Libyen 04.11.2012 22:44
Ein Jahr nach der Ermordung von Staatschef Muammar Gaddafi am 20. Oktober 2011
ist Libyen
von Unregierbarkeit gekennzeichnet. »Dutzende rivalisierende Milizen und die Zerstörung
Jahrhunderte alter Bauwerke aus Fanatismus und Intoleranz«, hält Knut Mellenthin fest, »sind kaum zu übersehende
Zerfallserscheinungen.« So ist das Hauptproblem des Landes derzeit nicht etwa der Salafismus,
wie ihn auch Engdahl in seinem Artikel ›Dagestan: Syrien kommt nach Rußland‹ ausführlich
beschreibt, sondern das Unwesen der zahlreichen Milizen, deren Loyalität eher lokal,
tribal oder kriminell als durch religiösen Extremismus motiviert ist. »Und dennoch gibt es in dem
anscheinend unkontrollierbaren Chaos eine Insel der Stabilität: Die
Ölproduktion hat, nachdem sie während des Bürgerkriegs zeitweise fast komplett
eingestellt worden war, wieder ihre frühere Höhe von 1,6 Millionen Barrel pro
Tag erreicht. Wo die Einnahmen aus dem Ölexport - es sind in diesem Jahr
vermutlich mehr als 40 Milliarden $ - bleiben und wie sie verteilt werden, ist
nicht bekannt. Der libysche Staat, soweit von einem solchen überhaupt
gesprochen werden kann, gibt vor, er sei so klamm, daß er ohne US-amerikanische
Hilfsgelder nicht einmal die Gehälter seiner Angestellten regelmäßig bezahlen
kann.« [1] Letzteres lässt vermuten, dass die
europäischen Empfänger des libyschen Öls demnächst wieder in Form von
Entwicklungshilfe für das Land zur Kasse gebeten werden.
Was nun die Vorgänge um die Ermordung des US-Botschafters
Christopher Stevens, der, wie Engdahl darlegt, eine Schlüsselrolle beim Sturz von Gaddafi und bei
der Ermöglichung der Übernahme der Macht durch die Salafisten in Libyen
spielte, und dreier weiterer
Mitarbeiter angeht, so ist einer Veröffentlichung der stets gut informierten ›Bürgerrechtsbewegung
Solidarität‹ folgendes
zu entnehmen: Am 23. 10. hatte die Nachrichtenagentur Reuters drei e-mails
veröffentlicht, welche die US-Botschaft in Tripolis während des Angriffs an die
zuständigen Behörden in der USA verschickt hatte, u.a. an den Kontrollraum im
Weißen Haus, den Geheimdienstkoordinator, den CIA-Chef, an das FBI und das
Außenministerium. Aus diesen ging offenbar deutlich hervor, daß es sich um
einen sorgfältig geplanten Angriff mit schweren Waffen handelte. Von
Demonstrationen vor dem Konsulat, wie von der Regierung dauernd öffentlich
behauptet worden war, war nirgends die Rede. Im dritten e-mail wurde überdies
namentlich erwähnt, daß die Gruppe ›Ansar Al-Scharia‹ die Verantwortung für
den Angriff übernommen hatte und zu einem ähnlichen Sturm auf die US-Botschaft
in der Hauptstadt Tripolis aufrief. Dann kam heraus, daß sich Sondereinsatztruppen
bereit gemacht hatten, um in Bengasi einzugreifen, aber aus Washington kein
grünes Licht erhalten hatten. Nach Angaben von Oberstleutnant a.D. Anthony
Shaffer verfolgten Spitzenvertreter der Regierung - auch Präsident Obama - die Ereignisse in Bengasi mit Hilfe von Überwachungsdrohnen in
Echtzeit mit. Trotzdem erhielten Sondereinheiten des US-Afrika-Kommandos und
der CIA in Bengasi den Befehl abzuwarten, als sie um die Genehmigung für
Luftunterstützung gegen Mörserstellungen vor dem Konsulat baten. Fox TV und
andere konservative Medien brachten sogar die Meldung, Africom-Chef General Carter
F. Ham sei vorübergehend seines Kommandos enthoben worden, als er entgegen dem
Befehl von oben C-130-Kampfhubschrauber einsetzen wollte. Präsident Obama hielt
sich laut öffentlichen Mitteilungen am 11. September im Weißen Haus auf, als
die e-mails eingingen und traf wenig später mit Verteidigungsminister Leon Panetta
und Vizepräsident Joe Biden zusammen. Offenbar berief Obama weder den
Nationalen Sicherheitsrat ein, noch traf er andere Maßnahmen, die in einer
solchen Lage üblich gewesen wären. Berichten zufolge herrscht nun im Weißen
Haus und im Sicherheitskabinett Panik, weil immer neue Details an den Kongreß
und die Medien durchsickern, die den Präsidenten direkt treffen. Die große
Frage ist, ob Außenministerin Hillary Clinton offen darlegt, was wirklich vor
sich ging. Diese habe, so berichtete der Autor Ed Klein [Verfasser der Obama-Biographie
›The Amateur‹] in der Sendung ›The Blaze TV‹
vom 26. 10. die mehrfachen Forderungen nach verstärken Sicherheitsmassnahmen
aus Bengasi unterstützt. Wie Anhörungen im Kongreß zeigten, passierte dies
genau nicht und damit wurden die tragischen Ereignisse des 11. Septembers 2012
erst möglich. Das kommt einem völligen Fehlschlag der Nahostpolitik des
Präsidenten gleich und wirft ein Schlaglicht auf die gefährliche globale
Eskalationsdynamik, die Obamas Politik der Regimewechsel seit dem Sturz und der
Ermordung Gaddafis entgegen dem Rat hochrangiger US-Militärs in Gang gesetzt
hat. [2] Wie es heisst, haben die CIA und das
Militär ihre während des Bürgerkriegs begonnenen Drohnenflüge über Libyen
wieder aufgenommen. Die ›Washington
Post‹ hatte am 26. 10. gemeldet, daß
CIA-Chef David Petraeus das Weiße Haus dazu dränge, dem Geheimdienst 10
zusätzliche Drohnen zu bewilligen, die in Libyen und anderen Ländern
Nordwestafrikas stationiert werden sollen.
Wie ›Strategic Alert‹ zu Gaddafis Tod festhielt, ist die Art und Weise, wie westliche
Führer über die blutige Hinrichtung eines Staatschefs jubelten, den sie
jahrelang hofiert hatten, ein erschreckender Beweis für den Zusammenbruch des Völkerrechts
und den Vormarsch eines neuen finsteren Zeitalters, vor dem wir schon seit
Jahren gewarnt haben. Auch wenn das Gegenteil behauptet wird, ist klar, daß die
Hinrichtung Muammar Gaddafis nach seiner Verhaftung ganz den Absichten der Regierungen
von Frankreich, Großbritannien und der Vereinigten Staaten entsprach und von
der NATO unterstützt wurde. Sein Konvoi wurde von einer amerikanischen Predator-Rakete
und einem französischen Kampfflugzeug angegriffen. Diese Spektakel offener
Gesetzlosigkeit ist ein Kennzeichen der Politik inmitten des schlimmsten
finanziellen Zusammenbruchs der Geschichte. Die Absicht ist, Individuen und
Nationen zu terrorisieren, um sie einzuschüchtern und so diktatorische
Maßnahmen zur Rettung eines Finanz- und Machtsystems, das nicht zu retten ist,
durchzusetzen. Was wir in jener Schreckensvorstellung in Libyen gesehen haben,
ist nur ein Beispiel dessen, was uns in vielen Teilen der Welt erwartet,
einschließlich hier auf dem Territorium der USA selbst. Senator John Kerry
bezeichnete die Ermordung Gaddafis sogar als einen ›Sieg des Multilateralismus und des erfolgreichen Aufbaus von
Koalitionen‹, während der frühere
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld aus der berüchtigten Regierung
Bush-Cheney Obamas Warnung unterstrich, daß auch andere Staatschefs im Nahen
Osten aufpassen sollten: ›Al-Assad
und Ahmadinedschad sollten die Nachrichten von heute morgen über Gaddafi genau
beachten. Man könnte beschließen, daß sie die nächsten sein sollten.‹
[3] Wie die satirische
französische Wochenzeitung ›Le Canard
Enchâiné‹ in ihrer Ausgabe vom 26.
10. letzten Jahres berichtete, wollten Obama und Sarkozy Gaddafi nicht lebend gefangennehmen,
da sie fürchteten, dass dieser während seines Prozesses am Internationalen
Strafgerichthof zuviel reden könnte. Am späten Nachmittag des 19. 10. 2011 telefonierte
ein Oberst des Pentagons mit einem seiner Verhandlungspartner bei den
französischen Geheimdiensten und erklärte: Wenn man den Kerl am Leben liesse,
würde aus ihm eine ›wahre Atombombe‹. Damit war Gaddafis Schicksal
besiegelt.
[1] http://www.jungewelt.de/2012/10-20/054.php Zerfallender
Staat Libyen ein Jahr nach dem Lynchmord an Ghaddafi - Von Knut Mellenthin [2] http://www.bueso.de/node/6119 30. 10. 12 USA: Politischer Wirbelsturm über Benghazi-Gate gewinnt an Stärke [3] Strategic Alert, Jahrgang 25, Nr.
43 vom 29. Oktober 2011 Obamas Marsch in
den Totalitarismus
|