Fremde Richter?

Einen Richter, der jahrzehntelang auf vier Stufen der Schweizerischen Gerichtsbarkeit

gearbeitet hat und der einer zurückhaltenden Globalisierung durchaus offen gegenübersteht, schaudert es, wenn er bei Streitigkeiten die Verlautbarungen von Bundesbern zum Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union zur Kenntnis nehmen muss. Es geht vor allem um den Problemkreis der gerichtlichen Zuständigkeit bei Streitigkeiten hinsichtlich der Anwendung und Auslegung der bilateralen Verträge. 

Wer vertritt die schweizerischen Interessen? Der Europäische Gerichtshof solls richten - Gedanken von Prof. Karl Spühler, Alt Bundesrichter

Die Position von Bundesbern 
Das Thema
fremde Richter ist in allen echten Rechtstaaten der Welt ein Thema. Für die Schweiz ist es seit Jahrhunderten ein wichtiges Element der Souveränität, auch wenn kürzlich zwei Rechtshistoriker in einer schweizerischen Fachzeitschrift die Dinge zu verwischen versuchten. Es ist unbestreitbar, dass es im Bundesbrief von 1291 in der auf Deutsch übersetzten Fassung wörtlich heisst: »Wir haben auch einhellig gelobt und festgesetzt, dass wir in den Tälern durchaus keinen Richter, der nicht unser Einwohner oder Landmann ist, aufnehmen sollen.« Auch im übrigen spielt der eigene Richter im Text des Bundesbriefes eine ganz zentrale Rolle. Daraus darf der Schluss gezogen werden, dass der Bundesbrief von 1291 die Folgerungen aus den Erfahrungen mit nichteigenen Richtern gezogen hat. Angeführt von unserem Aussenminister, Bundesrat Didier Burkhalter, soll bei der Anwendung und Auslegung der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU der Europäische Gerichtshof in Luxemburg zuständig sein. Zu betonen ist, dass in diesem Gericht kein Schweizer Einsitz hat. Es ist also für die Schweiz ein vollständig fremdes Gericht. Der schweizerische Chefunterhändler Yves Rossier hat gemäss NZZ am Sonntag im letzten Frühling gesagt, »es sind fremde Richter, es geht auch um fremdes Recht«. Dem ersten Teil des Satzes ist zuzustimmen, er zeugt von bemerkenswerter Offenheit und Richtigkeit. Umso erschreckender ist der zweite Satzteil, wonach es eben um fremdes Recht gehe. Damit wird der fremde Richter bzw. das fremde Gericht gerechtfertigt. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die bilateralen Verträge fremdes Recht seien. Diese Vorstellung ist unrichtig: Ein Vertrag zwischen der Schweiz und der EU soll fremdes Recht sein? Das wäre nur dann folgerichtig und stünde mit der strengen Logik in Einklang, wenn die bilateralen Verträge auf der Präponderanz der EU fussten. Es ist entlarvend, aber Bundesbern geht zumindest sinngemäss davon aus; im Inhalt seien eben diese Verträge EU-Recht, d.h. von der EU diktiertes Recht und nicht zweiseitiges Vertragsrecht. Man ist somit einverstanden, dass der Vertragsinhalt von der EU diktiert wird und dass die Schweiz lediglich formell Vertragspartei sei.   

Fremdes Recht gleich fremde Richter? 
Die These, es seien fremde Richter zuständig, weil es eben fremdes Recht ist, widerspricht übrigens auch dem internationalen Privatrecht. Damit ein Richter fremdes Recht auf eine vertragliche Beziehung anwenden darf, bedarf es einer sogenannten Rechtswahl. In internationalen Verträgen vereinbaren auch schweizerische Unternehmen, dass bei Streitigkeiten fremdes Recht zur   Anwendung komme; die Gründe sind verschieden, sie bedürfen aber der freien Zustimmung der Vertragsparteien. Auch das Schweizerische Bundesgericht hat zuweilen fremdes Recht anzuwenden, aber nur bei Zustimmung beider Parteien oder wenn dafür eine eindeutige gesetzliche Grundlage vorhanden ist. Damit ist der Beweis erbracht, dass fremde Richter und fremdes Recht absolut keinen notwendigen Zusammenhang haben. Die Argumentation von Bundesbern ist rein opportunistisch.  

Die richterliche Sicht 
Gemäss den Verlautbarungen unseres Aussenministers soll somit der EU-Gerichtshof bei Streitigkeiten zwischen unserem Land und der EU über die Anwendung und die Auslegung der bilateralen Verträge entscheiden. Um die Sache für die Schweiz zu mildern, soll unser Land gemäss Burkhalter allenfalls unter Inkaufnahme von Gegenmassnahmen von den Urteilen des EU- Gerichtshofs abweichen können. Man darf sich als Richter fragen, welches Verständnis Bundesbern von der Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt und dem verfassungsmässigen Auftrag jeder einzelnen Richterin und jedes einzelnen Richters hat. Ein Gericht hat Urteile zu fällen, die anschliessend gelten und durchgesetzt werden. Entscheide binden die Prozessparteien, ansonsten entbehrt das Gericht seines Sinnes. Ein Gericht gibt auch nicht nur Rechtsmeinungen und Gutachten ab; dazu bedarf es keiner Gerichte. Und niemals erwartet ein Gericht in einem Rechtstaat, dass eine politische Behörde einen Richterspruch, gleichgültig unter welchen Bedingungen, unterlaufen darf. Letzteres ist zwar aus Diktaturen und kommunistischen Staaten bekannt, wer aber damit liebäugelt, verrät die Idee unserer abendländischen Rechtsstaatlichkeit.   

Die Grundgedanken der Aufklärung, die uns die grossen französischen Schriftsteller Rousseau und Montesquieu hinterlassen haben und die sich in jedem schweizerischen Richterrucksack befinden, werden allzu bedenklich geopfert. Es wird übersehen, dass auch Richterinnen und Richter einen Berufsstolz haben, gleicherweise wie mein Vater als Buchdrucker und mein Grossvater als Dachdeckermeister. Der richterliche Berufsstolz wird aufs tiefste verletzt, wenn Gerichte damit rechnen müssen, dass allenfalls nicht ein oberes Gericht, sondern eine politische Behörde von ihren Urteilen abweichen kann. Davon hat zu Recht auch der höchste EU-Richter, der Grieche Vasilios Skouris, gewarnt: »Entscheide sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Parteien, die sich an ein Gericht gewendet haben, binden«. Denn der richterliche Berufsstolz ist der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit verpflichtet. Muss ein Gericht damit rechnen, dass eine politische Behörde von seinem Urteil abzuweichen befugt ist, und das institutionell, besteht die Gefahr, dass es frustriert von seinem Auftrag abweicht, und ebenfalls nicht nach rein rechtlichen, sondern nach politischen Gründen entscheidet.  

Was verschwiegen wird 
Die geschilderte Gefahr der Denaturierung des Richterstandes und dessen Urteilsfindung wird von offizieller Seite und den Gutachtern und Beratern des Bundesrats verschwiegen. Nicht gesprochen wird auch darüber, dass der Europäische Gerichtshof zum Teil von den in ganz Westeuropa üblichen juristischen Auslegungsregeln abweichen muss. Die Gerichte legen die gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen nach deren Sinn und Zweck aus. Diese Methode, die teleologische Auslegung, ist seit Jahrhunderten ungeschriebene Regel. Der Luxemburger Gerichtshof ist dagegen dem effet utile verpflichtet. Das bedeutet, dass er die Auslegung des Rechts nach dem Prinzip der grösstmöglichen Wirksamkeit vorzunehmen hat. Wirksamkeit für wen? Was dies im Einzelfall bedeutet, muss nicht weiter verfolgt werden …. 

Lösungsansatz 
Es wird immer wieder Konflikte bei den bilateralen Verträgen mit der EU geben. Diese können zwar rein politisch gelöst werden. Es ist aber zweierlei zu bedenken: Erstens ist die Schweiz der kleinere Vertragspartner und zweitens besteht, zumindest in der heutigen Situation, kaum Vertrauen in den Bundesrat, dass dieser die schweizerischen Interessen genügend hartnäckig wahrnimmt. Der einzige Ausweg bildet meines Erachtens die Schiedsgerichtsbarkeit. Ein dahin gehender Vorschlag der SVP fand leider keine Mehrheit. Aufgrund von Äusserungen muss festgestellt werden, dass vielerorts das Wissen um die Bedeutung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, vor allem für die Schweiz, abhanden gekommen ist. Die von unserem Land seit über hundert Jahren hochgehaltene Idee der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ist ein zwischenstaatliches Streiterledigungsverfahren, welches auf eine für die Parteien verbindliche Entscheidung eines Streites abzielt. Dabei haben die Parteien die Möglichkeit, über die Rechtsgrundlagen, die Zusammensetzung des Gerichts, das anwendbare Recht und die Verfahrensordnung zu entscheiden. 


[1]  Quelle:
Der Zürcher Bote 55. Jahrgang, Nr. 7 vom 22. 11. 2013