Rechtsstaat und Demokratie - Von Diethelm Raff

Den an die Bundeskanzlei im Zusammenhang mit der Diskussion über Rechtsstaat

und Demokratie gesandten Ausführungen und Fragen ist folgendes voranzustellen. Mir scheint, dass die Rechtsstaatsdiskussion und die Direkte Demokratie in der Auseinandersetzung über die Durchsetzungsinitiative zu kurz kommen. Für mich handelt es sich  - unabhängig von der Frage der richtigen Behandlung krimineller Ausländer -  um einen Angriff auf das schweizerische aufgeklärte direktdemokratische System, das bis jetzt im Vergleich zu allen anderen Staaten die Volkssouveränität am ehesten in die Tat umzusetzen in der Lage ist. Von der Bundeskanzlei und Vertretern der selbsternannten Eliten werden Massstäbe ehemals monarchistischer Staaten an die sogenannte Rechtsstaatlichkeit angelegt, um das schweizerische System zu beurteilen. 

Denken wir daran, dass die federführenden Islamistengruppen beim sogenannten arabischen Frühling wohlweislich einen über den Menschen stehenden Rechtsstaat  - gemäss Scharia -  als Alternative zu den autoritären Regimes gefordert haben, somit keine Selbstbestimmung der Bürger, und das genügte den Parteien von links bis rechts in den ehemaligen Monarchien in Europa, um diese islamistische Bewegung nicht nur zu unterstützen, sondern sie schwärmerisch als fortschrittlich zu begrüssen.

Meiner Meinung nach liegt der Fortschritt in allen Belangen in der Selbstbestimmung der Bürger, und nicht in der Mitbestimmung bei einzelnen, von den Eliten bestimmten Teilbereichen des Lebens. 

Sehr geehrte Damen und Herren in der Bundeskanzlei 
Im Bundesbüchlein zur kommenden Abstimmung am 28. Februar 2016 lese ich auf Seite 27 eine überraschende Definition von Demokratie, die in der schweizerischen Demokratie fehl am Platz ist. Sie erklären dort, dass in einer Demokratie das Parlament die Gesetze macht.

Das ist offensichtlich eine Definition aus Deutschland oder einer anderen unvollendeten Demokratie, die aus Monarchien oder gar Diktaturen hervorgegangen ist. Denn auch im deutschen Grundgesetz war ursprünglich vorgesehen, dass die Umsetzung des demokratischen Prinzips, dass alle Macht vom Volk, also von den Bürgern ausgeht, auf verschiedenen Wegen umgesetzt werden sollte. Das kam aus machtpolitischen Gründen nie zustande und die Bürger Deutschlands blieben unmündig. Es sollte eben nach dem 2. Weltkrieg nie über eine immerwährende Neutralität und die erneute Militarisierung und Einbindung im Rahmen der NATO abgestimmt werden, denn Deutschland wäre damals nach dem Willen der Bürger neutral geworden und nicht in Militär- und andere Machtbündnisse eingebunden, und hätte so viele Beiträge zum Frieden statt zum Kalten Krieg leisten können. Es brauchte bis heute eine jahrelange Bearbeitung der Bevölkerung Deutschland – dies einzig durch Parlamentsentscheide über den Willen der meisten Bürger hinweg.

Entscheidend für eine eigentliche Demokratie ist, dass alle Gesetze vom Volk ausgehen und ein Parlament nur stellvertretend versucht, den Willen der Bürger umzusetzen. Falls das dem Parlament aus irgendeinem Grund nicht möglich ist, sei es aus Machtgründen, aus Parteisolidarität statt Bürgersolidarität, aus Manipulation durch Verwaltung oder Interessengruppen, aus Unkenntnis der Materie oder Unverstand, gibt es das Referendum, um den Willen der Mehrheit der Bürger herauszufinden und dabei zu erfahren, ob das Parlament den Volkswillen erfasst hat oder eben nicht. Es handelt sich um die Umsetzung der Vorstellung von selbstbestimmten, aufgeklärten Bürgern, wie sie zum Beispiel Immanuel Kant in seiner Abhandlung von 1784 über die Frage Was ist Aufklärung benannt hat. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Die Vorstellung vom dummen Volk, das nicht in der Lage sei, anstelle einer Elite urteilen zu können und deshalb nicht in der Lage sei, sich selbst eigene Gesetze zu geben, kommt aus der autoritären Mottenkiste des Mittelalters, egal ob von links oder rechts propagiert. Der Bürger soll systematisch so eingeschüchtert werden, dass er sich nicht getraut, selbst zu urteilen. Er gibt dann seine Mündigkeit an autoritär und selbstgerecht auftretende Besserwisser ab.

Gerne weise ich Sie darauf hin, dass es in den meisten Kantonen das Gesetzesreferendum oder sogar die Gesetzesinitiative, also eine direkte Bestimmung eines Gesetzes durch das Volk, gibt und so gelebt wird. Bedeutet Ihre Definition einer Demokratie als parlamentarische Demokratie ohne Volksrechte, dass die Kantone nicht demokratisch strukturiert sind, dort also Undemokratie oder irgendeine Unordnung für die Herrschenden herrscht, wenn die Bürger die Gesetze selbst bestimmen und selbst bestimmen wollen? Wollen Sie deshalb das Volk vor sich selbst schützen? Und was sagen Sie zu der grossen Mehrzahl der 2400 Schweizer Gemeinden, in denen kein Parlament existiert, sondern die Bürger an Versammlungen oder an der Urne ihre Gesetze selbst beschliessen?

Sind Sie so weit von der Realität entfernt, dass Sie vergessen, dass im Schweizerischen Rechtsstaat das Volk die Gesetze macht und das auf allen Ebenen  -  ja dass die Direkte Demokratie in der Schweiz genau dies immer zum Ziel hatte?

Und sind Sie sich bewusst, dass diese Selbstbestimmung in der ganzen Geschichte der Schweiz immer wieder von neuem gegen Ansprüche von Eliten in der Schweiz durchgesetzt werden musste? Zum Beispiel durch die demokratische Bewegung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, die gegen den französisch inspirierten Zentralstaat von 1948 Volksinitiative und Volksreferendum durchgesetzt hat, gerade gegen eine parlamentarische Demokratie – und das aus gutem Grund gegen die Machteliten und entsprechend der in Gemeinden und verschiedenen Kantonen bestehenden Selbstbestimmung der Bürger.

Ich frage also an: Wer in Ihrer Kanzlei hat die einzig mögliche Demokratie als parlamentarische Demokratie definiert? Und wer hat definiert, dass alle Alternativen zu dieser Scheindemokratie undemokratisch sind? Und auf wen berufen Sie sich in Ihrer Definition? Kennen Sie noch die Gemeindedemokratie und die Direkte Demokratie auch auf Bundesebene als fortschrittliche Errungenschaft, auf die sich freiheitliche Bewegungen in der ganzen Welt als gute Möglichkeit der Selbstbestimmung berufen, um die Unzufriedenheit vieler Bürger zu überwinden? 

Wie Sie vielleicht nicht wissen, ist Demokratie als Volkssouveränität im Gegensatz zur Fürstensouveränität definiert. Demokratie bedeutet, dass das Volk souverän ist. Das Parlament ist lediglich dazu da, um vorübergehend, probehalber Gesetze zu definieren und vorzuschlagen. Es müssen immer die Gesetze der Bürger sein, sonst sind sie nicht legitimiert. Das Parlament muss in der Schweiz immer wissen, und tut das hoffentlich auch, dass die Bürger die beschlossenen Gesetze immer umstossen können, egal welches, wenn der Eindruck aufkommt, dass das Parlament den Willen der Mehrheit der Bürger verpasst hat. Das ist der Sinn des Referendums, durch das jedes Gesetz des Parlaments in Frage gestellt werden kann, weil es eben nur unter Zustimmung der Bürger Gesetz werden kann. Sie haben vielleicht vergessen: Gesetzgeber ist nicht das Parlament, sondern ist das Volk, die Bürger. Wie kommen Sie dazu, zu behaupten, Gesetze seien etwas, das über dem Willen der Bürger stehen könnte? 

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Gewaltenteilung von einem Herrn Montesquieu erfunden worden ist, einem französischen Monarchisten, der lediglich die Macht unter den Herrschenden aufteilen wollte und das Volk für zu dumm gehalten hat, um über sich selbst zu bestimmen. Die Gewaltenteilung sollte sogar das gemeine Volk davon abhalten, über sich selbst bestimmen zu können. Diese Gewaltenteilung ist für eine echte Demokratie zwar auch brauchbar, um die Machtmöglichkeiten zu verringern, macht aber nicht das Wesen selbst der Demokratie aus, nämlich die Selbstbestimmung der Bürger. Die Gewaltenteilung allein ist auch mit einem elitären autoritären Staat im Vergleich zum Absolutismus möglich, wie dies ja auch heute noch viele autoritäre Staaten zeigen. Wie kommen Sie dazu, die sinnvolle Gewaltenteilung innerhalb der Volkssouveränität als Gegensatz zur Volkssouveränität zu definieren? Wo ist Ihre demokratische Legitimation, das Schweizer Rechtsverständnis, das sich in den Volksrechten verdinglicht, umzudefinieren?

Die alte Frage ist, woher kommt Recht? Rechtsetzung ist in einer Demokratie die Rechtsetzung durch die souveränen Bürger. Die elitäre Definition und zum Teil auch die mystische Definition von Recht ist ein Recht, das über den Bürgern steht und das aus dem Ideenhimmel oder von höherstehenden Fürsten hervorgebracht wurde. Sie wissen vielleicht nicht, dass die Fürsten ihre Legitimation meistens davon abgeleitet haben, das Volk könnte nicht Recht setzen und Recht sprechen, weil es sich einfach verstreiten würde, weshalb es eine sich auf höhere Einsichten abstützende Elite bräuchte. Diesen Grundpfeiler für die Rechtfertigung einer Monarchie, einer Plutokratie oder einer Herrschaft der Auserwählten wie in der griechischen Demokratie, müssen Sie nicht wieder aus der Mottenkiste herausholen. Es handelte sich hier immer um eine Definition der Herrschenden oder derjenigen, die zu herrschen sich anschicken. Es soll dann einige Auserwählte geben, die dann besser urteilen, was Recht ist. Die Fürsten wollten immer das Volk vor sich selbst schützen und die Gedrückten und Gedemütigten gaben dem jahrhundertelang recht. Immer waren es fortschrittliche Kräfte und Aufständische in der Geschichte, nicht nur in der Schweiz, die sich getraut haben, diese Position in Frage zu stellen. Es wurde durch viele, auch blutige Kämpfe hinterfragt, dass die Rechtsetzung und Rechtsprechung durch Auserwählte, die einen besseren Zugang zu Gottes Willen behaupteten, zu erfolgen hat. Leider ist es nur in der Schweiz gelungen, dieses Prinzip der Hinterfragung über Jahrhunderte einigermassen aufrechtzuerhalten und aufgeklärte Geister, die die Beherrschung nicht mehr mitmachten, haben sich daran orientiert. 

Zu behaupten, die Selbstbestimmung durch die Bürger sei diktatorisch, ist obszön, denn die Auseinandersetzung in der Geschichte, im Humanismus, in der Aufklärung und in den demokratischen Bewegungen ging gerade darum, den Bürgern das Selbstbestimmungsrecht zu geben. Diktaturen gedeihen nicht und sind auf dem Boden der Selbstbestimmung der Bürger nie gediehen, sondern nur auf dem Boden der autoritären Machtentfaltung und der Niederschlagung von Volksaufständen gegen die Besserwisser und Machtbesessenen, die sich selbstverständlich immer ideologisch legitimiert haben. 

Woher nehmen Sie die Legitimation, in der Schweiz ein Rechtsverständnis einzuführen, das dem einer autoritären parlamentarischen Demokratie entspricht, in der sich einige Eliten aus Parteien unkontrolliert die Macht aufteilen, Souveränität aus eigenem Gusto aufgeben können, Währungen aus eigenem Gusto aufgeben, Verfassungen definieren, ohne sie den Bürgern jemals vorzulegen, wie dies in Deutschland mit dem Grundgesetz geschehen ist, oder in der EU geschieht, in der Rechte und Gesetze definiert werden, ohne dass die Bürger ihre eigenen Gesetze machen können?   

Mit ihrer Umdefinition des Schweizer Rechts und dessen Grundlagen untergraben Sie den Schweizer Rechtsstaat. Können Sie mir bitte mitteilen, woher Sie ihre Definition nehmen und worauf sie sich dabei beziehen  - nicht etwa auf die vielen Juristenprofessoren an Schweizer Universitäten aus Deutschland, denen man nicht verargen kann, dass sie die Umsetzung der Volkssouveränität mit Argwohn betrachten -  sondern aus der Schweizer Rechtsauffassung, die die Macht der Eliten bisher am besten zu verhindern wusste? 

Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass in einer Schweizer Demokratie auch die Richter den Bürgern gegenüber verantwortlich sind und nicht einer abstrakten Rechtsauffassung, die ebenfalls von Menschen definiert worden ist. Sie mag sehr gut sein oder auch nicht. In einer Demokratie setzen die Bürger ihre eigenen Rechte und Gesetze, sonst sind sie nichtig.

Woher haben Sie Ihre Auffassung, dass Recht ausserhalb der Bürger entstehen soll? Wer ist dann der Rechtssetzer ausser den Bürgern selbst? Menschenrechte entstehen aus Vernunftgründen, aus Wissen über den Menschen, aus der Diskussion der Bürger, aus der Auseinandersetzung mit der Realität. Übergeordnetes Recht ist ein Mysterium, das nicht existiert, es ist immer von Menschen definiert und das von Menschen definierte Recht wird auch hinterfragt und ist veränderbar.

Vielen Dank für Ihre Antwort  -  hoffentlich vor dem Abstimmungstermin -   und freundliche Grüsse

Diethelm Raff 
Präsident des Vereins für Direkte Demokratie

 

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