Jahr 2010 allein dort 29 christliche Gotteshäuser zerstört oder zwangsweise geschlossen worden waren. Der Druck auf religiöse Minderheiten in dem zu 80 % muslimisch geprägten Land wächst weiter an. Radikale Muslime würden ihre Übergriffe auf christliche Gottesdienste mit Slogans wie Stoppt die illegale Anbetung oder Keine Kirchen in unserer Region rechtfertigen. Die Religionsfreiheit ist dort zwar in der Verfassung verankert, werde aber nicht von den lokalen Behörden beachtet. Eigentlich müsste man erwarten können, dass unsere Repräsentanten bei derartigen Fragen die Christenverfolgung ansprechen.

Am Anfang der Auseinandersetzung stand der frühere Sprecher der Moschee in Genf, Hafid Ouardiri, der es sich angelegen sein liess, am 15. 12. 2009 in Strassburg eine Beschwerde gegen das Schweizer Minarett-Verbot einzureichen, da dieses gegen die Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot verstosse. Ouardiri und seine fünf Anwälte argumentierten zudem, die Schweiz habe mit ihrem Beitritt zur EMRK auch akzeptiert, dass der Gerichtshof in Strassburg gewisse fundamentale Werte kontrolliere, die nicht mehr in Frage gestellt werden könnten - auch nicht vom Volk. Keine schlechte Vorschriften von nicht gewählten Organen. Es hat seine Berechtigung, eine Aussage dieser Art nochmals ins Gedächtnis zu rufen, da bei der Flut täglicher Nachrichten vieles allzu schnell in Vergessenheit gerät.  [5]   

Was das Minarett in Langenthal betrifft, so hat nun das Berner Verwaltungsgericht am 3. April 2012 nach monatelangem juristischem Hin und Her sein Urteil gefällt: Das beantragte Minarett darf nicht gebaut werden. Bekanntlich hatte der Schweizer Souverän am 29. November 2009 mit klarem Volks- und Ständemehr ein generelles Minarettverbot in der Schweiz verfügt. Zu jenem Zeitpunkt lag nur ein einziges Gesuch für den Bau eines Minaretts vor, das für Langenthal, das zum Zeitpunkt der Abstimmung allerdings weder behandelt worden war, noch war ein Entscheid gefällt worden.  [6]

 
[1]  http://www.schweizerzeit.ch/cms/index.php?page=/News/DemokratieUmgehung-548 
Der aktuelle Freitags-Kommentar der «Schweizerzeit» vom 30. März 2012
[2]  http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=159   20. 9. 10 
Zur Minarettabstimmung
[3]  http://bazonline.ch/schweiz/standard/Europarat-fordert-Aufhebung-des-MinarettVerbots/story/18968889  
23. 6. 10
[4]  http://bazonline.ch/schweiz/standard/Warum-wollen-die-Schweizer-keine-Minarette/story/19763780   6. 7. 10
[5]  http://bazonline.ch/schweiz/standard/Klage-gegen-MinarettVerbot-in-Strassburg-eingereicht/story/12635995   15. 12. 09
[6]  http://www.minarette.ch/bulletins/-ausgaben-2012/kein-minarett-in-langenthal.html  5.  4. 12  Kein Minarett in Langenthal       
 
Siehe auch
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=1571   17. 7. 10  Zum Thema Islamophobie
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1611   4. 10. 10  Afghanistan - Werte und ihre Gegensätze