Machtansprüche, Drohungen und Warnungen

d.a. Wer jetzt noch nicht erkannt hat, dass wir in den Augen der Politiker mehr oder weniger ein Nichts darstellen, müsste dies spätestens an Hand des nachstehenden Berichts von German Foreign Policy nachzuvollziehen in der Lage sein. Die dargelegten Gedankengänge, bei denen man nicht so recht weiss, ob man sie als Naivität oder Arroganz einstufen soll, beinhalten unter anderem die Vorstellung, den Bürgern die Sicht der Verfassungsbefürworter mittels einer Art "Mediengehirnwäsche" aufzwingen zu können. Offenbar wird auch das Europäische Parlament bereits in dieser Richtung beeinflusst, da dieses die ins Straucheln geratene EU-Verfassung retten und die öffentliche Debatte wieder beleben will. Es stellt sich immer wieder heraus, dass Abgeordnete und Parlamentarier über den Inhalt von Vorlagen, über die sie abzustimmen haben, überhaupt nicht resp. nur völlig unzureichend informiert sind. Diesen Anschein erweckt auch die Volksvertretung in Strassburg. Trotz des Neins der Niederländer und Franzosen fordert eine am 19. Januar mit deutlicher Mehrheit vom EP verabschiedete Entschliessung, dass der Verfassungsvertrag bis 2009 in Kraft treten soll. Das den Deutschen verweigerte Recht, ihrerseits abzustimmen, ist selbstverständlich kein Thema, was allein schon ein seltsames Licht auf die freiheitliche Gesinnung der hochbezahlten Abgeordneten wirft. Ob man diese überhaupt noch als Volksvertretung betrachten kann, wird auf Grund ihrer Abstimmungsergebnisse immer zweifelhafter.

Dadurch, dass Strassburg soeben den Weg für Bolkestein, ein alter Bilderberger, freigemacht hat, indem sie dessen umstrittene Dienstleistungsrichtlinie durchgewinkte, wird diesen Zweifeln Auftrieb gegeben. Strassburg hat damit eindeutig gegen die Interessen der EU-Bürger verstossen, denn der jetzt angenommene Text antwortet nicht auf die eindrucksvolle Mobilisierung, die bei verschiedenen Gelegenheiten gegen die Direktive stattfand. Die Partei der Europäischen Sozialisten (PES) hatte ihrerseits einen Zusatz zur völligen Zurückweisung der Bolkesteinrichtlinie vorgeschlagen, in der Überzeugung, damit den Erwartungen von Millionen europäischer Frauen und Männer entsprochen zu haben. Die PES will keine Direktive, die damit fortfährt, Wettbewerb zur Regel und den Schutz erworbener Rechte zur Ausnahme von Fall zu Fall zu machen. Noch ist das Ringen mit der EU-Kommission und dem Europäischen Ministerrat nicht beendet, so dass für die PES das Ziel der Zurückweisung der Richtlinie bestehen bleibt. Auch die vom EU-Parlament angenommene massive Überwachung der Telekommunikation dient nicht dazu, unser Vertrauen in diese Institution zu stärken.
 
Die angeblichen Verfechter unserer Interessen im EP haben ganz offenbar auch noch nicht konstatiert, dass die EU-Verfassung totalitäre Akzente enthält. Artikel 1-18 beinhaltet eine Generalermächtigung, die es der EU-Kommission gestattet, vor allem im Wirtschaftsbereich die Befugnisse der Länderparlamente der EU-Mitgliedstaaten völlig auszuhebeln. Auch für die Einschränkung der Grundrechte der EU-Bürger gibt es einen Paragraphen:  II-52. „Wenn es notwendig ist“, heisst es da lapidar, oder wenn etwas den „in der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ zuwiderläuft, können Grundrechte eingeschränkt werden. Doch wer legt notfalls fest, was Gemeinwohl ist und was diesem zuwiderlaufen könnte? Auch die Sicht der deutschen Bundeskanzlerin ist nicht uninteressant: Sie schlug letzten Dezember eine »Erklärung zur sozialen Dimension Europas« vor. Sie soll als Ergänzung zum unveränderten Verfassungstext den Franzosen und Niederländern das Vertragswerk wieder schmackhaft machen. Kosten darf die Sozialerklärung nichts. Sie wird rechtlich nicht bindend sein, beteuerte Merkel. Man fragt sich unwillkürlich, für was sie dann überhaupt entworfen wird. Günter Verheugen seinerseits stellt alles in den Schatten,  erteilt er einer verbindlichen europäischen Sozialpolitik doch eine unmissverständliche Absage. „Die soziale Kälte der EU sei nur eine gefühlte Kälte, die nichts mit der Realität gemein habe, konstatiert der Sozialdemokrat.“ Das sich in derartigen Aussagen offenbarende Demokratieverständnis dürfte zweifelsohne auf der Linie der Konzerne liegen, gleich, ob deren Vertreter in Davos, bei den Bilderberger-Konferenzen oder bei Sitzungen mit der Trilateralen Kommission resp. dem Council on Foreign Relations zusammenkommen.
 
German Foreign Policy - Klassenverweis
Berlin/Wien (Eigener Bericht) - Deutsche Regierungsberater drohen Frankreich und den Niederlanden mit einem Ausschluss aus der Europäischen Union. Man dürfe die "schmerzhafte Prozedur" eines "Klassenverweises" für "nicht ratifizierungswillige (...) Staaten" nicht ausschließen, kündigt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) den europäischen Gegnern einer Neuauflage des EU-Verfassungsentwurfs an. Deutsche Pläne sehen vor, das Dokument erst durch die österreichische und dann durch die finnische EU-Ratspräsidentschaft erneut auf die Tagesordnung setzen zu lassen, um während des deutschen EU-Vorsitzes im ersten Halbjahr 2007 eine Verabschiedung einzuleiten. Erst "am Ende des Ratifikationsprozesses" werde man wissen, "ob sich neue Chancen für eine friedliche Koexistenz mehrerer Integrationsmodelle ergeben", heißt es bei der SWP. Die implizite Drohung wiederholt ähnliche Provokationen aus den 1990er Jahren, als die deutsche Europa-Politik französische Widerstände aus dem Wege räumen wollte; nicht anders als damals geht es auch heute um den führenden Rang im innereuropäischen Konkurrenzkampf.
 
Unverbindlich hervorheben
Die Bundesregierung hat bereits im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD eine Fortführung des Ratifizierungsverfahrens für den EU-Verfassungsvertrag festgeschrieben und dazu "unter deutscher Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 neue Anstöße" angekündigt. [1] Obwohl der Entwurf nach den eindeutigen Voten in Frankreich und den Niederlanden definitiv gescheitert ist [2], führen mehrere Staaten (Estland, Belgien) Abstimmungen über das Dokument fort; im Juni werden sich die EU-Staats- und Regierungschefs unter österreichischer Ratspräsidentschaft erneut mit dem Text befassen. Die finnische Regierung, die der österreichischen im EU-Vorsitz folgt, werde ebenfalls "über die Verfassung nachdenken", kündigt der deutsche Politikberater Werner Weidenfeld an. Über die Pläne der Bundesregierung berichtet Weidenfeld, man wolle "dem unveränderten Verfassungsvertrag eine Ergänzung, ein Zusatzprotokoll" hinzufügen, in dem "die sozialen Aspekte Europas" unverbindlich "hervorgehoben" werden sollen. [3]
 
Schmerzliches Absinken
Wie Weidenfeld urteilt, lässt die zunehmende globale Machtentfaltung der EU eine straffere innere Verfasstheit auf Dauer unausweichlich erscheinen. "Je mächtiger Europa künftig sein wird", erklärt der Politikberater, "desto schmerzlicher wird das Fehlen einer Verfassung empfunden werden." Weidenfeld rät zu Geduld: Langfristig werde sich die EU "der Notwendigkeit, mehr Klarheit zu schaffen", ohnehin "nicht widersetzen können". [4] Zur Eile mahnt hingegen die SWP. Setze Berlin den Verfassungsvertrag nicht rasch durch, dann riskiere es, "dass die EU in die Liga der nicht reformfähigen Staatensysteme absinkt". [5] Es sei daher falsch, die "Option des 'Klassenverweises'" für widerstrebende Staaten auszuschließen. Dies trifft insbesondere Frankreich und die Niederlande, aber eventuell auch Großbritannien, Tschechien und Polen, wo weitere negative Referenden nicht ausgeschlossen werden.
 
Defizite
Um einen Stimmungsumschwung zu erreichen und aufgrund massiven deutschen Drucks hat die EU-Kommission jetzt mit einer Neukonzeption ihrer PR-Arbeit begonnen. Das Unvermögen, die Referendumsniederlagen in Frankreich und den Niederlanden zu verhindern, offenbare "schwere Defizite in der Kommunikationspolitik der Kommission", heißt es in einer Analyse der "Bertelsmann Forschungsgruppe Politik", die dem gleichnamigen Medienkonzern angegliedert ist. Anders hatten französische Journalisten im Mai 2005 die Lage eingeschätzt. "Was die Ausstrahlung der Debatte betrifft, grenzt die Einseitigkeit zugunsten des OUI an Propaganda", hieß es in einem Aufruf, in dem Medienvertreter die Befürchtung äußerten, die "Dauerberieselung" zugunsten des Verfassungsentwurfs sei geeignet, ihren Berufsstand "zu diskreditieren". [6] Bertelsmann verfügt über bedeutende Anteile am französischen Medienmarkt und steht im Verdacht, diesen Einfluss für die Durchsetzung des von Berlin beförderten Verfassungsentwurfs genutzt zu haben  [7] - vergeblich. Dies spornt die Verlierer zu neuen PR-Aktivitäten an.
 
Klassische PR
Entsprechende Maßnahmen erörtert das "Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik", das die EU-Kommission am 1. Februar veröffentlicht hat. Zu den darin enthaltenen Vorschlägen gehört die Absicht, den EU-Fernsehsender "Europe by Satellite" auszubauen und sämtlichen nationalen Fernsehanstalten fertig produzierte Beiträge anzubieten. Den Vorschlag, eine eigene Nachrichtenagentur zu installieren, hat die Kommission nach heftiger Kritik vorerst zurückgezogen, ohne den eingeschlagenen Weg korrigieren zu wollen. Die Aktivitäten zielen auf eine absichtsvolle Neutralisierung der öffentlichen Debatte mit Budgetmitteln der Exekutive und nähern sich den Methoden totalitärer Staatlichkeit. Diese Unterwerfung gesellschaftlicher Informationsgebung und kontroversen Meinungsaustausches unter behördliche Steuerung stößt bei der Bertelsmann-Forschungsgruppe auf keinerlei grundsätzliche Bedenken. [8] Die im "Weißbuch" aufscheinende Kommunikationsstrategie nennt der deutsche Think Tank "politische PR im klassischen Sinne". Dabei stehe "die Herstellung eines einheitlichen vertrauenswürdigen Bildes im Vordergrund". 
 
Drohungen
Die Ergebnisse dieser Anstrengung schätzt die deutsche "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) als ungewiss ein. Erst "am Ende des Ratifikationsprozesses" werde man wissen, "ob sich neue Chancen für eine friedliche Koexistenz mehrerer Integrationsmodelle ergeben", schreiben die Berliner Regierungsberater. [9] Damit wird auf die Konkurrenz deutscher und französischer Interessen angespielt: Versteht Berlin unter "Integration" eine möglichst weit reichende Ostverschiebung der EU bei gleichzeitiger Übernahme eigener Hegemonialrechte, so bevorzugt Paris den Ausbau der "Integration" durch "Vertiefung" - Ostverschiebung nur so weit als unbedingt erforderlich und auf keinen Fall zugunsten deutschen Machtzuwachses. Die jetzigen Erwägungen der Berliner Regierungsberater kündigen an, dass die deutsche Außenpolitik eine Kraftprobe nicht ausschließt - bei weiterem Widerstand gegen eine Neuauflage des kosmetisch geänderten Verfassungstextes könnte man sich zu einseitigen Schritten veranlasst sehen und eine Koalition mit den vertragswilligen osteuropäischen Staaten eingehen. Zum Schaden Frankreichs.
 
Krise
Die Drohung erinnert an Provokationen, die sich die deutsche Außenpolitik 1994 angelegen sein ließ. Damals forderte Wolfgang Schäuble, heute Innenminister der Großen Koalition, die "Eingliederung der mittelosteuropäischen Nachbarn in das (west-)europäische Nachkriegssystem". Für den Fall westlicher Widerstände "könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europas alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen". [10] Das Papier wurde am 1. September 1994 veröffentlicht - dem 55. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen. In der Folge kam es zu einer schweren diplomatischen Krise, die bis zum Rückruf des französischen Botschafters in den Elysée-Palast führte.
 
Sieger
Angesichts des inzwischen errungenen Wirtschaftseinflusses in Osteuropa fühlen sich bestimmende Kreise der deutschen Außenpolitik stark genug, Paris vor einer allzu engen Bindung an die Ergebnisse des Verfassungsvotums zu warnen. Deutschland ist mit Anteilen von 20 bis 35 % größter Lieferant und größter Abnehmer Polens, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und Sloweniens; weit abgeschlagen folgt Frankreich mit Werten von maximal 7 % (Ausnahme: Slowenien). [11] Mehr als ein Viertel der gesamten ausländischen Direktinvestitionen in den genannten Staaten kommt aus Deutschland, in Ungarn beläuft sich der deutsche Anteil an den ausländischen Investitionen sogar auf ein Drittel. Die überragende deutsche Stellung hat Berlin zum wirtschaftspolitischen Sieger der EU-Osterweiterung werden lassen; dem weiteren Aufstieg soll sich Frankreich beugen - wenn nötig auch durch "Klassenverweis".
 
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56248  vom 17. 2. 2006
[1] Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. IX. Deutschland als verantwortungsbewusster Partner in Europa und der Welt
[2] s. dazu Zusammenbruch und Am Boden sowie Aussitzen
[3], [4] EU-Verfassung gilt Ratspräsidenten als heiße Kartoffel; www.cap-lmu.de/aktuell/pressespiegel/2006/eu-verfasssung.php
[5] Nachsitzen, Sitzenbleiben oder Klassenverweis? Realisierungsperspektiven für den Europäischen Verfassungsvertrag; SWP-Studie 2006/S 04, Februar 2006
[6] s. dazu Diskreditiert
[7] s. dazu Imperium Germanicum
[8] Das Weißbuch der Kommission über eine europäische Kommunikationspolitik - ein Neuanfang europäischer Kommunikation?; Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, CAP Aktuell Nr. 1, Februar 2006
[9] Nachsitzen, Sitzenbleiben oder Klassenverweis? Realisierungsperspektiven für den Europäischen Verfassungsvertrag; SWP-Studie 2006/S 04, Februar 2006
[10] Überlegungen zur europäischen Politik; 1.9.1994
[11] Quelle: Statistisches Bundesamt