Doris Auerbach - Wird der Irak geteilt?

Die Äusserungen, die auf eine längst beabsichtigte Teilung des Iraks schliessen lassen, häufen sich. Gleichzeitig verstärkt sich bei den Irakern der Verdacht, dass die gegen Zivilisten gerichteten Attacken auch von der Besatzungsmacht selbst ausgehen. Zieht man die ?Leistungen? der Geheimdienste dieser Welt in Betracht, zu denen es gehört, je nach Bedarf Anschläge zu inszenieren und chaotische Verhältnisse zu schaffen, um dadurch die Basis für geplante Revolutionen zu erzielen, so erscheint der Verdacht der Iraker in keiner Weise als abwegig. Ein Chaos im Irak wäre genau die Situation, die einen Bürgerkrieg einleiten könnte, der seinerseits den Anlass dafür böte, den Irak endlich umgestalten zu können, nämlich in drei weitgehend autonome Regionen.

Bereits im November 2003 schrieb Leslie Gelb in der New York Times *, dass der Irak ein Staat sei, der auf künstliche Weise drei sektiererische Ethnien verbinde, deren Einheit  lediglich mittels Gewalt gewährleistet wurde. Er ist der Auffassung, dass der Zeitpunkt, die Besatzung des Iraks zu internationalisieren, überschritten sei, da die UNO sich weigere, diese alptraumartige Verantwortung zu übernehmen. Die in seinen Augen einzig brauchbare Strategie besteht infolgedessen darin, den Irak in drei Teile aufzuspalten, in eine kurdische Einheit im Norden, eine sunnitische im Zentrum des Landes und eine schiitische im Süden. Im sogenannten sunnitischen Dreieck wäre die Besatzung abzuziehen und abzuwarten, bis die Sunniten, die von den Ölressourcen und den daraus erzielten Gewinnen abgeschnitten wären, ihre Ambitionen zurückschrauben würden. Andernfalls hätten sie die Konsequenzen ihrer Handlungen zu tragen. Man kommt hier an der Vorstellung nicht vorbei, dass sich der zentrale Teil mit Bagdad auf diese Weise sozusagen aushungern liesse. Schliesslich waren die Sunniten schon immer die Speerspitze des Widerstands gegen den US-Imperialismus.
 
Nach der iranischen Revolution 1979, legt Gelb dar, betrachtete man einen geeinten Irak als ‚nützliche’ Gegenmacht zum Iran. Dass man diese Nützlichkeit auch als Missbrauch einer ganzen Nation sehen kann, wird geflissentlich übergangen. Nach dem Golfkrieg 1991 war es dann  notwendig, die Einheit des Landes zu bewahren, um zu vermeiden, dass sich Syrien, die Türkei und der Iran nicht gegenseitig Teile des Landes streitig machten; heute jedoch, so Gelb, hätten sich die Zeiten geändert. Er meint, dass sich Teheran und Ankara mit der Unabhängigkeit der Kurden abfinden werden, wenn letztere davon absehen, im Iran oder in der Türkei einen Aufstand anzuzetteln.
 
Bei Shlomo Avineri, Professor für politische Wissenschaft und Direktor des Institute for European Studies an der Hebräischen Universität Jerusalem, heisst es in einem Gastbeitrag für Die Welt vom 13.10.05 ganz unumwunden: „Teilen wir den Irak auf!“ Es wird zwar nicht näher definiert, was man unter ‚wir’ zu verstehen hat, ganz offenbar aber sind die Iraker selbst nirgendwo mit einbezogen. Und sie allein wären es, die über eine Entscheidung von einer derartigen Tragweite zu befinden hätten, sonst niemand. In dem Artikel heisst es: „Die Aufteilung des Iraks in drei Staaten oder in Regionen mit grösstmöglicher Autonomie wird sowieso kommen, Verfassung hin oder her.“. Man fragt sich, zu was die soeben durchgeführte Abstimmung im Endeffekt dienen soll, wenn hinter den Kulissen und ohne Wissen der Iraker vermutlich schon längst beschlossen ist, das Land aufzuspalten. „Drei eigenständige Gebilde“, so Avineri, „hätten grössere Chancen, so etwas wie eine demokratische Staatsführung aufzubauen, als wenn verfeindete Bevölkerungsgruppen gezwungen wären, gemeinsam in einem Staat zu leben, der von den meisten seiner Einwohner immer als Gefängnis empfunden wurde.“ Zu letzterem Punkt liest man ferner: „Das Weiterbestehen eines multiethnischen und multireligiösen Staates ist nicht sakrosankt, wenn die Bevölkerungsgruppen nicht miteinander leben möchten.“
 
Hier wäre zumindest als erstes einzufügen, dass ohne den Aufbau Saddam Husseins durch die CIA und Washington das Land sicherlich nicht zu einem Gefängnis geworden wäre. Zweitens geht es meiner Meinung nach im Irak mitnichten um den Aufbau einer Demokratie, sonst würden die Besatzer nicht fortfahren, diesen mit der gewohnten Brachialgewalt niederzuwalzen. Man traut seinen Augen nicht, wenn uns Avineri hierzu noch folgendes wissen lässt: „Aber im Hinblick auf die Geschichte und Demographie des Iraks scheiterte der  amerikanische Versuch, das Land in eine funktionierende Demokratie zu verwandeln.“ Es gibt zweifelsohne niemanden mehr, der verkennen würde, dass es der anglo-amerikanischen Ölmacht zu keinem Zeitpunkt darum ging, im Irak eine echte Demokratie Fuss fassen zu lassen; heute, denke ich, geht es ausschliesslich um die Unterwerfung des Landes und die grösstmögliche Nutzung seiner Ressourcen durch den Westen. Genau das ist es, was für meine Begriffe unter den oben zitierten Chancen zu verstehen ist. Wären solche für die Iraker selbst vorgesehen, wären Blair und Bush anders vorgegangen. Wie ‚gross’ die Chancen für die Bevölkerung bemessen sind, kann man allein schon an der Order 81, Paragraph 66, ablesen. Als Teil der wirtschaftlichen Restrukturierung des Landes hat die Bush-Administration verfügt, dass es den irakischen Bauern in Zukunft nicht länger gestattet ist, ihr eigenes Saatgut, das sie über Jahrhunderte hinweg selbst entwickelt haben, zu gewinnen. Stattdessen werden sie gezwungen, genetisch verändertes Saatgut von US-Firmen  - wie Monsanto beispielsweise -  zu kaufen. Mit anderen Worten: Es eröffnen sich somit lediglich zwei Möglichkeiten. Die eine besteht darin, der USA den gewünschten Markt zu erschliessen, die zweite wäre, den Irak widrigenfalls ganz einfach auszuhungern. Für mich stellt sich hier die Frage, ob die Schandtaten der US-Regierung überhaupt noch überboten werden können. Nicht im mindesten überraschend ist, dass das Verbot von einem Mitglied des Council on Foreign Relations, L. Paul Bremer, ausgearbeitet wurde. Was die irakischen Regierungsmitglieder betrifft, so sind diese als reine Marionetten zu betrachten, andernfalls hätten sie es nie zugelassen, dass eine derart widerrechtliche Massnahme zum Tragen gelangt.
 
Was die Behauptung betrifft, dass die Bevölkerungsgruppen nicht miteinander leben möchten, so vermisse ich hier einen stichhaltiger Beweis. Die drei grossen Bevölkerungsgruppen sind grösstenteils vermischt und  keine von ihnen lebt in dem, was man als ihre ureigene Region bezeichnen könnte. Die Schiiten, die 60% der Iraker ausmachen, betrachten die jetzige Verfassung als den Beginn ihres Einflusses auf die Geschicke des Landes und damit ihrer politischen Vorherrschaft. Die sunnitischen Araber hingegen, die 20% von Iraks 27 Millionen Einwohner stellen, behaupten, dass die Verfassung es den Kurden und Schiiten ermöglichen wird, das Öl des Landes zu vereinnahmen, die Nation in autonome Regionen aufzuspalten und die Sunniten für die Missetaten Saddam Husseins zu strafen. Jonathan Morrow, der das Komitee, welches die neue Verfassung entwarf, beriet, legt folgendes dar: „Grob genommen ist letztere eine kurdisch-schiitische Verfassung, die den sunnitischen Arabern als vollendete Tatsache präsentiert wurde, da diese nicht anwesend waren, als sie ausgearbeitet wurde. Die Verfassung wurde an kurdischen und schiitischen Tischen in der durch die USA geschützten Grünen Zone geschrieben.“ Morrow arbeitet für das United States Institute of Peace. Auch diese Namensgebung kann man, wie dies bei vielen US-Institutionen der Fall ist, lediglich als Zynismus werten, wenn man bedenkt, welcher Art der Friede ist, der auf Grund der Verfassung garantiert werden soll.
 
Knut Mellenthin nimmt in der Jungen Welt vom 14.10.05 zu dem Artikel von Shlomo Avineri wie folgt Stellung: „Avineri weiss selbstverständlich, dass man den Irak auf gar keinen Fall friedlich aufteilen könnte. Dazu leben die Bevölkerungsgruppen viel zu sehr miteinander vermischt. Und dazu gibt es auch zu viele geographische Streitpunkte, die oft mit der Existenz von Erdölvorkommen zusammenhängen. Ohne Massenvertreibungen und Bürgerkrieg und ohne ein sich daraus zwangsläufig ergebendes Polizeiregime der NATO wie in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo wäre eine Aufteilung des Iraks nicht zu haben.“ Im Klartext: Die Teilung würde die endgültige Zersplitterung und die Zerstörung der gesellschaftlichen Strukturen des Landes bedeuten, was uns als ‚Internationaler Gemeinschaft’ die Kosten einer weiteren Dauerbesetzung aufbürden würde.
 
Anfang Oktober sagte der Chef der Arabischen Liga, Amr Mussa,  dass die Situation so angespannt sei, dass ein Bürgerkrieg jeden Augenblick ausbrechen könnte. Schon vor dem Krieg hatte Mussa erklärt, dieser werde „die Tore der Hölle“ öffnen. Hiervon sind wir über Presse und Fernsehen Zeuge geworden. Alles deutet mittlerweile darauf hin, dass die Situation weiter angeheizt wird. „Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen hat den US-geführten Koalitionstruppen im Irak schwere Verstösse gegen die Genfer Konventionen vorgeworfen. Es gebe Berichte, wonach der Zivilbevölkerung immer wieder Lebensmittel und Wasser vorenthalten würden, um sie zur Flucht aus den Kampfgebieten zu zwingen, erklärte der UN-Anwalt Jean Ziegler jetzt in Genf. Dies sei eine flagrante Verletzung des Völkerrechts.“ Unnötig hinzuzufügen, dass die USA die Vorwürfe wie gewöhnlich zurückweist.
Den Irak zu teilen ist in der Tat ein alter israelischer Traum. 1982, also erschreckend früh, schrieb Oded Yinon, ein Beamter des israelischen Aussenministeriums, folgendes: „Den Irak aufzulösen ist für uns noch wichtiger als die Auflösung Syriens. Kurzfristig gesehen ist es die Macht des Iraks, die die grösste Bedrohung für Israel darstellt. Der Iran-Irakkrieg zerriss den Irak und verursachte seinen Niedergang. Alle Arten von innerarabischen Konflikten  helfen uns und beschleunigen die Erreichung unseres Ziels, den Irak in verschiedene kleine Teile aufzubrechen. **:
Die Absicht, das schon fast verblutete Land auch noch aufzuspalten, sehe ich einmal mehr als den Beweis dafür, dass die USA nicht gewillt ist, aus den vorausgegangenen Kriegen irgendwelche Lehren zu ziehen. Man bleibt auf der Linie der totalen Übermacht, die ausser Unterwerfung nichts kennt. Solange Strategien der genannten Art ungestraft umgesetzt werden können, weigere ich mich zu glauben, dass wir eine Demokratie besitzen, was die Regierungen nicht müde werden, uns zu versichern.
 
 
Zur Person Leslie Gelbs: Der ehemalige Herausgeber der New York Times und vormals Mitglied des Carnegie Endowment for International Peace [echte Friedensbemühungen sucht man in der US-Politik natürlich immer noch vergeblich] und stand bis vor kurzem an der Spitze des Council on Foreign Relations, einem think tank, der die CIA, den US-Aussenminister sowie einflussreiche Leute der multinationalen US-Konzerne zusammenbringt. Ferner war Gelb ehemals Beamter des Pentagons.
 
* http://www.mtholyoke.edu/acad/intrel/iraq/three.htm
Leslie Gelb, "The Three-State Solution," New York Times, 25. November 2003
 
**http://www.questionsquestions.net/docs04/iraq_partition.html
Washington has found the solution   -  "Let's Divide Iraq as We Did in Yugoslavia!"
by Michel Collon
 
Siehe auch den ausgezeichneten Artikel ‚Der Krieg im Irak - ausgedacht in Israel’ von Stephen J. Sniegoski; Zeit-Fragen Nr. 5 vom 10. 2. 2003
http://www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/ZF_101c/INDEX.HTM