Der NSU-Prozess

Wer immer das Buch von Andreas von Bülow »Operationen unter falscher Flagge«

und die grossangelelgte Recherche von Daniele Ganser »NATO-Geheimarmeen in Europa« gelesen hat, wird sich hinsichtlich des bevorstehenden NSU-Prozesses seine eigenen Gedanken machen. Bei diesem Prozess muss bekanntlich eine angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter ausländischer Medien, die einen besonderen Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten haben, vergeben werden. Die türkische Tageszeitung Sabah, die in dieser Sache eine Beschwerde eingelegt hatte, nahm das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Platzvergabe im NSU-Prozess mit Erleichterung auf: »Wir haben uns nicht zu Unrecht ungleich behandelt gefühlt. Das Gericht hat ein ganz klares Signal gesetzt.« Im ersten Verfahren hatte Medien aus der Türkei keinen festen Platz bekommen. Der Vizechefredakteur von Sabah, Erel, hat die Entscheidung begrüßt. Er sprach von einem fairen und transparentem Prozess, bei dem jeder Pressevertreter jetzt die gleichen Chancen habe. Das Münchner Oberlandesgericht wird die Presseplätze beim NSU-Prozess nun im Losverfahren vergeben; für türkische Medien sind vier Plätze reserviert. Der Chefredaktor der Zeitschrift COMPACT, Jürgen Elsässer, hat in seine Gedankengänge hierzu in dem nachfolgenden Artikel niedergelegt: 

Ergenekon-Phantom und NSU-Phantom  - Zwei parallele Prozesse in der Türkei und in Deutschland sollen die Macht der Globalisten zementieren  
Nicht nur der NSU-Prozeß in Deutschland ist ein Jahrhundert-Prozeß. Noch wichtiger ist das Ergenekon-Verfahren in der Türkei, und in vielem vergleichbar. Doch während sich das Erdogan-Regime den Mund zerriß, weil in München keine Prozeßplätze für türkische Medien reserviert worden waren, läßt es im eigenen Land die demokratische Öffentlichkeit beim Ergenekon-Prozeß verprügeln und einschüchtern. Und vielleicht noch schlimmer: Kaum ein deutsches Medium nimmt Notiz davon! Am Wochenende vom 6. und 7. April demonstrierten 10.000 türkische Demokraten in Berlin gegen die Ergenekon-Farce: Hat irgendeiner etwas davon gelesen? In der deutschen Presse kommen nur pro-Erdogan-Medien aus der Türkei zu Wort, wie die Tageszeitung Sabah, die aber im Ergenekon-Verfahren stramm an der Seite des Regimes steht. Türkische Demokraten und Patrioten, die gegen Erdogan stehen, werden in deutschen Medien allerdings ignoriert.

Um was geht es bei Ergenekon: Die Erdogan-Justiz wirft Hunderten von Personen die Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation vor. Die Staatsanwaltschaft fordert für 64 Personen – unter ihnen Journalisten, Ärzte, Wissenschaftler, Geschäftsleute und Militärs – lebenslange Freiheitsstrafen. Der Prozeß in der Stadt Silivri nähert sich dem Ende. Deswegen demonstrierten auch dort am 8. 4.  Zehntausende. Die Polizei setzte neben Wasserwerfern auch Tränengas ein, um die Proteste unter Kontrolle zu bringen. »Wir sind hier, um unsere Stimme für die Gerechtigkeit zu erheben. Mehr wollen wir nicht«, zitiert das Nachrichten-Portal Haber 7 den Abgeordneten der sozialdemokratischen CHP, Mahmut Tanal. Bei Ergenekon geht es, oberflächlich betrachtet, um den tiefen Staat. Den Angeklagten wird vorgeworfen, mit Terror und Attentaten einen Putsch vorbereitet zu haben. Alle Angeklaten gelten als Ultranationalisten, weil sie den Nationalstaatsgedanken von Kemal Atatürk verteidigen – gegen die islamistischen Tendenzen von Erdogan und die Eingriffe von NATO und EU in die nationale Souveränität der Türkei. Das Schema der Anklage und der öffentlichen Kampagne ähnelt dem NSU-Verfahren: Der reale tiefe Staat aus Geheimdiensten, NATO-Militärs und Extremisten baut – unter Hinweis auf einzelne Figuren auf der Anklagebank – einen imaginären tiefen Staatzusammen, der ersatzweise abgeurteilt wird. Ergenekon ist ein Phantom-Konstrukt, so wie NSU auch. Die Kampagne zielt, in der Türkei wie in Deutschland, gegen die Ultranationalisten, also gegen alle auf irgendeine Weise Rechten, die der neuen globalistischen Ausrichtung des realen tiefen Staates im Wege stehen.

Konkret zur NSU: Der reale tiefe Staat aus Leuten wie dem Agenten Andreas Temme [hessischer Verfassungsschutz] projiziert alle Verbrechen, an denen er beteiligt war, auf eine kleine Substruktur, die Zwickauer Zelle, die zwar Dreck und Blut am Stecken haben, aber eben nur eine weisungsgebundene Substruktur war. Näheres hierzu in COMPACT-Spezial zum NSU:  Neonazis, V-Männer und Agenten. Wichtig ist jedenfalls, daß die kritische Öffentlichkeit in der Türkei, die sich bisher hauptsächlich für Ergenekon interessiert, und die [viel kleinere] kritische Öffentlichkeit in Deutschland, die den Lügen der NSU-Ankläger nicht glaubt, zusammenfindet. Das ist eine Kampagne, eine Front! Es geht nicht um die Aburteilung von Angeklagten, die im Einzelfall durchaus schwere Schuld auf sich geladen haben – es geht um die Zerstörung aller patriotisch-republikanischen Kräfte durch die realen Schattenmächte, den tiefen Staat der Globalisten.  

Meine türkischen Freunde, endet Elsässer, die Ihr dies lest: Zur Koordinierung unserer Anstrengungen bitte ich diejenigen unter Euch, die gut deutsch sprechen, sich mit mir in Verbindung zu setzen:  elsaesser@compact-magazin.com   [1]


Von Spitzeln umstellt‹ 
so der Titel eines Beriches von German Foreign Policy  [2], der sich mit dem NSU befaßt: Eineinhalb Jahre nach dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bleibt die Aufklärung über die Position staatlicher Stellen gegenüber der Nazi-Terrorgruppe weiterhin aus. Mittlerweile ist bekannt, daß nicht nur die Ursprungsorganisation des NSU zahlreiche V-Leute diverser Geheimdienste in ihren Reihen hatte. Auch das Umfeld des NSU im Untergrund ist nach aktuellem Recherchestand von mindestens zwei Dutzend Kontaktpersonen staatlicher Stellen durchsetzt gewesen. Eine Einschätzung des Landeskriminalamtes in Nordrhein-Westfalen, der NSU-Nagelbombenanschlag vom 9. Juni 2004 in Köln habe einen terroristischen Hintergrund, wurde innerhalb nur einer halben Stunde auf Anweisung des nordrhein-westfälischen Innenministeriums kassiert. »Der Kern des NSU« sei de facto »von bezahlten Kontaktpersonen der Behörden umstellt gewesen«, urteilt Paul Wellsow, Mitautor mehrerer Publikationen zur Thematik mit Blick auf die V-Leute im Umfeld der Terrororganisation [3]. »Es sei unglaubwürdig, einfach nurvon Pleiten, Pech und Pannen' zu reden.« Man müsse die Frage stellen, »welche Beziehungen zwischen den Geheimdiensten, organisierter Kriminalität und der extremen Rechten in Deutschland tatsächlich bestehen.« 

V-Leute im Umfeld des NSU
Aktuelle Recherchen belegen, daß sogenannte V-Leute diverser staatlicher Behörden von Beginn an in engem Kontakt zum harten Kern des NSU standen. Bereits kurz nach dem Auffliegen des Terror-Trios war bekanntgeworden, daß der Thüringer Heimatschutz - die Neonazi-Truppe, der die drei Anfang 1998 abgetauchten Neonazi-Terroristen entstammten - nicht nur in beträchtlichem Maße von Geheimdienst-Spitzeln durchsetzt, sondern auch unter Nutzung von Verfassungsschutz-Honoraren in sechsstelliger Höhe aufgebaut worden war. Auch nach dem Abtauchen des NSU waren V-Leute verschiedener Behörden im Umfeld des Terror-Trios platziert - mindestens zwei Dutzend, wie es in einem aktuellen Überblick heißt. Ein V-Mann habe den Untergetauchten Geld zukommen lassen, ein weiterer habe ihnen zunächst Sprengstoff und später ihre erste Untergrundwohnung beschafft. Die Baufirma eines dritten V-Mannes habe schließlich im Zeitraum zweier Morde, die dem NSU zugeschrieben werden, Fahrzeuge angemietet - ein Zusammenhang zu den Taten sei dabei, heißt es, nicht auszuschließen. [4] 

Zurückgepfiffen 
Bemerkenswerte Leistungen in Sachen Nicht-Aufklärung des Neonazi-Terrors haben im Laufe der Jahre verschiedenste staatliche Stellen vollbracht. Ein Beispiel hierfür ist der Nagelbomben-Anschlag in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004, bei dem 22 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Jüngst haben Berichte für Aufmerksamkeit gesorgt, daß unmittelbar nach der Tat zwei Polizisten in Zivil am Tatort waren.  Daß es nur ein Routineeinsatz gewesen sei, sei unwahrscheinlich, äußert der CDU-Obmann im NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestages, Clemens Binninger, ein Ex-Polizist, und schließt nicht aus, es habe eventuell vage Hinweise gegeben, daß etwas passieren könne. Erstaunliche Entwicklungen sind vor allem aus dem zuständigen NRW-Innenministerium bekannt. Berichten zufolge meldete das Landeskriminalamt kurz nach dem Anschlag, dieser sei als terroristische Gewaltkriminalität einzustufen. Keine 30 Minuten später wies das Ministerium das Landeskriminalamt an, den Begriff terroristischer Anschlagaus dem Schriftverkehr zu streichen. Nur einen Tag später dekretierte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) offiziell, die Tat habe keinen Terrorhintergrund. Gegenteilige Einschätzungen aus dem Verfassungsschutz, die sich auf identische Nagelbomben-Anschläge von Neonazis in migrantisch geprägten Straßen in London aus dem Jahr 1999 stützten, und die auch in der deutschen Neonazi-Szene mit Aufmerksamkeit registriert worden waren, wurden von den Innenministern Nordrhein-Westfalens sowie des Bundes ignoriert. Clemens Binninger urteilt, die Terroristen hätten, da es aus Köln eine Videoaufnahme der Täter gab, durchaus gefaßt werden können, hätte man die Möglichkeit eines Terrorhintergrundes nicht ausgeschlossen.  

Zu den bemerkenswerten Fällen der Nicht-Aufklärung gehört auch der Kasseler NSU-Mord vom 6. April 2006, bei dem Halit Yozgat, der Betreiber eines Internet-Cafés, in seinem Geschäft mit zwei Kopfschüssen umgebracht wurde. Laut den polizeilichen Ermittlungen hielt sich Andreas Temme, ein V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes, zur Tatzeit in dem Internet-Café auf. Der Mann, der als Waffen-Spezialist gilt, will den dumpfen Knall nicht wahrgenommen haben, den die anderen Anwesenden hörten; er will eine Münze auf die Ladentheke gelegt haben, hinter der Yozgat unmittelbar zuvor erschossen worden war -  ohne Blutspritzer oder die Leiche gesehen zu haben. Kurz vor seinem Besuch in dem Internet-Café hatte Temme mit einem seiner V-Männer, einem Neonazi mit Kontakten nach Thüringen, telefoniert. Kurz nach dem Mord an Yozgat traf er sich mit einer weiteren Quelle, die ihn als ungewöhnlich nervös empfand. Seine Befragung durch die Polizei, die ihn im Verdacht hatte, etwas mit dem Mord zu tun zu haben, wurde vom hessischen Innenministerium verhindert; dabei war mittlerweile bekannt, daß der Mann privat sowohl Waffen wie auch Nazi-Devotionalien besaß. Bekannte hatten ihm den Spitznamen Klein Adolf verpaßt.  

Es sollte, so GFP, die Frage gestellt werden, »welche Beziehungen zwischen den Geheimdiensten, organisierter Kriminalität und der extremen Rechten in Deutschland tatsächlich bestehen.« 

[1]  http://juergenelsaesser.wordpress.com/2013/04/09/ergenekon-phantom-und-nsu-phantom/ Ergenekon-Phantom und NSU-Phantom  -  Von Jürgen Elsässer
Elsässer ist Chefredakteur der Zeitschrift COMPACT   
[2]  Quelle:
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58578    17. 4. 2013 Eigener Bericht - Von Spitzeln umstellt  - gekürzte Wiedergabe  
[3]  Paul Wellsow, Mitautor mehrerer Publikationen zur Thematik und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag   
[4]  Andreas Förster: Mindestens 24 Spitzel im NSU-Umfeld; www.berliner-zeitung.de
vom 3. 4. 2013