Brasilien - Aus Lula wird Mandela - Von Wolf Gauer, São Paulo 22.04.2018 19:58
Nach 37 Jahren hat Brasilien wieder einen politischen Gefangenen.
Am 7. April zur Mittagsstunde wird Luiz Ignácio Lula da Silva (72)
nochmals auf den Schultern seiner Wähler getragen. Rund 10 000 Menschen haben
sich vor dem Gewerkschaftshaus der Metaller versammelt, um den bedeutendsten
Präsidenten der brasilianischen Geschichte vor seiner Inhaftierung zu sehen, möglicherweise
zum letzten Mal - in São Bernardo bei São Paulo, wo er in den 70er Jahren die
historischen Streiks der Automobilarbeiter dirigierte und wo er als Dreher bei
VW einen Finger eingebüßt hatte. Lula tröstet: »Dieser Nacken wird
sich nicht beugen, und mit erhobenem Haupt werde ich zurückkommen«.
Der Arbeiterkanal TVT, die allmächtige Medienorganisation Globo, überträgt
die 70 Stunden Sendezeit auf die Negativdarstellung des ehemaligen Arbeiterpräsidenten
(2003-2011), nur streckenweise live. In den Wohnsilos meiner Nachbarschaft nur
zaghaftes Töpfeklappern der aufsteigenden Mittelschicht, der es mittlerweile
schon an die Arbeitsplätze geht. Gegen Abend hie und da Böllerschüsse. Etwa um
18.40 Uhr macht sich Lula von seinen Anhängern los und geht zu der wartenden
Bundespolizei. Bewegende Szenen auch am Flughafen vor dem Abtransport nach
Curitiba, Staat Paraná. Dort findet ein blutiger Polizeieinsatz gegen die
nächtlichen Ovationen für den ersten politischen Gefangenen seit der
Militärdiktatur statt. Einzelhaft in einer spartanischen Zelle erwartet den
Sohn einer analphabetischen Landarbeiterfamilie, der der Mehrheit der
Brasilianer zu gesellschaftlicher Inklusion verholfen hat - zum ersten Mal in
500 Jahren.
Fachleute aller Couleur stufen Lulas Prozeß als äußerst fragwürdig
ein. Die Richter dreier Instanzen hätten sich mehr auf ›Überzeugungen‹ als auf Beweise gestützt, auch auf kollegiale Konformität, wie
die Bundesrichterin Rosa Weber eingestanden hat, deren Votum Lulas Schicksal
besiegelte. Als Präsidentschaftskandidat der Arbeiterpartei (PT) sollte Lula da
Silva um jeden Preis von den Wahlen am 7. Oktober ausgeschlossen werden. Er
hatte nämlich seine zweite Amtszeit 2011 mit einer Zustimmungsrate von 87 %
beendet und lag nun mit einer Wahlvoraussage von 35 % weit vor den
Mitbewerbern.
Landesweit und in vielen internationalen Zentren wird gegen Lulas
Verurteilung protestiert. Musterhaft und in seltener Klarheit demonstriert sie
das Raffinement und die Methodik des globalen Kriegs ›Reich gegen Arm‹. Der
US-amerikanische Milliardär Warren Buffet bezeichnete ihn 2006 als ›Klassenkrieg‹: »Es ist meine
Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir werden gewinnen.« [New York Times vom 26. 11. 2006] Anno 2014 besaßen 85 Menschen schon genauso
viel wie die arme Hälfte der Menschheit [Oxfam].
Lulas Beseitigung wie auch die seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff
folgten weitgehend den Regeln der für den desinformierten Laien unsichtbaren ›hybriden‹ - gemischten, nicht unbedingt militärischen
- Kriegsführung, die von den USA weltweit praktiziert wird. Sie
verbindet politischen Druck mit Unterwanderung der Medien und
Kommunikationsmittel, mit Meinungsmache und Ausforschung der sozialen Netze,
mit massiver finanzieller, psychologischer und technischer Einmischung in
Wahlen und Verwaltungsprozesse. Entscheidungsträger werden ›gekauft‹, trainiert und zur
Ausformung eines fremdbestimmten ›tiefen Staats‹ angeleitet.
Michel Temer beispielsweise, jetziger Präsident Brasiliens und
Verschleuderer des Staatseigentums, war laut Wikileaks Informant der
US-Botschaft. Der Richter Sérgio Moro, der Lulas Verhaftung zustande brachte, wurde wiederholt in
den USA geschult. Der Senator Roberto Requião teilte seinem Plenum am 6. 4. 18
mit, daß Moros Haftbefehl »haargenau die Vorgaben des US-Department of
Justice, des US-Justizministeriums, erfüllt« »und nicht die legalen
brasilianischen Verfahrensregeln« [Brasil247].
Lulas eigentliches Vergehen ist nicht der nach wie vor unbewiesene
Vorwurf, eine Eigentumswohnung entgegengenommen zu haben, sondern die Tatsache,
daß es erst seine Amtszeit [wie
die seiner entmachteten Nachfolgerin Dilma Rousseff, 2011-2016] ist, die der
brasilianischen Demokratie zu einer völlig neuen sozialorientierten Sinngebung
verholfen hat.
Auf die Militärdiktatur [1964-1985] folgten zunächst nur dem Namen
nach sozialdemokratische, faktisch jedoch von den traditionellen Oligarchien
angeführte konservative Mitte-Rechts-Regierungen. Erst mit Lula begann die
Umverteilung des brasilianischen Reichtums in weniger als 10 Jahren. Laut
UN-Belegen wurden 36 Millionen Brasilianer von der Armut befreit, die
Kindersterblichkeit um 45 % und die Unterernährung um 82 % vermindert. Es
entstanden 18 weitere öffentliche Hochschulen. Inzwischen empfiehlt die Weltbank
die Schließung der kostenfreien, öffentlichen Universitäten und Präsident Temer
denkt auch schon daran.
Vollends unverzeihlich: Lula beendete die Endlosverschuldung beim
US-hörigen Weltwährungsfonds und verlegte die traditionelle vertikale
Denkausrichtung des Landes, den Blick zum US-Norden, in die horizontale Achse:
Fühlung mit Ost und West, mit Afrika, dem die Hälfte der 208 Millionen
Brasilianer entstammen und, zum Ärger der USA, mit Indien, China und Rußland. Lulas Brasilien wurde Mitbegründer des BRICS-Staatenbundes
und dessen unabhängiger Finanz- und Entwicklungsorganisationen.
Mit Lula da Silva wurde die Konvergenzfigur der sozial
fortschrittlichen Kräfte Brasiliens aus dem Weg geräumt. Der Gouverneur des
Staats Maranhão, Flávio Dino (PCdoB), sagt eine Verschärfung und
Polarisierung des politischen Konflikts voraus. Angesichts der 35 %, die Lula
wählen wollten, kündigt sich eine reaktionäre Gegenbewegung mit
fortschreitendem Verlust der demokratischen und sozialen Rechte an. Die
brasilianische Linke denkt an eine Neuformierung.
Luiz Ignácio Lula da Silva ist inzwischen von den
Friedensnobelpreisträgern Mohamed El-Baradei und Adolfo Perez Esquivel für die
gleiche Ehrung vorgeschlagen worden.
Der Kampf um Lulas Freiheit geht weiter.
Von Wolf Gauer finden sich zahlreiche Beiträge auf politonline
Quelle: https://www.seniora.org/wunsch-nach-frieden/der-wunsch-nach-frieden/aus-lula-wird-mandela.html Aus Lula wird Mandela – Von Wolf Gauer São
Paulo
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