Die Schweiz und die EU

Drei der Antworten, die der Innerschweizer Schriftsteller und Dramatiker Thomas Hürlimann

in seinem der »Schweiz am Sonntag« gewährten ausführlichen und höchst lesenswerten Interviewauf an ihn gestellte Fragen zum Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union gab, lassen aufhorchen. In diesem Interview bringt Hürlimann seine tiefe Abneigung gegenüber der laufend auswuchernden Brüsseler Bürokratie zum Ausdruck. Als Mitglied der Europäischen Union gleiche sich die Führungsmacht Deutschland immer deutlicher der untergegangenen DDR an.

»Was mich an der EU am meisten stört, ist, dass sie uns ein neues Menschenbild verpassen will. Das Abendland hat das Individuum hervorgebracht. Individuum heisst ungeteilt. Der Einzelne empfindet sich als kleinste Einheit im grossen Ganzen von Kosmos und Geschichte. Nun stehen wir vor dem Atomschlag. Das Individuum soll gesprengt und aufgelöst werden. Deshalb der Hass auf alles Elitäre, es ist der Hass auf das Ich. Das neue Europa setzt dazu an, das Ich zu eliminieren, das heisst: Alles Spezielle, also das Geschlecht, der religiöse Glaube, die Hautfarbe oder ein über dem statistischen Durchschnittswert liegendes Körpergewicht hat zu verschwinden. Künftig ist nur noch eine graue Schablone der Toleranz zugelassen. Doch Vorsicht! Eine Toleranz, die sich für allgemeingültig erklärt, schlägt in ihr Gegenteil um. Wer auf diesen Widerspruch hinweist, riskiert heute seinen Ruf, später wohl sein Leben. Die Toleranz-Schablone wird die letzten Individuen gnadenlos jagen und ausmerzen
 

Deutschland – so lautet eine markante Interview-Aussage Thomas Hürlimanns – gleiche sich immer augenfälliger der 1989 kollabierten, sozialistisch geprägten DDR an. Die Schweiz setze dazu einen Kontrapunkt: Wenn sie sich selber treu bleibt. Auf die Frage, woran diese Entwicklung zu erkennen sei, antwortete Thomas Hürlimann: 

»An der Verachtung des Talents und der Elite sowie am Hang zum totalen Staat. Auch junge Deutsche fühlen sich am wohlsten, wenn sie von staatlicher Gnade und Fürsorge leben. Sie beantragen Wohngeld, Kindergeld, Bafög, Zuschüsse für die Klassenfahrt oder den Musikunterricht, stehen stundenlang in Ämtern herum und sind bis zur Selbstverleugnung dankbar, wenn eine griesgrämige Funktionärin ihre Anträge zu bearbeiten geruht. Davon hat Lenin geträumt. Und vergessen wir nicht, dass an der Spitze der Bundesrepublik Deutschland Personen stehen, die in der DDR sozialisiert wurden. Frau Merkel war in der DDR Sekretärin bei den jungen Pionieren, zuständig für Propaganda. Damals hat man die UdSSR als friedliebendes Brudervolk verehrt, heute spricht die Kanzlerin tagtäglich vom friedensstiftenden Europa. Das ist pure Ideologie.« 

Zur Frage, ob er die Schweiz als Modell betrachte, antwortete Thomas Hürlimann: »Ja, und den Modell-Charakter verlieren wir auch dann nicht, wenn sämtliche deutschen Medien unsere Abstimmungsentscheide verurteilen – wie etwa bei der Masseneinwanderungsinitiative. Hierzu muss man wissen, dass Deutschland nicht nur von oben nach unten, sondern stets auch moralisch politisiert. Je grösser das Thema, umso besser. Merkel kümmert sich am Nordpol höchstpersönlich um das Weltklima, chic in roter Skijacke, doch auf einem Berliner Schulhof hat man sie noch nie gesehen. Das hat natürlich Gründe. Wer in Deutschland das Thema Immigration oder Ausländer berührt, wird von hysterischen Medien sofort unter Faschismusverdacht gestellt.«  [1]

Die EU, schreibt Roger Köppel in der Weltwoche vom 30. Juni, schafft die Demokratie ab. Die Schweiz gerät unter verschärften Druck; die langlebigste Demokratie der Welt wird zum Ärgernis für Europa und zeigt auf, dass innerhalb der EU die Demokratie und die nationale Eigenverantwortung ausser Kraft gesetzt werden und dass sich in Brüssel und Frankfurt ein neues Machtzentrum herausbildet, das ohne klare Verfahren und Kontrollen Entscheidungen von grosser Reichweite trifft. In Europa werden Kriege heute nicht mehr auf dem Schlachtfeld ausgetragen. Es braucht weder Armeen noch Kampfflugzeuge. Durch die EU und den Euro sind die Mitgliedstaaten derart heillos verbandelt, dass die Grossen die Kleinen im Rahmen der europäischen Institutionen mühelos in die Knie zwingen können. Die EU ist vor allem deshalb gefährlich, weil sie rohe Machtpolitik mit dem Schein der Rechtmässigkeit umgibt. Tatsächlich machen die Grossen, was sie für richtig halten. Wenige entscheiden, was alle betrifft. Die EU wird zur Bühne der Unterdrückung der Kleinen durch die Grossen. Die Macht setzt das Recht. Es braut sich eine giftige Mischung zusammen. Die Demokratie wird mit Füssen getreten. Der Geldbedarf wird immer grösser. Das Friedensprojekt EU kehrt seine aggressive Seite gegen alle, die widersprechen und anders sind. »Sie haben eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten. [...] Ihre Kritik und Ihre Ratschläge machen mich krank.« Mit diesen selbstherrlich-herrischen Worten hatte Präsident Sarkozy den britischen Premierminister David Cameron im November 2011 am EU-Gipfel in Cannes attackiert. Gleichzeitig drohte Sarkozy, die Schweiz als Steueroase zu bekämpfen, obschon die Schweiz alle Forderungen der OECD im Steuerbereich vorauseilend erfüllt hatte. 

Eine neue Rüpelherrschaft bricht sich Bahn. Die Schweiz wird in den nächsten Jahren unter verschärften Druck geraten. Die letzte echte Demokratie Kontinentaleuropas sieht sich dem anschwellenden Zorn der europäischen Demokratieabschaffer, der Technokraten und der Durchgreifer ausgesetzt. Man wird die Schweiz als Trittbrettfahrer, Profiteur und unsolidarisches Element moralisch brandmarken, um eine Beteiligung an den Rettungsschirmen zu erzwingen. Das Verständnis für den Standpunkt der Unabhängigkeit schwindet. Der Respekt vor unserer Rechtsordnung geht weiter zurück. In einem Europa ohne Grenzen wachsen grenzenlose Machtansprüche. Gegen die Schweiz wird man subtiler, aber nicht weniger fordernd vorgehen. Als Wohlstandsinsel in einem Sumpf von Schulden bleibt die Schweiz verlockend. Gleichzeitig ist die langlebigste Demokratie der Welt ein Stachel im Fleisch der EU. Die Schweiz avanciert zum sichtbaren Gegenteil, ja zur Verneinung der EU, die auf Entmündigung der Bürger setzt. Der Druck von aussen wird nach innen wirken. Bundesrat und Parlament geben vor, sich mit Zähnen und Klauen gegen die europäische Vereinnahmung zu wehren. Wer genauer hinschaut, sieht Verzagtheit, Mutlosigkeit und Anpassung. Zwei Gutachten spuren im Auftrag des Bundesrats den Weg zur automatischen Angleichung der Schweiz an die EU vor. Die Regierung hat die Berichte im Tresor eingeschlossen, um der SVP vor den Bundesratswahlen keinen Rückenwind zu geben. Die grösste Angst unserer wichtigsten Diplomaten sind Konflikte mit der EU, die man durch schweizerisches Entgegenkommen auf möglichst breiter Front erst gar nicht entstehen lassen will. Ein Irrtum. Die Politik des Einknickens hat zuletzt nur immer neue Begehrlichkeiten geweckt. Es rächt sich die Sorglosigkeit, mit der die Bürgerlichen die Aussenpolitkik der Linken, die von den anti­demokratischen Strömungen in der EU fasziniert ist, überlassen.   

Die Schweiz hat verlernt, ihre Interessen durchzusetzen. Die Opferbereitschaft ist gering. Man ist bereit, erprobte Grundwerte unseres Staats für kurzfristige Vorteile preiszugeben. Immerhin verändert sich die Stimmung an der Oberfläche. Klare Mehrheiten sind gegen die EU und für eine Rückbesinnung auf die Stärken unseres Modells. In der Politik schwenken die bürgerlichen Parteien nach Jahren der EU-Euphorie auf den skeptischen Kurs der SVP ein. Wie tief und ehrlich die Wendungen sind, wird sich zeigen. Bundesrat und Verwaltung sind am empfänglichsten und am empfindlichsten für das europäische Pressing. Noch halten sich unsere Minister aus Angst vor dem Volk zurück. Zwischen Bern und Brüssel steht die direkte Demokratie. Die nächsten Jahre werden entscheidend sein, ob die Schweiz als unabhängiges Land bestehen bleibt. Die Fronten verhärten sich und werden zugleich undeutlicher. Es geht nicht mehr darum, ob die Schweiz der EU als Vollmitglied mit Rechten und Pflichten beitritt. Es geht darum, die schleichende, mit Fremdwörtern getarnte, von ihren Vorantreibern geleugnete Eingemeindung der Schweiz in die Europäische Union zu erkennen und zu verhindern. Calmy-Rey sprach von bilateraler Integrationspolitik. Was einst als Methode des Draussenbleibens gepriesen wurde, ist längst zum Hebel eines Beitritts ohne Volksabstimmung geworden. Die EU-Debatte in der Schweiz ist unehrlicher als vor fünfzehn Jahren. Vom Bürger wird verschärfte Wachsamkeit verlangt.  [2]  

EU Diktatur ante portas  -  Von Michael Mross 
Anstatt den Euro abzuwickeln und die EU neu zu strukturieren, wollen die fünf Obermachthaber der EU das Gegenteil: Mehr Kontrolle über die Haushalte und weniger Souveränität der Nationalstaaten. Am Ende steht der EU-Superstaat ohne demokratische Legitimation - vom Brüssel-Politbüro zentral regiert. 

Der "Fünf-Präsidenten-Bericht", in dem die EU-Machthaber ihren 10-Jahresplan für die Zukunft festlegen, hat es wirklich in sich. Schon das Vorwort von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verschlägt einem die Sprache: »Europa ist im Begriff, die schlimmste Finanz- und Wirtschaftskrise seit sieben Jahrzehnten hinter sich zu lassen. Der Euro ist eine erfolgreiche und stabile Währung für 19 EU-Mitgliedstaaten und mehr als 330 Millionen Bürgerinnen und Bürger.« Besser hätte es Erich Honecker auch nicht formulieren können. Angesichts dieser Aussage kann dem EU-Boss nur noch ein vollkommener Realitätsverlust bescheinigt werden. Genauso wie den Sozialismus hält die EU und die Eurozone offenbar weder Ochs noch Esel auf. Damit zusammengepreßt werden kann, was nicht zusammen gehört, legten die fünf EU-Bosse  - Euro-Gruppenchef Jeroen Dijsselbloem, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, EZB-Chef Mario Draghi -  ihren Plan vor, der vom Mainstream weitgehend unkommentiert blieb. Der sogenannte Fünf-Präsidenten-Bericht trägt den verheißungsvollenTitel Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden. Was das im Klartext bedeutet, ist erschreckend: Ohne die Untertanen zu befragen soll ein EU-Superstaat gegründet werden, in dem alle wichtigen Befugnisse nach Brüssel verlagert werden. Staaten wird die Kontrolle über die Haushalte entzogen, die Souveränität auf ein Minimum reduziert. Was übrig bleibt, sind nur noch Marionetten, die an den Fäden Brüssels gezogen werden. Vollendet werden soll das Machtkonstrukt bis 2025. Dann herrscht laut Fünf-Präsidenten-Bericht das Paradies auf Erden in der EU und in der Eurozone. Ziel sei ein Hort der Stabilität und des Wohlstands für alle Bürgerinnen und Bürger der EU-Mitgliedsstaaten. Ob die Bürger dieses Paradies allerdings wollen, wird nicht gefragt. Wie es verwirklicht wird, steht aber schon fest: Alle Staaten sollen auf die Solidarität der Euro-Partner zählen können. Schöne neue Euro-Welt also.

Was das bedeutet, erzählt die 5-köpfige Junta natürlich nicht:  

1.  Deutschland gibt sein Vermögen nach Brüssel ab.  

2.  Brüssel bestimmt, was mit dem Geld gemacht wird. Wenn in Deutschland dann z.B. eine Brücke gebaut werden soll, dürfen wir erst mal einen Antrag in Brüssel stellen. Von dort kommt dann die Antwort, daß es leider nicht geht, weil eine Autobahn auf Sizilien Vorrang hat.  

3.  Mit Solidarität der Euro-Partner ist nichts anderes gemeint als eine Transferunion. Wer hier der Zahlmeister sein wird, ist offensichtlich.   

4.  Bankenunion mit gemeinsamer Einlagensicherung. Mit anderen Worten: Die EU will sich der Sicherungssysteme in Deutschland bedienen, um marode Süd-Banken zu stützen.  

5.  Eurobonds  -  Einführung eines euroraumweiten Treasury‹-Schatzamtes 

Mit anderen Worten: Das Vermögen der Nordstaaten wird von Brüssel konfisziert, um es nach Gutdünken und politischen Vorgaben umverteilen zu können.

EU-Wettbewerbsbehörde: Das perfekte Oxymoron 
Aber die EU wäre nicht die EU, wenn sie nicht auch an die Wettbewerbsfähigkeit denken würde. Diese bleibt natürlich nicht dem freien Markt überlassen, sondern dafür gibt es eine Behörde, die das regelt. Konkret betrachtet möchten die 5 Präsidenten die Wettbewerbsfähigkeit in den Euro-Ländern durch die Einrichtung unabhängiger Behörden für Wettbewerbsfähigkeit stärken sowie eine effizientere Aufsicht über die Haushalts- und Wirtschaftspolitik einführen. Wie viele zigtausende Beamte dafür nötig sind und wie das effizient sein soll, bleibt das Geheimnis der EU-Bürokraten.  Derweil muß sich EU-Boss Juncker offenbar vorkommen wie Gott. Anläßlich der Vorstellung des Fünf-Präsidenten-Berichts stellte er fest: »Heute präsentieren wir, die fünf Präsidenten, unsere gemeinsame Vision. Die Welt schaut auf uns und will wissen, welche Richtung wir einschlagen. Wir geben heute Route und Ziel für die Währungsintegration vor.« Wer gibt hier was vor? Leben wir noch in einer Demokratie oder schon in der Diktatur? Aber die 330 Millionen Euro-Zonen-Sklaven haben schon seit langem nichts mehr zu sagen. ESM und EFSF waren der Anfang. Auf das Ende dürfen wir gespannt sein.  [3] 

Warnungen vor einer Entdemokratisierung der EU 
hat jetzt auch die frühere EU-Abgeordnete der irischen Green Party und derzeitige Präsidentin der Europeans United for Democracy, Patricia McKenna, ausgesprochen. In einem mit den Deutschen Wirtschafts Nachrichten geführten Interview warnt sie vor einer schleichenden Militarisierung der EU. Die Bürgerrechte würden systematisch ausgehöhlt und es entstünden militärische Strukturen. Es sei Zeit für einen massiven Widerstand. Sie ermuntert linke Euro-Skeptiker, sich für die Menschen- und Bürgerrechte mit äußerster Entschlossenheit einzusetzen. In diesem Gespräch kommt sie auf politische Aussagen zurück, die gewissermaßen eine Vorleistung zu den mit dem Fünf-Präsidenten-Bericht verfolgten Zielen darstellen:

DWN: Wolfgang Schäuble hat vor einigen Jahren in einem Interview mit der New York Times gesagt, die politische Union in Europa könne nur durch eine Krise erzwungen werden. Glauben Sie, daß das immer noch der Plan ist? 

P.McK.: Winston Churchill hat einmal gesagt: »Lassen Sie niemals eine gute Krise ungenutzt verstreichen.« Es besteht kein Zweifel, daß Churchills Rat durch unsere EU-Politiker buchstabengetreu befolgt wurde, und dies ebenso von der bürokratischen Elite im Zuge der Schuldenkrise von 2008. Die Krise hat den Plänen der EU eindeutig genutzt. Im Mai 2010, nach dem Platzen der Finanzblase, sagte Bundeskanzlerin Merkel: »Wir haben eine gemeinsame Währung, aber keine echte wirtschaftliche oder politische Union. Das muß sich ändern. Würden wir dies erreichen, liegt darin die Chance der Krise..… Und jenseits der Ökonomie, mit der gemeinsamen Währung, werden wir vielleicht weitere Schritte wagen, zum Beispiel den einer europäischen Armee.« [Karlspreis Rede vom Mai 2010]  Ein Jahr später sagte Präsident Sarkozy: »Bis Ende des Sommers werden Angela Merkel und ich gemeinsame Vorschläge hinsichtlich einer Wirtschaftsregierung im Euroraum machen. Wir werden Ihnen eine klarere Vision des Weges vorlegen, wie sich die Eurozone entwickeln wird. Unser Ziel ist es, die griechische Krise einzubeziehen, um einen Quantensprung für eine Eurozone-Regierung zu erreichen. Dieses Wort war einmal Tabu. Jetzt gehört es zum europäischen Wortschatz.« [22. 7. 2011]. Und Merkel hat gesagt: »Die Schuldenkrise ist ein entscheidender Moment, eine Chance, einen neuen Weg zu gehen. Es gibt nun Zeit und Gelegenheit für einen Durchbruch zu einem neuen Europa… Das wird mehr Europa bedeuten, nicht weniger Europa.« [11. 9. 2011]. Es gibt keinen Zweifel, daß jene, die die Macht innehaben, die Krise nutzen, um mit dem voranzugehen, was sie wollen, unabhängig davon, was die Völker Europas wollen. 

DWN: Aktuell werden die wichtigsten Entscheidungen in der Euro-Zone von der Euro-Gruppe getroffen. Diese Gruppe ist keinem einzigen Parlament gegenüber verantwortlich. Sie ist kein Organ im Sinne der EU-Verfassung. Zeigt diese Entwicklung nicht, daß wir uns bereits mitten in einer Transformation hin zu weniger Demokratie in der EU bewegen? 

P.McK.: Ja, dem würde ich zustimmen. Im Anschluß an das, was ich gerade gesagt habe, gibt es keinen Zweifel, daß die Eurogruppe eine Schlüssel-Einrichtung ist, an der man die Veränderungen erkennt. Die jüngsten Vertragsvereinbarungen sind ein Beleg für diese Tatsache. Das Finanz-Stabilitäts-Gesetz wird von vielen Mitgliedern der Eurozone als ein permanenter Sparmaßnahmen-Vertrag für jene angesehen, die sich das am wenigsten leisten können. Dieses Gesetz untersagt den Regierungen jede Art von Anti-Rezessions-Konjunkturprogrammen im keynesianischen Sinne. Dies beeinträchtigt die demokratisch gewählten Regierungen in Bezug auf ihre eigenen nationalen Haushalte ganz entscheidend. Dann haben wir den Europäischen Stabilitätsmechanismus Vertrag, den ESM. Dieser Vertrag legt einen permanenten Rettungsaktionfonds für die Länder der Eurozone auf, zu welchem all ihre Mitglieder im Verhältnis zu ihrem Bruttoinlandprodukt  unwiderruflich und bedingungslosbeitragen müssen. Zugang zu diesem Fonds erhält man nur, wenn man sich vorher zu dem finanzpolitischen Stabilitätsvertrag bekennt, den ich gerade erwähnt habe. Der ESM sieht einen Fonds vor, aus dem Gelder direkt an die Regierungen der Eurozone verliehen werden können. Der Vertrag von Maastricht hatte Bail-outs für Euro-Länder verboten. Eine Anfechtungsklage zu diesem Vertrag wurde 2012 vom EuGH im Fall Pringle abgelehnt; die Entscheidung des Gerichts ist in diesem Fall eine widersprüchliche Entscheidung. Sie zeigt zum einen: Vertragsänderungen werden dann durch das Gericht sanktioniert, wenn sie zu der dem Gericht aufgetragenen integrativen Agenda passen, denn das Gericht hat eine politische Agenda. Diese ist in den Verträgen selbst begründet. Die Präambel und der erste Artikel der Verträge, die den Prozeß der Schaffung einer immer engeren Union begründen, sind ein Mandat für das Gericht, eine immer weitergehende Integration zu fördern. Das Ergebnis im Fall Pringle weist auf eines der grundlegendsten demokratischen Probleme innerhalb der EU hin: Sollte ein nicht gewähltes und gegenüber niemandem verantwortliches Gericht ein politisches Programm umsetzen, oder sollte das Gericht nicht viel eher ein unparteiischer und unbefangener Deuter und Interpret der Gesetze nach Lage der Dinge sein? Ich vertrete die Auffassung: Wenn die Richter die Integration vorantreiben, brechen sie ihren Eid. Das Urteil des EuGH könnte als Sprungbrett für eine erweiterte Wirtschafts- und Finanzunion dienen und möglicherweise zu politischen Verflechtungen zwischen den Mitgliedstaaten führen. Doch hat das Pringle-Urteil noch einen anderen Effekt: Es eröffnet den Euroländern die Möglichkeit der Zusammenarbeit außerhalb der Rechtsordnung der EU. Pringle öffnet den Weg für eine Arbeitsteilung zwischen den Euro- und den nicht Euro-Ländern und zur weiteren Integration mittels Vereinbarungen außerhalb der Rechtsordnung der Union. 

DWN: Wir haben den Eindruck, daß die NATO immer stärker zum treibenden Faktor der Weiterentwicklung der EU wird. Halten Sie das auch für denkbar? 

P.McK.: Ich glaube, daß die NATO seit jeher ein wichtiger Akteur im EU-Integrationsprozeß war. Am Anfang war sie weniger sichtbar, aber das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Nicht nur sind die aufstrebenden militärischen Strukturen in der EU durch die NATO beeinflußt, sie sind auch gesetzlich verpflichtet, mit dem nuklearen NATO-Bündnis in Einklang zu sein. Die NATO-Partnerschaft für den Frieden, Partnership for Peace, PfP, wurde speziell konzipiert, um jene Nationen an Bord zu bringen, die zurückhaltend waren, der NATO beizutreten. W. Perry und A. Carter, die Köpfe hinter der PfP, legen in ihrem Buch Preventive Peace folgendes dar: »Das Ziel einer erneuerten Partnerschaft für den Frieden sollte die Erfahrung sein, der Partnerschaft so nah wie möglich zu kommen: In der militärischen Praxis und in der Erfahrung der NATO-Mitgliedschaft. Die PfP kombiniert Übungen und andere militärische Aktivitäten und sollte vom früheren Fokus auf Friedenssicherung und humanitäre Operation zu wahren Kampfhandlungen fortschreiten.« Die PfP ist ein wesentlicher Baustein in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität geworden, was die schnelle Eingreiftruppe der EU aktuell zeigt. Die Verträge enthalten eine gegenseitige Verteidigungsklausel, die für alle Mitgliedsstaaten verbindlich ist. Darüber hinaus heißt es, »die Mitgliedsstaaten sollen zivile und militärische Fähigkeiten zur Umsetzung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung stellen. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.«

Die Europäische Verteidigung-Agency EDA, eine Agentur, die nach zwei Jahrzehnten Lobbyarbeit von Europas militärischer Industrie etabliert worden ist, ist Bestandteil der Verträge. Diese Agentur, die ohne öffentliche Debatte etabliert wurde und die die Waffenhersteller begünstigt, hat eine signifikante Vertragsmacht. Sie soll einsatzbereite Anforderungen ermitteln; darüber hinaus erfüllt sie diese Anforderungen, fördert Maßnahmen und beteiligt sich an der Festlegung der europäischen Fähigkeiten und der Rüstungspolitik. Sie macht Gewinne aus Kriegen und Kriegsvorbereitungen, und zu ihr gehören die einflußreichsten industriellen Interessen in Europa, das Ziel der länderübergreifenden wirtschaftlichen Integration und der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Vertrag anerkennt das NATO-Bündnis, zu dem 28 EU-Staaten gehören, und zwar als das wichtigste Forum zur kollektiven Verteidigung der Mitglieder und sieht die EU-Militärpolitik als Ergänzung, jedoch von der NATO getrennt. Einige der 18 EU-Kampfeinheiten wurden bereits eingerichtet. Jede ist in der Lage, 1.500 Mann aus verschiedenen Mitgliedsstaaten nach dem Rotationsprinzip rasch bereitzustellen. Es gab bereits EU- Militärinterventionen mit dem Titel friedensschaffend oder friedenssichernd in Afrika, auf dem Balkan und im Nahen Osten. In diesen Missionen tragen diese Truppen Uniformen der EU. Ihre Durchführung wird von der EDA, dem Satellitenzentrum der EU sowie vom EU Military Committee EUMC unterstützt. Letzteres wird von einem 4-Sterne-General befehligt, oder ein Chef-Admiral überwacht den EUMC-Militärstab in Brüssel. Insgesamt betrugen die Militärausgaben der EU-Länder im Jahr 2010 194 Milliarden €, das ist mehr als im Jahr 2001. Seit Jahrzehnten gibt Griechenland in der EU im Verhältnis zu seiner Größe und Einwohnerzahl das Meiste für das Militär aus. Frankreich, Deutschland und Großbritannien sind die größten Waffenhersteller der EU. Während Deutschland und Frankreich auf die schärfsten Einschnitte im Sozialbudget Griechenlands bestehen, Portugal und Spanien dabei sind, ihre Schulden zurückzuzahlen, haben sie keinen Druck, die Militärausgaben zu senken. Die Rüstungsindustrie in diesen mediterranen Ländern würde das Nachsehen haben.

DWN: Die EU versteht sich immer stärker als geopolitischer Faktor. Dazu benötigt sie immer mehr Zentralisierung und eindeutige schnelle Kommandostrukturen. Wie können wir den Bürgern die Macht wieder zurückgeben? 

P.McK.: Die EU und unsere Politiker haben sich zusammengeschlossen, um sicherzustellen, daß die Macht den Bürgern vorenthalten wird. Ein Beispiel hierfür ist die Tatsache, daß fast alle Vertragsänderungen ohne irgendeine öffentliche Konsultation durchgesetzt wurden; sie werden kaum mit Volksabstimmungen in den Mitgliedsstaaten durchgeführt. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß dies mit Absicht geschieht. Denn es gab einige Mitgliedsstaaten mit der Gelegenheit, abzustimmen, in denen Vertragsänderungen abgelehnt wurden, wie z. B. Maastricht, Nizza, die EU-Verfassung und Lissabon. Die Menschen sind entweder gezwungen worden, wie es in Irland und Dänemark geschah, noch einmal abzustimmen, oder der Vertrag wurde zurückgezogen und ohne Änderung neu verpackt und von der politischen Elite durchgestimmt. So ist es in Frankreich und in den Niederlanden geschehen. Alle Vertragsänderungen haben die Rolle der Menschen und ihrer demokratisch gewählten und rechenschaftspflichtigen Regierungen reduziert. Wir haben einen stetigen Rückgang der Bürgerrechte in der EU, während Lobbyisten die Ausarbeitung der Gesetze bestimmen. Wer sind die Alliierten für die Zivilgesellschaft, um diese Entwicklung umzukehren? Es besteht kein Zweifel, daß die Bürgerrechte in der EU ernsthaft bedroht sind. Zum Beispiel haben die Vertragsbestimmungen Inneres zur Massensammlung von E-mail-Nutzung, Handy-Anrufen (einschließlich Ortung) und Internet-Nutzung bei 500 Millionen EU-Einwohnern geführt. Die EU-Vorratsdatenspeicherung verlangt vom Internet Service Provider, die Daten zu sammeln, damit sie für alle staatlichen Stellen in den 28 Mitgliedsstaaten verfügbar sind. Zugriff auf E-Mail- und Internet-Inhalte sollte von nationalen Justizbehörden erlaubt werden, obwohl die staatlichen Behörden das technologische Potential besitzen, die Inhalte jahrelang zu speichern. Die Informationen in diesen riesigen Daten-Banken werden regelmäßig gemeinsam mit der USA geteilt. Ich glaube, daß die Zivilgesellschaft eine kritischere Position zur EU einnehmen muß und vor den Begriffen wie euroskeptisch nicht erschrecken darf. Die EU-Propaganda-Maschine ist bis jetzt äußerst effektiv, um die wachsende Kritik aus der Mitte und von Mitte-links zu unterdrücken.

DWN: In vielen Ländern sehen wir als Reaktion auf die Zentralisierung der EU das Entstehen von radikalen Parteien. Bewegen wir uns insgesamt auf eine radikalisierte Gesellschaft zu?  

P.McK.: Die Entstehung neuer radikaler Parteien ist ein direktes Resultat der Bemühungen der EU in den vergangenen Jahrzehnten, zu vereiteln, daß die Menschen kritisch sind und sich Gehör verschaffen wollen. Die EU-Institutionen haben Unsummen an Geld der EU-Steuerzahler dafür verwendet, Propaganda-Kampagnen zu finanzieren, um jede Kritik zu untergraben. Wie ich bereits betonte, haben die Menschen Angst, als Euroskeptiker benannt und den extremen Rechten zugeordnet zu werden; und sie müssen damit rechnen, einen mangelhaften Charakter angehängt zu bekommen. Diese Taktik war bis jetzt erfolgreich, weshalb Menschen, die sich politisch als links oder Mitte-Links definieren, schwiegen, aus Angst vor Spott. Die Demokratie wurde in allen Mitgliedstaaten der EU untergraben und nun ist es an der Zeit, unsere Rechte und Freiheiten wieder zurückzuerhalten.  [4]  

Anmerkung politonline
Die Grundausrichtung, wie sie aus den obigen Berichten zutage tritt, ist längst Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen gewesen, also nicht wirklich neu. Was allerdings im wahrsten Sinne des Wortes zugleich unheimlich und erschreckend ist, ist der Umstand, dass sich in den Parlamenten der EU  - von vereinzelten Stimmen abgesehen -  kein Widerstand aufbaut; insofern muss man sich fragen, was dort überhaupt begriffen wird. Bleibt dies so, dann sind wir der Schuldenknechtschaft problemlos überliefert, darüber sollte sich niemand hinwegtäuschen.

 

[1]  Quelle: Schweiz am Sonntag, Nr. 23 vom 7. 6. 2015 S:13ff    
http://eu-no.ch/news/eindrueckliches-interview-von-thomas-huerlimann_69
      12. 6. 15  Eindrückliches Interview von Thomas Hürlimann

[2]  http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2011-47/editorial-europa-die-weltwoche-ausgabe-472011.html    Die Weltwoche, Ausgabe 47/2011 vom Dienstag, 30. Juni 2015  

[3]  http://www.mmnews.de/index.php/politik/48037-eu-diktatur-ante-portas   24. 6. 15  
EU Diktatur ante portas  -  von Michael Mross

[4]  http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2015/06/26/eu-will-militaerische-strukturen-gegen-die-buerger-aufbauen/   
30. 6. 15   EU will militärische Strukturen gegen die Bürger aufbauen; leicht gekürzte Fassung