»Irak und der Betrug an einem Volk - Straffreiheit für immer und ewig?« - Von Hans-Christof von Sponeck 07.04.2013 22:14
Iraks jüngere Geschichte umfasst zwei weitreichende Vorgänge: Die Invasion von Kuwait
durch den
Irak am 2. August 1990 und die Invasion des Iraks durch die USA und
Grossbritannien vom 19. März 2003. Ob die politischen Führer aus diesen
Vorgängen Lehren ziehen werden, ist bestenfalls fraglich. Die Iraker werden
weiterhin geschädigt. Lebensgefahr und Aufstände bleiben ein grausamer Teil von
Iraks Wirklichkeit zu Beginn des Jahres 2013. Das kollektive Leiden einer
Nation ist zusehends alles durchdringend. Es lässt sich nicht verstecken. Das
irakische Leben setzt sich aus einer endlosen Anzahl von Tragödien zusammen: Seit
der US/UK-Invasion von 2003 sind ethnische Spannungen und Konflikte zwischen
religiösen Gruppen zu einem Hauptbestandteil der irakischen Politik geworden –
eine Polarisierung der Beziehungen zwischen den Gruppen, welche die Iraker
vorher nicht gekannt haben. Das erklärt einen Grossteil der existierenden
versteckten Kriminalität, einschliesslich der Morde, der Entführungen, der
Zerstörung von Eigentum und, am bemerkenswertesten, die sich verschlechternden
Beziehungen zwischen Bagdad und den drei nordischen kurdischen Gouvernementen. Seit
den Jahren des Krieges, der Sanktionen und der Besetzung ist das
Gesundheitswesen – einst auf dem neuesten Stand der Technik – fast kollabiert.
Mangelernährung und Krankheiten wie Erkrankungen der Atemwege, Masern, Typhus und
Tuberkulose, die im Irak fast vergessen waren, sind in grossem Umfang wieder
aufgetreten. Die planmässige Zerstörung von Wasserversorgung und sanitären
Anlagen, vor allem im Krieg von 1991, und die während der Zeit der Sanktionen
und nach der Invasion im Jahr 2003 immer wiederkehrende Medikamentenknappheit
hat die Anzahl der Krankheiten und die Sterberate im Land deutlich in die Höhe
getrieben (WHO).
«Zuerst
haben sie unsere Wirtschaft zerstört, und jetzt versuchen sie, unsere Seele zu
töten» Abgereichertes
Uran (DU), die panzerbrechende radioaktive Munition, und weisser Phosphor, die
vom US-Militär 1991 und 2003 eingesetzt wurden, haben im Irak ernsthafte
Gesundheits- und Umweltgefahren geschaffen. Zu Beginn des Jahres 2000 hat die
US-Regierung versucht, die WHO davon abzuhalten, Gebiete im südlichen Irak zu
untersuchen, wo DU eingesetzt worden war. Sie hat auch jede Ursächlichkeit für
die Zunahme von Lungenkrebs, Leukämie und angeborenen Missbildungen
zurückgewiesen. Glücklicherweise haben nationale und internationale Bemühungen
sich nicht von der Sammlung des Beweismaterials abhalten lassen, um die
Bedeutung dieser durch den Krieg verursachten Verseuchung aufzuzeigen. Eine
Untersuchung der irakischen Regierung über die psychische Verfassung im Jahr
2009 kam zum Ergebnis, dass Massenvertreibung, ein Klima der Angst, Folter, Tod
und Gewalt zu der hohen Rate der psychischen Erkrankungen im Land beigetragen
haben. Sie gibt wieder, was ein älterer Mann in Mosul beobachtete: «Zuerst
haben sie unsere Wirtschaft zerstört, und jetzt versuchen sie, unsere Seele zu
töten.»
Der Irak
soll die drittgrössten Ölreserven weltweit besitzen. Nichtsdestotrotz bleiben
seine laufenden Ölexporte unterhalb des durchschnittlichen Exports von 2,2
Millionen Barrel/Tag, die der Irak während der Sanktionsjahre vermarkten
konnte. Zu den Gründen gehören: Sabotage gegen Pipelines, Korruption, das
Unvermögen, die Öleinrichtungen nach der Invasion wiederherzustellen und der
irakische Widerstand, die Exploration des Öls fremden Interessen [Production
Sharing Agreements] zu übergeben [1]. Ein ungeheuer ölreiches Land – und
trotzdem leben 22,9 % der schätzungsweise 33 Millionen Iraker in Armut und
viele weitere müssen am Rande der Armut leben. Das Bruttonationaleinkommen pro
Kopf (2011) stieg laut Angaben der Weltbank auf lediglich 2640 US-$.
Transparency International stuft die Korruption im öffentlichen Sektor des Iraks
als eine der höchsten der Welt ein: sie liegt auf Platz 169 bei insgesamt 176
Ländern (2012). Rahim Hassan al-Uqailee schrieb als Leiter der irakischen
Redlichkeitskommission in einem offenen Brief an das Anti-Korruptionskomitee
des irakischen Parlaments (2011): «Der Kampf um den Diebstahl von Geld und
Besitz des Staates ist der Teil des Machtkampfes im heutigen Irak, über den
nicht gesprochen wird.» Trotz des abscheulichen Grabens zwischen reich und arm
haben die irakischen Behörden im Jahr 2011 mit der US-Regierung einen Vertrag
für den Kauf von 18 F-16-Kampfjets zum Preis von 3 Milliarden $ unterzeichnet!
Zu diesem Zeitpunkt lebte fast ein Viertel der irakischen Bevölkerung in Armut,
und die Arbeitslosenrate überstieg nach Angaben der Vereinten Nationen 28 %. Es
gibt im Nahen Osten ein Sprichwort: «Die Ägypter schreiben, die Libanesen
drucken, und die Iraker lesen». Vor der irakischen Invasion in Kuwait im August
1990 gehörte der Irak zu den Ländern mit der höchsten Alphabetisierungsrate im
Nahen Osten. Die Sanktionen haben das verändert. Eine Untersuchung der Weltbank
gemeinsam mit der irakischen Regierung von 2007 zeigte, dass «fast 23 % der
Iraker Analphabeten sind», 5 Millionen Kinder im Schulalter besuchten keine
Schule, und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Bildungsbereich ist
massiv geworden. Es hat seit 2003 weitere schwerwiegende Entwicklungen im
Bereich der Bildung gegeben: Ein sektiererisches Element hat sich seinen Weg
ins Schulsystem gebahnt, welches zumeist sunnitische und schiitische Studenten
beeinträchtigt; äusserst beunruhigend ist auch eine Veröffentlichung der Universität
von Gent und des Brussel Tribunals von 2011, die feststellt: «Die Klasse der
Intellektuellen und der Techniker des Iraks waren einer systematischen Kampagne
von Einschüchterung, Verschleppung, Erpressung, wahlloser Morde und gezielter
Tötung ausgesetzt.» Die Bedingungen im Irak «erinnern an ‹Bildungsmord› oder
Völkermord der gebildeten Segmente der irakischen Gesellschaft». Die irakische
Bevölkerung war in jüngster Zeit mit weiteren schwerwiegenden und
lebensbedrohenden Gefahren konfrontiert: Wie die UNO feststellt, «[…] ist der
Irak seit der von der USA angeführten Invasion von 2003 zum Durchgangsgebiet
für Haschisch- und Heroinlieferungen aus dem Iran und aus Afghanistan
geworden». Das irakische Gesundheitsministerium bestätigt, dass die
einheimische «Quote der Abhängigkeitsraten ständig steigt», obwohl
Drogenkonsum zuvor im Irak kein Problem war.
Während
der 13 Jahre dauernden Sanktionen und auch darüber hinaus war es schwierig, Baumaterial
für den Bau zusätzlicher Häuser zu bekommen. Dies führte zu einer massiven
Zunahme an überbelegtem Wohnraum, was wiederum häusliche Gewalt begünstigte,
wobei häufig Frauen die Opfer waren. Ein UNO-Bericht schätzt, dass «eine von
fünf Frauen im Irak unter häuslicher Gewalt leidet». Kriege und Gewalt haben
das demographische und soziale Profil des Iraks grundlegend verändert. Das
Ministerium für Arbeit und soziale Angelegenheiten stellte im Jahr 2011 fest,
dass schätzungsweise 4,5 Millionen irakische Kinder ihre Eltern verloren haben
– horrende 14 % der irakischen Bevölkerung sind Waisen! 70 % dieser Kinder
wurden erst mit der Invasion von 2003 zu Waisen. Wie uns gesagt wurde, leben
ungefähr 600?000
von ihnen auf der Strasse und einige wenige in den 18 Waisenhäusern, die es im
Land gibt. Es muss daran erinnert werden, dass es traditionsgemäss im Irak keinen Bedarf an Waisenhäusern
gab. Die Grossfamilie nahm sich jenen Kindern an, die ihre Eltern verloren
hatten: Diktatur, Kriege, Sanktionen und Kriminalität haben das geändert.
Es gibt im
Irak schätzungsweise 1 Million Haushalte, die von Frauen geführt werden. Die
Mehrzahl dieser Frauen sind Witwen, Opfer des bewaffneten Konflikts und der
Gewalt zwischen verfeindeten Religionsgruppen (IKRK, 2010). Abgesehen von den
extremen physischen, seelischen, wirtschaftlichen und sozialen Schäden sahen
sich die Iraker während der Jahre der Sanktionen auch mit der bitteren Realität
der Strafmassnahmen durch finanzielle Einschränkungen konfrontiert. Von 1990 bis 1996, dem Jahr, in
dem das ›Oil-for-Food Programme‹ [OFFP] in Kraft gesetzt wurde, wurden
sämtliche Auslandskonten eingefroren, und das Öl durfte international nicht verkauft werden. Die irakische Bevölkerung war
fast völlig von der mageren Hilfe von ausserhalb abhängig; deren Umfang war
jedoch weit davon entfernt, ein würdiges Weiterleben zu ermöglichen. Das OFFP (1996–2003), angeblich
eine «humanitäre» Freistellung, wurde allerdings vollständig aus den durch die
Sanktionen beschränkten Öleinnahmen des Iraks finanziert und war nicht viel
mehr als ein mit zu geringen Mitteln ausgestattetes Versorgungsprogramm. Von
den Gesamteinnahmen von 64 Milliarden $ wurden rund 19 Milliarden an die ›UN-Compensation Commission‹ [UNCC] in Genf überwiesen. Zu jener
Zeit betrug die Kindersterblichkeit im Irak 130 auf 100?000 und war damit eine der höchsten der Welt. Die genannte
Überweisung sollte Einzelpersonen, Unternehmen und Regierungen, vor allem die
Regierung von Kuwait, für Forderungen entschädigen, die aus der Invasion des
Iraks in Kuwait resultierten. Hätte es im UNO-Sicherheitsrat so etwas wie eine
moralische Führung gegeben, hätten viele dieser Entschädigungen verschoben
werden können, was den Tod vieler irakischer Kinder verhindert hätte. Während
6½ Jahren standen nur 43 Milliarden $ zur Verfügung, um den Bedarf von 23
Millionen Irakern zu decken – ein Hungerlohn! Von diesem Geld wurden nur 28
Milliarden $ tatsächlich
für diesen Zweck verwendet [2]. Detailorientiertes Mikro-Management und eine
extreme Bürokratisierung des OFFP durch den UNO-Sicherheitsrat, aber auch die
absichtliche Blockierung dringend benötigter Lieferungen für die Bevölkerung
des Iraks durch die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich, waren die
Hauptgründe dafür. Das humanitäre Programm der UNO war nicht dafür bestimmt, zu
funktionieren! Das Endergebnis: Der Geldwert der humanitären Güter, die
tatsächlich den Irakern zugute kamen, betrug 51 US-Cents pro Kopf – eine
schändliche Realität, für die weitgehend die Regierungen der USA und
Grossbritanniens verantwortlich sind. Bis zum Oktober 2012 hat der Irak 38,7
Milliarden $ an Entschädigung für die drei obengenannten Parteien gezahlt. Die
berechtigte Forderung heutiger Iraker, es sei nun an der Zeit, dass sie
ihrerseits Reparationszahlungen des Auslandes für die Verwüstungen des Krieges,
die Verseuchung von Luft, Wasser und Boden, für die Zerstörung von
Landwirtschaftsland, der technischen Infrastruktur, der Anlagen der
Wasserversorgung, der Kanalisation und der Stromversorgung, erhalten, wird von
der internationalen Gemeinschaft bis heute ignoriert. Das stellt einen
unerträglichen und inakzeptablen Doppelstandard dar.
Im März
2003, am Ende der Regierung Saddam Husseins, wurde die gesamte Schuldenlast des
Iraks auf zwischen 50 und 80 Milliarden $ beziffert. Die 19 ständigen
Mitglieder des Pariser Clubs, mehrheitlich Europäer, bestimmten die Schuld des
Iraks an diesen auf 38,9 Milliarden $. Die übrigen Gläubiger des Iraks sind
vorwiegend arabische Länder des Golf-Kooperationsrates [GCC].
Diejenigen,
welche die Aufmerksamkeit von den Beweisen der mutwilligen Zerstörung des Erbes
des Iraks, seiner Kultur, von der Plünderung seiner Kulturgegenstände, von der
krassen Verletzung des nationalen und internationalen Rechts, von der
unterschobenen Desinformation und Falschinformation, von Verbrechen und
Brutalität, von der Missachtung fundamentaler menschlicher Anliegen und
ethischer Standards, ablenken wollen, werden diese Anschuldigungen entweder als
absurd, ideologisch oder dumm zurückweisen - oder stumm bleiben. So erbärmlich
das ist, sie haben nichts anderes anzubieten. Im Namen der Demokratie bestehen
sie darauf, dass der «Blick auf das grössere Ganze», ihr grösseres Ganzes, die
Mittel rechtfertigte.
Es geht
nicht um Kartoffelchips und Coca-Cola, sondern um menschliche Sicherheit und
die Möglichkeit, das eigene Leben frei von Not und Furcht zu gestalten. Für den
Irak, einen hauptsächlichen Eigentümer weltweiter Öl- und Gasvorkommen, sollte
es kein Problem sein, seinem Volk ein solches Leben zu ermöglichen. Statt
dessen ist der Irak zum «failing state» geworden, der mit anderen
benachteiligten Ländern wie Afghanistan, Somalia - und natürlich dem Staat
Palästina - um die Krone des Elends konkurriert. Die Täter werden sich
allerdings nicht für immer zurücklehnen und annehmen dürfen, dass ihre Verbrechen
einfach am fernen Horizont im Nirgendwo verschwinden werden. Die
Rechenschaftspflicht wird siegen.
Regierungen von USA
und UK: Verschulden von Kriegs- und Folterverbrechen Die
Anstrengungen der ›Kuala Lumpur War
Crimes Commission‹ [KLWCC], 2005 von
Dr. Mahathir, von 1981 bis 2003 Premierminister von Malaysia, gegründet, sind
ein Schritt in diese Richtung. Die Kommission hat während vieler Jahre
eindrückliches Beweismaterial aus rechtlichen Dokumenten und Zeugenaussagen von
Opfern zusammengetragen. Dieses Material – vom Kuala-Lumpur-Tribunal für
Kriegsverbrechen sorgfältig überprüft – ermöglichte es dem Gerichtshof, im
November 2011 und im Mai 2012 zu verkünden, dass auf höchster Ebene der
Regierungen der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs ein
Verschulden für Kriegsverbrechen und Folter bestehen. Das kann für George W.
Bush und Anthony Blair wohl keine Überraschung sein. Das Urteil des Tribunals:
Die beiden Führer und ihre ranghohen Berater haben «dadurch, dass sie unter
Verletzung des Völkerrechts die Invasion des souveränen Staats Irak planten, vorbereiteten
und durchführten, sowie Verbrechen der Folter und Kriegsverbrechen begingen und
dabei die Genfer Konventionen und das Folterverbot der UN ignorierten», schwere
Verbrechen gegen den Frieden begangen. [3]
Was man
erlebt hat, kann man nicht unsichtbar machen. Wieviel können Menschen ertragen? 2013 muss
zu dem Jahr werden, in dem diese Täter das Ende ihrer Straflosigkeit erleben.
Vor allem jene, die bei der Schaffung von Jahrzehnten des Leidens der Iraker
entscheidend waren. Ein ordentliches Gerichtsverfahren muss für jedermann sein,
für Iraker und Nicht-Iraker; es kann allerdings nicht sein, dass sich nur die
Verlierer der Justiz stellen müssen. In diesem zehnten Jahr nach der illegalen
Invasion des Iraks wird die internationale Öffentlichkeit als «Kraft von unten»
ihre Anstrengungen intensivieren, um dem irakischen Volk zu versichern, dass es
bei seinem Streben nach Wiedergutmachung nicht alleine steht.
[1] Production Sharing Agreement (PSA) ist eine
Vertragsform bei Erdöl- und Erdgaskonzessionen, bei der sich eine oder mehrere
Erdölunternehmen und das Gastland die Erdöl- bzw. die Erdgasproduktion nach einem festgelegten
Schlüssel teilen. [2] Die monatlichen Kosten für die Stationierung
der Truppen im Irak während der Jahre der US-Besatzung wurden auf 12 Milliarden
US-Dollar geschätzt. Mit anderen Worten: Das, was die Iraker für die ganzen 6½
Jahre vom OFFP zum Überleben erhielten, entsprach weniger als drei Monaten der
Kosten für die Stationierung der US-Truppen im Irak. [3] Siehe dazu: Kuala Lumpur War Crimes Tribunal
– Case 1 and Case 2: Judgements of 22nd November 2011 and 11th May 2012 (ISBN
978-937-10817-1-6 und ISBN 978-967-10817-2-3)
Hans-Christof
von Sponeck ist ehemaliger beigeordneter UN-Generalsekretär und Humanitärer
Koordinator der Vereinten Nationen für den Irak
Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1399
Zeit-Fragen
Nr. 12 vom
18.3.2013
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