Libyen

Ein Jahr nach der Ermordung von Staatschef Muammar Gaddafi am 20. Oktober 2011

ist Libyen von Unregierbarkeit gekennzeichnet. »Dutzende rivalisierende Milizen und die Zerstörung Jahrhunderte alter Bauwerke aus Fanatismus und Intoleranz«, hält Knut Mellenthin fest, »sind kaum zu übersehende Zerfallserscheinungen.« So ist das Hauptproblem des Landes derzeit nicht etwa der Salafismus, wie ihn auch Engdahl in seinem Artikel Dagestan: Syrien kommt nach Rußland ausführlich beschreibt, sondern das Unwesen der zahlreichen Milizen, deren Loyalität eher lokal, tribal oder kriminell als durch religiösen Extremismus motiviert ist. »Und dennoch gibt es in dem anscheinend unkontrollierbaren Chaos eine Insel der Stabilität: Die Ölproduktion hat, nachdem sie während des Bürgerkriegs zeitweise fast komplett eingestellt worden war, wieder ihre frühere Höhe von 1,6 Millionen Barrel pro Tag erreicht. Wo die Einnahmen aus dem Ölexport - es sind in diesem Jahr vermutlich mehr als 40 Milliarden $ - bleiben und wie sie verteilt werden, ist nicht bekannt. Der libysche Staat, soweit von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann, gibt vor, er sei so klamm, daß er ohne US-amerikanische Hilfsgelder nicht einmal die Gehälter seiner Angestellten regelmäßig bezahlen kann.«  [1]  Letzteres lässt vermuten, dass die europäischen Empfänger des libyschen Öls demnächst wieder in Form von Entwicklungshilfe für das Land zur Kasse gebeten werden.

Was nun die Vorgänge um die Ermordung des US-Botschafters Christopher Stevens, der, wie Engdahl darlegt, eine Schlüsselrolle beim Sturz von Gaddafi und bei der Ermöglichung der Übernahme der Macht durch die Salafisten in Libyen spielte, und dreier weiterer Mitarbeiter angeht, so ist einer Veröffentlichung der stets gut informierten Bürgerrechtsbewegung Solidarität  folgendes zu entnehmen: Am 23. 10. hatte die Nachrichtenagentur Reuters drei e-mails veröffentlicht, welche die US-Botschaft in Tripolis während des Angriffs an die zuständigen Behörden in der USA verschickt hatte, u.a. an den Kontrollraum im Weißen Haus, den Geheimdienstkoordinator, den CIA-Chef, an das FBI und das Außenministerium. Aus diesen ging offenbar deutlich hervor, daß es sich um einen sorgfältig geplanten Angriff mit schweren Waffen handelte. Von Demonstrationen vor dem Konsulat, wie von der Regierung dauernd öffentlich behauptet worden war, war nirgends die Rede. Im dritten e-mail wurde überdies namentlich erwähnt, daß die Gruppe Ansar Al-Scharia die Verantwortung für den Angriff übernommen hatte und zu einem ähnlichen Sturm auf die US-Botschaft in der Hauptstadt Tripolis aufrief. Dann kam heraus, daß sich Sondereinsatztruppen bereit gemacht hatten, um in Bengasi einzugreifen, aber aus Washington kein grünes Licht erhalten hatten. Nach Angaben von Oberstleutnant a.D. Anthony Shaffer verfolgten Spitzenvertreter der Regierung  - auch Präsident Obama -  die Ereignisse in  Bengasi mit Hilfe von Überwachungsdrohnen in Echtzeit mit. Trotzdem erhielten Sondereinheiten des US-Afrika-Kommandos und der CIA in Bengasi den Befehl abzuwarten, als sie um die Genehmigung für Luftunterstützung gegen Mörserstellungen vor dem Konsulat baten. Fox TV und andere konservative Medien brachten sogar die Meldung, Africom-Chef General Carter F. Ham sei vorübergehend seines Kommandos enthoben worden, als er entgegen dem Befehl von oben C-130-Kampfhubschrauber einsetzen wollte. Präsident Obama hielt sich laut öffentlichen Mitteilungen am 11. September im Weißen Haus auf, als die e-mails eingingen und traf wenig später mit Verteidigungsminister Leon Panetta und Vizepräsident Joe Biden zusammen. Offenbar berief Obama weder den Nationalen Sicherheitsrat ein, noch traf er andere Maßnahmen, die in einer solchen Lage üblich gewesen wären. Berichten zufolge herrscht nun im Weißen Haus und im Sicherheitskabinett Panik, weil immer neue Details an den Kongreß und die Medien durchsickern, die den Präsidenten direkt treffen. Die große Frage ist, ob Außenministerin Hillary Clinton offen darlegt, was wirklich vor sich ging. Diese habe, so berichtete der Autor Ed Klein [Verfasser der Obama-Biographie The Amateur] in der Sendung The Blaze TV vom 26. 10. die mehrfachen Forderungen nach verstärken Sicherheitsmassnahmen aus Bengasi unterstützt. Wie Anhörungen im Kongreß zeigten, passierte dies genau nicht und damit wurden die tragischen Ereignisse des 11. Septembers 2012 erst möglich. Das kommt einem völligen Fehlschlag der Nahostpolitik des Präsidenten gleich und wirft ein Schlaglicht auf die gefährliche globale Eskalationsdynamik, die Obamas Politik der Regimewechsel seit dem Sturz und der Ermordung Gaddafis entgegen dem Rat hochrangiger US-Militärs in Gang gesetzt hat.  [2]  Wie es heisst, haben die CIA und das Militär ihre während des Bürgerkriegs begonnenen Drohnenflüge über Libyen wieder aufgenommen. Die Washington Post hatte am 26. 10. gemeldet, daß CIA-Chef David Petraeus das Weiße Haus dazu dränge, dem Geheimdienst 10 zusätzliche Drohnen zu bewilligen, die in Libyen und anderen Ländern Nordwestafrikas stationiert werden sollen. 

Wie Strategic Alert zu Gaddafis Tod festhielt, ist die Art und Weise, wie westliche Führer über die blutige Hinrichtung eines Staatschefs jubelten, den sie jahrelang hofiert hatten, ein erschreckender Beweis für den Zusammenbruch des Völkerrechts und den Vormarsch eines neuen finsteren Zeitalters, vor dem wir schon seit Jahren gewarnt haben. Auch wenn das Gegenteil behauptet wird, ist klar, daß die Hinrichtung Muammar Gaddafis nach seiner Verhaftung ganz den Absichten der Regierungen von Frankreich, Großbritannien und der Vereinigten Staaten entsprach und von der NATO unterstützt wurde. Sein Konvoi wurde von einer amerikanischen Predator-Rakete und einem französischen Kampfflugzeug angegriffen. Diese Spektakel offener Gesetzlosigkeit ist ein Kennzeichen der Politik inmitten des schlimmsten finanziellen Zusammenbruchs der Geschichte. Die Absicht ist, Individuen und Nationen zu terrorisieren, um sie einzuschüchtern und so diktatorische Maßnahmen zur Rettung eines Finanz- und Machtsystems, das nicht zu retten ist, durchzusetzen. Was wir in jener Schreckensvorstellung in Libyen gesehen haben, ist nur ein Beispiel dessen, was uns in vielen Teilen der Welt erwartet, einschließlich hier auf dem Territorium der USA selbst. Senator John Kerry bezeichnete die Ermordung Gaddafis sogar als einen Sieg des Multilateralismus und des erfolgreichen Aufbaus von Koalitionen, während der frühere Verteidigungsminister Donald Rumsfeld aus der berüchtigten Regierung Bush-Cheney Obamas Warnung unterstrich, daß auch andere Staatschefs im Nahen Osten aufpassen sollten: Al-Assad und Ahmadinedschad sollten die Nachrichten von heute morgen über Gaddafi genau beachten. Man könnte beschließen, daß sie die nächsten sein sollten.  [3]  Wie die satirische französische Wochenzeitung Le Canard Enchâiné in ihrer Ausgabe vom 26. 10. letzten Jahres berichtete, wollten Obama und Sarkozy Gaddafi nicht lebend gefangennehmen, da sie fürchteten, dass dieser während seines Prozesses am Internationalen Strafgerichthof zuviel reden könnte. Am späten Nachmittag des 19. 10. 2011 telefonierte ein Oberst des Pentagons mit einem seiner Verhandlungspartner bei den französischen Geheimdiensten und erklärte: Wenn man den Kerl am Leben liesse, würde aus ihm eine wahre Atombombe. Damit war Gaddafis Schicksal besiegelt.   

 

[1]  http://www.jungewelt.de/2012/10-20/054.php
Zerfallender Staat Libyen ein Jahr nach dem Lynchmord an Ghaddafi - Von Knut Mellenthin 
[2]  http://www.bueso.de/node/6119   30. 10. 12  USA: Politischer Wirbelsturm über Benghazi-Gate gewinnt an Stärke  
[3] 
Strategic Alert, Jahrgang 25, Nr. 43 vom 29. Oktober 2011  Obamas Marsch in den Totalitarismus