Arabiens Muslimbrüder

d.a. In Anbetracht der Vormachtstellung der Muslimbruderschaft in Ägypten, Tunesien und der Türkei

sowie des vorgesehenen Rückzugs der US-Truppen aus Afghanistan in den nächsten beiden Jahren kommt der Arbeit der US-Geheimdienste in der islamischen Welt laut einem US-Experten besondere Priorität zu. Die Drohnenmorde, heisst es, machten jedoch eine angemessene Arbeit von US-Agenten und Diplomaten unmöglich. Der eigentliche Grund, der zum Rücktritt von General Petraeus führte, sei die Furcht gewesen, dass dieser die CIA noch mehr militarisieren würde. US-Geheimdienstquellen zufolge seien Spitzenleute der CIA wegen der Politik der gezielten Tötungen durch Drohnen über Petraeus und Obama äusserst verärgert gewesen, weil diese die CIA zum Handlanger der Pentagon-Sondereinheiten und der wöchentlichen Drohnenkiller Sitzungen des Präsidenten herabwürdigte.  [1]

Der Hintergrund: Ein islamisches Reich 
Die Türkei, Katar und Saudi-Arabien, so ein Bericht der jungen Welt, sind in den Ländern des Arabischen Frühlings bisher als Sieger hervorgegangen. Mit Hilfe des Westens haben sie die Muslimbruderschaft an die Macht gebracht und dieser als Unterstützer und Bedrohung zugleich die Salafisten an die Seite gestellt. Säkulare, liberale und sozialistische Kräfte haben Mühe, von dem islamistischen Tsunami nicht weggespült zu werden. Jahrelang hatte der Westen, in braver Gefolgschaft Israels, vor einem schiitischen Halbmond in der Region gewarnt. Darauf basiert die aggressive Politik gegenüber dem Iran. Eine Politik, die Hunderttausenden das Leben kostete. Die Hisbollah im Libanon, Damaskus, Bagdad und Teheran stellten die Sicherheit Israels in Frage, so der obzessive Grundgedanke westlicher Politik. Klarer formulieren es die reaktionären Königshäuser am Golf und die AKP-Regierung in der Türkei, die den Iran und seine Verbündeten als Widersacher im Wettstreit um die sunnitische Vormachtstellung in der Region bekämpfen. Heute sehen sich die Warner im Westen und Israel nicht nur mit einem schiitischen Halbmond konfrontiert, vor ihnen sind gleich zwei sunnitische Mondhälften aufgestiegen. Die eine erstreckt sich von Doha, Riad, über Kairo bis nach Tunis und Rabat, die andere reicht von den Golfmonarchien über Kairo, Gaza, Amman, Damaskus bis nach Istanbul. Die Selbstermächtigung Mursis und sein Schulterzucken gegenüber den Demonstranten machen deutlich, dass es nach den emanzipatorischen Aufständen im vergangenen Jahr nicht um Demokratie und Menschenrechte, nicht um wirtschaftliche Teilhabe und nicht um die Gleichberechtigung für Frauen und Männer geht. Es geht um die Wiedererrichtung eines Islamischen Reichs unter der Führung der Muslimbruderschaften. Vielleicht mehr, auf keinen Fall weniger.  [2]  

In Tunesien ist der Chef der tunesischen Regierungspartei Ennahda, Rachid al-Ghannouchi, darum bemüht, nach aussen hin eine moderate Form des Islams zu vertreten. Indessen sehen Kritiker in ihm einen Islamisten, der sich zur Stimmenmaximierung gemässigter gab, als er es tatsächlich ist. So hatte er nach dem Sturz von Zine al-Abidine Ben Ali bekräftigt, die Demokratie zu unterstützen und auf die Einführung der Scharia zu verzichten. Einem Bericht der Welt zufolge rät al-Ghannouchi indessen den Salafisten, weitsichtig und geduldig vorzugehen, um die Gewinne, die man gegenüber den säkulären Kräften zu verzeichnen habe, zu konsolidieren und nicht wieder zu verspielen. »Schafft Fernsehkanäle, Radiostationen, Schulen und Universitäten«, so al-Ghannouchi. Das Volk brauche die Religion, es werde früher oder später den Salafisten zulaufen. Zudem sei es seiner Meinung nach nicht ausgeschlossen, dass säkulare Kräfte in absehbarer Zeit wieder erstarken könnten. Al-Ghannouchi ist übrigens führendes Mitglied im Europäischen Rat für Fatwa und Forschung (ECFR) mit Sitz in Dublin, einer den ägyptischen Muslimbrüdern zugerechneten Organisation, die sich um die Anwendung islamischer Normen auf europäische Verhältnisse bemüht. Der Rat wird von dem bekannten Islamisten Yusuf al-Qaradawi geleitet, der in seinem Werk Erlaubtes und Verbotenes im Islam die Todesstrafe für die Abkehr vom Islam befürwortet, ebenso die häusliche Gewalt gegen Ehefrauen, wobei der Mann das Gesicht und andere empfindliche Stellen zu meiden hat. Jahrelang wurde dieses von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) als offizielles Unterrichtsmaterial in österreichischen Schulen benutzt, ehe das Ministerium reagierte und der ehemalige IGGiÖ-Präsident Anas Schakfeh das Buch zurückzog. Al-Ghannouchi selbst wird ebenfalls ein religiöses Gutachten (Fatwa) mit bedenklichem Inhalt zugeschrieben. Es soll Muslimen erlaubt sein, alle israelischen Zivilisten zu töten, weil es, so seine Rechtfertigung, in Israel gar keine Zivilisten gebe: die Bevölkerung sei die Reserve der Armee und daher als solche zu töten.  [3] 

Was die Unterstützung des fundamentalistischen Islams durch die USA seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute betrifft, so hat Robert Dreyfuss in seinem Buch Devil’s Gameeine erste vollständige Untersuchung dieses geheimen Bereichs der amerikanischen Aussenpolitik dargelegt. Dreyfuss' umfangreiche Untersuchung legt die Grundlagen für ein wirkliches Verständnis des imperialen Zugriffs, zuerst des British Empire und dann der USA, auf die Geschicke des Nahen und Mittleren Ostens. Wie die USA den islamischen Fundamentalismus während des Kalten Kriegs im sowjetischen Einflussbereich (Mittelasien, Afghanistan) instrumentalisierte, hat Dreyfuss sorgfältig recherchiert: Mit dem Tod Nassers und dem Rückzug des arabischen Nationalismus wurden die Islamisten in den 1970er Jahren zu einer wichtigen Stütze unter den vielen an die Vereinigten Staaten gebundenen Regimes. Die USA sah sich im Verbund mit der islamischen Rechten in Ägypten, wo sich Anwar Sadat die Islamisten des Landes zunutze machte, um eine anti-nasserische politische Basis aufzubauen; in Pakistan, wo General Zia ul-Haq mit Gewalt die Macht ergriff und einen islamistischen Staat errichtete; im Sudan, wo der Führer der Muslimbruderschaft, Hassan Turabi, in Richtung Macht marschierte. Gleichzeitig begannen die Vereinigten Staaten, den islamischen Fundamentalismus als Werkzeug zu sehen, das man offensiv gegen die Sowjetunion einsetzen konnte, in erster Linie in Afghanistan und Zentralasien, wo die USA ihn als Schwert gegen den  weichen Unterbauch der Sowjetunion nutzte. Und als sich die Revolution im Iran entwickelte, führte eine latente Sympathie für den Islamismus, die mit der weitverbreiteten Ignoranz der USA gegenüber den islamistischen Strömungen im Iran verbunden war, viele US-Beamte dazu, Ayatollah Khomeini als harmlose Gestalt zu sehen und ihn für seine Zeugnisse als Antikommunist zu bewundern. Infolgedessen unterschätzten die Vereinigten Staaten das Potential seiner Bewegung im Iran in katastrophaler Weise. Selbst nach der iranischen Revolution von 1979 versäumten es die USA und ihre Alliierten, zu begreifen, dass der Islamismus eine gefährliche unkontrollierbare Kraft war. Die Vereinigten Staaten gaben Milliarden an Dollars für die Unterstützung des islamistischen Dschihads in Afghanistan aus, dessen Mudschaheddin von Gruppierungen geführt wurden, die mit der Muslimbruderschaft verbunden waren. Die USA schaute auch unkritisch zu, als Israel und Jordanien bei einem Bürgerkrieg in Syrien im geheimen Terroristen der Muslimbruderschaft halfen; dies ebenso, als Israel die Verbreitung des Islamismus unter den Palästinensern in den besetzten Gebieten bestärkte und bei der Gründung der Hamas behilflich war. In den 1980er Jahren schlossen sich dann Neokonservative den geheimen Abmachungen, die der CIA-Agent Bill Casey mit Ayatollah Khomeini im Iran traf, an. Mit den 1990er Jahren war der Kalte Krieg vorbei. Der politische Nutzen der islamischen Rechten schien nun fragwürdig. Einige Strategen argumentierten, dass der politische Islam eine neue Bedrohung darstelle, wobei der neue «Ismus» an die Stelle des Kommunismus als globaler Gegner Amerikas trat. Das allerdings bauschte die Macht einer Bewegung, die auf arme, nicht entwickelte Staaten beschränkt war, masslos auf. Dennoch war der politische Islam von Marokko bis Indonesien eine Kraft, mit der die Vereinigten Staaten sich auseinandersetzen mussten. Washingtons Reaktion war verworren und konfus. Während der 1990er Jahre war die USA in einer Reihe von Krisen mit dem politischen Islam konfrontiert: In Algerien sympathisierten die Vereinigten Staaten mit den aufsteigenden Kräften des politischen Islams nur deshalb, um das Durchgreifen der algerischen Armee gegen sie zu unterstützen; danach unterhielt Washington mit den algerischen Islamisten, die sich zunehmend dem Terrorismus zuwandten, weiterhin einen Dialog. In Ägypten stellten die Muslimbruderschaft und ihre Ableger samt einer gewalttätigen Untergrundbewegung eine fatale Bedrohung für das Regime von Präsident Mubarak dar; trotzdem spielten die Vereinigten Staaten mit der Unterstützung der Muslimbrüder. Noch während Usama bin Ladens al-Kaida Form annahm, fand sich die USA im Bunde mit der islamischen Rechten von Pakistan, Saudi-Arabien und dem Persischen Golf. Und dann kam 9/11.  [4]

Überall in der arabischen Welt, schreibt Alain Gresh in seinem Artikel 
Die Golfstaaten und die Muslimbrüder - Ende einer Freundschaft 
sind die islamistischen Parteien auf dem Vormarsch, allen voran die Muslimbrüder. Ihr Aufstieg geht auf die 1970er Jahre zurück. In Ägypten ist es ihnen gelungen, die Armee weitgehend zu entmachten, aber sie haben mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen und dabei einen politisch aktiven Teil der Gesellschaft gegen sich. In Marokko dagegen üben sie die Macht unter der Kontrolle des Königs aus. In Tunesien hat die führende Partei der Regierungskoalition, Ennahda, die größte Gewerkschaft des Landes zum Gegner. In den Monarchien am Golf, zumal in Saudi-Arabien, geht man zunehmend auf Abstand zur Bruderschaft.

Die Muslimbrüder? Eine kleine Gruppe, die vom rechten Weg abgekommen ist. Die Revolution in Ägypten? Wäre ohne iranische Schützenhilfe niemals möglich gewesen und wird zu einem neuen Sykes-Picot-Abkommen führen. Die Wahl von Mohammed Mursi zum ägyptischen Präsidenten?  Eine schlechte Wahl. Diese Urteile stammen vom Polizeichef des Emirats Dubai, General Dahi Khalfan Tamim. Wie viele arabische Staatsbeamte setzt Tamim regelmäßig Twitter-Meldungen ab: »Sollten die Muslimbrüder die Sicherheit am Golf bedrohen, werden Ströme von Blut sie hinwegspülen.« Den ganzen Sommer 2012 über hat der erste Bulle von Dubai die Bruderschaft aufs Korn genommen. Er bezeichnete sie als sündige Organisation, deren Ende nahe ist, und forderte das Einfrieren ihrer Bankguthaben. Es blieb nicht bei den Verbalattacken: In den Vereinigten Arabischen Emiraten, zu denen Dubai gehört, wurden etwa 60 Muslimbrüder unter der Anklage einer angeblichen Verschwörung gegen die Regierung vor Gericht gestellt. Die Zeitung Asharq al-Awsat gehört der Familie des saudischen Prinzen Salman. Das panarabische Blatt genießt im Westen hohes Ansehen, doch in Fragen der arabischen Politik tendiert seine Unabhängigkeit gegen null. Bereits einen Tag nach der Vereidigung von Präsident Mursi, am 30. Juni, tat Chefredakteur Abdulrahman al-Raschid seine Zweifel kund - oder vielmehr die des saudischen Königshauses: Wird der neue ägyptische Präsident wirklich den Terrorismus bekämpfen und sich al-Qaida entgegenstellen? Wird er die syrische Opposition unterstützen, obwohl er sich gleichzeitig gegen eine Militärintervention des Auslands ausspricht? Wird er den jordanischen König Abdullah II. gegen die Ansprüche des jordanischen Zweigs der Muslimbruderschaft unterstützen? Raschids größte Sorge lautet: »Wird der neue ägyptische Präsident die diplomatischen Beziehungen zum Iran – lange ein zuverlässiger Verbündeter der Muslimbrüder – wieder aufnehmen? Die Hilfe der iranischen Regierung für lokale Gruppierungen in Ägypten zeigt doch, daß sie dort den Schiismus verbreiten will. Das könnte zu einem konfessionellen Konflikt in Ägypten führen.« Ein paar Wochen später wetterte der Chefredakteur gegen den ägyptischen Vorschlag, in eine Vierergruppe zur Lösung der Syrienkrise neben der Türkei und Saudi-Arabien auch den Iran einzuladen. Ganz auf dieser Linie boykottierte dann das saudische Außenministerium das Kairoer Treffen dieser Gruppe im September. Der in der saudischen Presse wie in anderen Medien der Golfregion geäußerte Argwohn wird im Westen kaum wahrgenommen. Das mag daran liegen, daß  solche Äußerungen der in Europa und den USA verbreiteten Sichtweise, wonach die Emire vom Golf zusammen mit islamistischen Gruppen eine große sunnitische Allianz bilden, mit dem angeblichen Ziel, eine streng religiöse Ordnung durchzusetzen und die Scharia einzuführen, widersprechen. Dabei wird jedoch übersehen, daß sich die Gemeinsamkeiten häufig auf eine konservative Auslegung des Islams beschränken. Das heißt aber nicht, daß sich divergierende politische Interessen, diplomatische Rivalitäten, nationalen Unterschiede und gegensätzlichen Strategien deshalb in Luft auflösen. Mehrere historische Entwicklungen – weniger auf religiöser als auf politischer Ebene – haben zu der irrigen Vorstellung einer Allianz zwischen Islamisten und den Regierungen der Golfregion beigetragen. In den 1950er und 1960er Jahren ließen sich viele Kader der Muslimbrüder, die in Syrien, Ägypten, Algerien oder im Irak verfolgt wurden, in den Golfstaaten und insbesondere in Saudi-Arabien nieder. Es gab aber kein formales Bündnis, erläutert ein der Bruderschaft nahestehender ägyptischer Intellektueller: »Damals war die Organisation so gut wie zerschlagen und hatte keine geregelte Führung. Dennoch waren die Aktivisten, die zu Tausenden nach Saudi-Arabien strömten, äußerst nützliche Verbündete im Kampf gegen den arabischen Nationalismus, insbesondere gegen Nasser und gegen die Linke.« 

Ist der Arabische Frühling also so etwas wie die dritte Phase dieser Allianz der Gläubigen? Diese These klingt plausibel, verschleiert jedoch die sehr viel komplexeren Realitäten, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet haben. So kam es Anfang der 1990er Jahre im Gefolge der irakischen Invasion in Kuwait zum Bruch zwischen der Muslimbruderschaft und dem saudischen Königshaus. Der damalige mächtige Innenminister Prinz Naif Bin Abd al-Aziz klagte 2002 gegenüber der kuwaitischen Tageszeitung al-Sijasa: »Die Muslimbrüder sind die Ursache für einen Großteil der Probleme in der arabischen Welt, und sie haben Saudi-Arabien schwer geschadet. Wir haben diese Gruppe schon viel zu sehr unterstützt. Dabei haben sie die arabische Welt zerstört.« Während des ersten Irakkriegs 1990/1991, berichtete der Prinz, hatte er eine vom jetzigen Chef der tunesischen Ennahda-Partei, Rachid al-Ghannouchi, dem Sudanesen Hassan al-Turabi, dem Jemeniten Abdul Majid al-Zindani und dem späteren türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan angeführte Delegation der Bruderschaft empfangen. »Wir fragten sie: Billigt ihr die Invasion in Kuwait? Sie seien gekommen, um unseren Standpunkt zu hören, lautete ihre Antwort. Danach fuhren sie in den Irak und veröffentlichten zu unserer großen Überraschung eine Deklaration zur Unterstützung der irakischen Besetzung von Kuwait.« Der Prinz vermied es freilich, den anderen Grund für seinen Ärger zu nennen, der auch von anderen Regierungen der Golfstaaten geteilt wurde: Die Muslimbrüder waren dort mittlerweile gesellschaftlich tief verwurzelt und beteiligten sich seit dem ersten Irakkrieg an Protesten, die vor allem die saudische Monarchie bis ins Mark trafen. Denn die politische Vision der Bruderschaft – ein islamischer, aber dennoch durch Wahlen legitimierter Staat – weicht stark von der Staatsräson der Saudis ab, die auf der unerschütterlichen Treue zur Königsfamilie basiert. Die saudische Monarchie zog es daher vor, diverse salafistische Strömungen zu unterstützen, die sich nicht politisch betätigen und die jeweils herrschenden Regimes unterstützen, ob in Saudi-Arabien oder im Ägypten von Präsident Mubarak. Die Kluft zwischen der Bruderschaft und dem Regime in Riad hat sich seit der Jahrtausendwende sogar noch vertieft. Der Hauptgrund dafür ist der Schulterschluß der Hamas, des palästinensischen Ablegers der Bruderschaft, mit dem Iran, Syrien und der libanesischen Hisbollah im Kampf gegen Israel und die USA.  

Wachsende Rivalität zwischen Kairo und Riad 
Durch die arabischen Revolutionen wurden die Karten neu verteilt. Der Erfolg der Bruderschaft in Ägypten und in Tunesien ist für Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate eine sehr negative Entwicklung. Die wahhabitischen Herrscher in Riad unterhielten stets exzellente Beziehungen zum Mubarak-Regime, und dem gestürzten tunesischen Präsidenten Ben Ali gewährten sie Asyl. Der Bruderschaft verübeln sie den Sturz dieser beiden Staatschefs und der USA verübeln sie, daß sie sie fallen ließ. Die saudische Monarchie hat sich nachgerade zum Zentrum der Konterrevolution entwickelt und die Revolte in Bahrain im Mai 2011 blutig niederschlagen lassen. Riad unterstützt auch König Abdullah II. gegen die Proteste in Jordanien, an denen sich die jordanischen Muslimbrüder aktiv beteiligen. Dennoch führten die ersten Auslandsreisen den neuen ägyptischen Präsidenten, Mohammed Mursi, und den neuen tunesischen Premier, Hamadi Jebali von der Ennahda-Partei, nach Riad. Dies geschah allerdings nicht etwa auf Grund irgendeiner islamistischen Solidarität, sondern aus rein realpolitischem Kalkül. Ägypten ist dringend auf das  saudische Geld angewiesen. 1,5 Milliarden US-$ sind bereits geflossen, und Riad hat weitere 2,5 Milliarden versprochen. Außerdem arbeiten mehr als 1,5 Millionen Ägypter im Königreich, deren Rücküberweisungen an ihre Familien einen wichtigen Beitrag zur ägyptischen Zahlungsbilanz leisten. Umgekehrt kann es sich Saudi-Arabien trotz aller Voreingenommenheit gegen die Muslimbrüder nicht leisten, die Beziehungen zum wichtigsten Land im Nahen Osten zu kappen. »Der Besuch Mursis hat nicht alle Probleme lösen können«, so drückt es ein ägyptischer Diplomat  vorsichtig aus. Viele Streitfragen sind ungelöst, sei es der Umgang der saudischen Behörden mit den ägyptischen Immigranten, sei es der Umgang ägyptischer Behörden mit saudischen Investitionen im Land.  

Der tunesische Ennahda-Chef Rachid al-Ghannouchi hat lange Zeit im Exil in London gelebt, das er dem saudischen Königreich vorzog. Während seiner USA-Reise im Dezember 2011 erklärte er, der Arabische Frühling werde die Emire vom Golf hinwegfegen. Auf diese Prophezeiung reagierte die saudische Zeitung al-Riyad mit dem ironischen Kommentar, ob das wohl auch für den Emir von Katar gelte, der ein wichtiger Förderer der Ennahda ist. Die Beziehungen der Bruderschaft zu Katar, ebenso wie Saudi-Arabien ein Hort des Wahhabismus, also einer sehr konservativen Islamauslegung, sind in der Tat eng. Das Emirat hat weder eine ausreichend große Armee noch genügend Diplomaten oder Agenten, um in der Region eine aktive Rolle zu spielen. Sein einziger Trumpf sind seine unerschöpflichen Dollarreserven. In der Muslimbruderschaft sieht das Emirat ein geeignetes Instrument für die Durchsetzung seiner eigenen Politik. Es hat nicht zuletzt auch vom Ansehen des ägyptischen Rechtsgelehrten Jusuf al-Qaradawi profitiert, der seit den 1970er Jahren in Katar lebt und durch seine Sendung Die Scharia und das Leben auf dem katarischen Sender al-Dschasira zum populärsten Prediger der Region aufgestiegen ist. Al-Qaradawi gilt auch in der Bruderschaft, der er früher selbst zugehörte, als religiöse Instanz. Allerdings hat er sich seine Unabhängigkeit bewahrt und die ägyptischen Muslimbrüder mehrfach wegen ihres Sektierertums kritisiert. Nachdem Katar lange Zeit mit der Hisbollah, Syrien und dem Iran geflirtet hat – ohne freilich seine guten Beziehungen zu der USA zu gefährden –  setzt es seit Beginn des Arabischen Frühlings auf den Sieg der Muslimbrüder. Das ist übrigens der Grund, warum al-Dschasira viel von seiner Reputation eingebüßt und auch einige seiner besten Journalisten verloren hat. Insbesondere in Ägypten, aber teilweise auch in Tunesien, ist al-Dschasira quasi zum Sprachrohr der Muslimbrüder degeneriert. Der Besuch des katarischen Emirs Hamad Bin Khalifa al-Thani in Kairo während des Ramadan im August sollte die Stabilität der Beziehungen der beiden Länder unterstreichen. Al-Thani übergab der ägyptischen Zentralbank eine Einlage von 2 Milliarden $, damit diese einen Liquiditätsengpaß überbrücken konnte. Überdies besuchte der Emir mit ausdrücklicher Billigung der ägyptischen Regierung im Oktober auch Gaza, wo er als erster Staatschef überhaupt mit der Hamas-Führung zusammentraf. Reicht all das aus, um von einem strategischen Bündnis der Muslimbruderschaft mit Katar zu sprechen? Gegen diese These sprechen die jüngsten Spannungen zwischen der tunesischen Ennahda und dem Emirat, das inzwischen Zweifel daran hat, ob die Bruderschaft in der Lage ist, das Geburtsland des Arabischen Frühlings zu stabilisieren. 

All dies widerlegt die vor allem im Westen immer noch verbreitete Annahme, die Muslimbrüder aller Länder würden von einem geheimen Zentrum in Mekka und nach einer einheitlichen islamischen Partitur dirigiert. Vielmehr ist es so, daß die einzelnen Zweige der Bruderschaft ihre Strategie eindeutig nach den jeweiligen nationalen Interessen ausrichten. Das zeigt etwa die Politik Mursis gegenüber Israel und dem Gazastreifen, mit der er die Hamas zutiefst enttäuscht hat. Weiter kompliziert wird die Lage durch den wachsenden Einfluß der Salafisten, die neuerdings in der ägyptischen und tunesischen Politik mitmischen. Das gilt auch für die Annäherung zwischen Katar und Saudi-Arabien, auch wenn das Emirat seinem mächtigen Nachbarn noch mißtraut, und für die Bedrohung der jordanischen Monarchie. Diese weigert sich neuerdings, ihre Hilfe für die syrischen Rebellen mit Katar abzustimmen, dem sie die Unterstützung der Muslimbrüder vorwirft. All diese Entwicklungen und Widersprüche zeigen jedenfalls, daß wir die Rolle des Islamismus in der Region nicht verstehen können, wenn wir dieses Phänomen ausschließlich durch die religiöse Brille sehen. [5]  


[1]  Strategic Alert Jahrgang 25  Nr. 47/48 vom 21. 11. 12 
[2]  http://www.jungewelt.de/2012/11-29/021.php   Hintergrund: Islamisches Reich (kl) 
[3]  http://www.unzensuriert.at/content/0010497-Tunesiens-f-hrender-Islamist-l-sst-einmal-mehr-die-Maske-fallen   28. 10. 12  Tunesiens führender Islamist lässt einmal mehr die Maske fallen 
[4]  http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=121   Zeit-Fragen  Nr.50 vom 26.11.2012 
[5] 
http://www.monde-diplomatique.de/pm/.aktaus 
Le Monde diplomatique Nr. 9952 vom 9.
11. 2012
Die Golfstaaten und die Muslimbrüder – Ende einer Freundschaft  -  Von Alain Gresh
Aus dem Französischen von Jakob Horst  -  gekürzte Fassung