Israels staatlich geförderter Terrorismus - von Marwan Bishara - The Nation vom 14. Juli 2006

Die israelische Regierung unter Premierminister Ehud Olmert hat die Gefangennahme des Armee-Korporals Gilad Shalit ausgebeutet, um die geringer werdende Abschreckungskraft Israels für militante palästinensische Cliquen wieder herzustellen, die gewählte Hamas-Regierung zu zerbrechen und der Westbank ihre unilaterale Gebietslösung aufzuzwingen. Aber wenn sich der Staub allmählich wieder legt, hinterlässt die israelische Offensive gegen die besetzten Gebiete - und jetzt gegen den Libanon - eine Region mit noch mehr Zerstörung und Tod, und die israelische Regierung beharrt auf dem gleichen strategischen Stillstand. Darum muss Israel, statt gegen seine Nachbarn auszuholen, den verwerflichen Kreis von Provokationen und Vergeltung beenden, und sinnvolle Verhandlungen führen, um die Besetzung zu beenden.

Die Regierung Olmert stellt ihre Kampagne gegen die zivile Infrastruktur Palästinas auf drei Trugschlüsse: dass Israel keine Gewalt beginnt, sondern Vergeltung übt, um seine Bürger zu schützen, in diesem Fall einen gefangen genommenen Soldaten; dass seine Antwort maßvoll und nicht dazu gemeint ist, der breiteren Bevölkerung  zu schaden; und dass es nicht mit denen verhandelt, die es für Terroristen  hält.
 
Aber die Offensive Israels hat nicht vorige Woche begonnen. Die drei Monate alte israelische Regierung ist für die Tötung von 80 oder mehr Palästinensern, einige davon Kinder, in Angriffen verantwortlich, deren Ziele illegale außergerichtliche Morde und andere Bestrafungen waren. Die Hamas hat während der letzten sechzehn Monate einen einseitigen Waffenstillstand eingehalten, aber die fortgesetzten israelischen Angriffe machten eine palästinensische Vergeltung nur zu einer Frage der Zeit. (Palästinensische, nicht von der Hamas kontrollierte Splittergruppen hatten während dieser Zeit hausgemachte Raketen hin und wieder über die Grenze geschossen - fast immer mit geringen oder keinen Schäden oder Verletzung von Menschen- aber diese Gruppen blieben dabei, ihre Angriffe seien die Antwort auf israelische Provokationen.)
 
Seit dem Beginn der Intifada im September 2000 haben wiederholte israelische Bombardements und gezielte Tötungen von Palästinensern die Gewalt verstärkt und zum Tod von Israelis geführt. In der Tat sind  - nach dem US-amerikanischen Akademiker Steve Niva, der die Intifada dokumentiert hat - viele palästinensische Selbstmordattentate seit 2001 als Vergeltung für israelische Tötungen in der Zeit geschehen, als die Palästinenser sich  selbst  Zurückhaltung  auferlegten oder über Ruhe nachdachten. Dazu drei Beispiele: Israels Tötung von zwei führenden Hamas-Militärs in Nablus beendete einen fast zweimonatigen Waffenstillstand der Hamas, und führte zu dem schrecklichen Selbstmordanschlag der Hamas am 9. August in einer Pizzeria in Jerusalem. Am 22. Juli 2002 tötete ein israelischer Luftangriff  auf einen stark bewohnten Wohnblock in Gaza City den Senior-Führer der Hamas, Salah Shehada und vierzehn Zivilisten, davon neun Kinder, dies Stunden vor einer breit angekündigten einseitigen Waffenstillstandsdeklaration. Darauf erfolgte am 4. August ein Selbstmordattentat. Am 10. Juni 2003 versuchten die Israelis, den Senior-Politiker von Gaza, Abdel-Aziz al-Rantisi, zu ermorden, verwundeten ihn und töteten vier palästinensische Zivilisten; das führte zu einer Bombe in einem Bus in Jerusalem am 11. Juni, wobei 16 Israelis getötet wurden. Obwohl die Provokationen Israels Selbstmordattentate nicht rechtfertigen, zeigen sie, wie die Abschreckung ihre Wirksamkeit verloren hat, und warum die Quelle des Terrorismus zuerst und vor allem in ihrer Aggression und der Besatzung liegt. In diesem Kontext sehen palästinensische Zivilisten sich nicht als „kollaterale Schäden“ sondern als Opfer des Staatsterrorismus.
 
Was die Natur der ‚Vergeltung’ anlangt, so kann man die Zerstörung der zivilen Infrastruktur für 1,3 Millionen Palästinenser durch Israel kaum als „angemessen“ betrachten. Die israelische Armee begann ihre Offensive gegen den Gazastreifen in der letzten Woche mit dem Bombardieren von Brücken, Straßen und Elektrizitätsanlagen, und durch die Verhaftung von nahezu einem Drittel der in der Westbank stationierten Hamas-Parlamentarier und -Minister. (Gemäß der israelischen Presse hält der Sicherheitsdienst die gewählten palästinensischen Politiker als Tauschobjekt mit der Hamas fest.) Die Natur der israelischen Offensive ist es, mit unproportionierter Kraft zu bestrafen, zu überwältigen und zu vernichten, ohne Rücksicht auf die allgemeine Öffentlichkeit. Die Grundbedürfnisse der palästinensischen Bevölkerung abzuschneiden, ist nicht nur nicht gerechtfertigt, es ist die kollektive Bestrafung einer Zivilbevölkerung und gemäss dem Vierten Genfer Abkommen illegal.
 
Die Asymmetrie zwischen der militärischen Kraft Israels und Palästinas darf nicht in eine Asymmetrie des Wertes israelischer und palästinensischer Leben übersetzt werden. Die Palästinenser haben einen israelischen Soldaten gefangen genommen, aber Israel hält mehr als 9.000 Palästinenser in Gefangenschaft, von denen mehr als 900 unter ‚administrativer Haft’, d.h. ohne Gerichtsverfahren, einsitzen. Einige dieser Gefangenen sind länger als drei Jahre eingesperrt. Diejenigen in der internationalen Gemeinschaft, die die Freigabe des IDF-Soldaten fordern, müssten zumindest die schwere Strafe für palästinensische Frauen und Kinder in israelischen Gefängnissen ansprechen. Die israelische Regierung hat wie jede andere das Recht und in der Tat die Pflicht, ihre Leute zu schützen, aber nicht zu einem solch hohen Preis für die Palästinenser, deren Regierung ihre Glaubwürdigkeit wiederum daraus bezieht, dass sie ihr Volk verteidigt. Die Verwendung militärischer Kraft, um zu politischen Zwecken eine Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und einzuschüchtern - in diesem Fall die Palästinensische Autorität unter Druck zu setzen, die Hamas-Regierung zu unterminieren - ist genau die Definition von Staatsterrorismus.
 
In den 39 Jahren Besetzung haben die israelischen Versuche, die Palästinenser zu zähmen oder einzuschüchtern, stattdessen zu ihrem Ansporn und ihrer Radikalisierung geführt. Wäre es für Israel nicht an der Zeit, seinen Kurs zu wechseln ? Schließlich: in einem winzigen Land, wo die längste Entfernung, die israelisches und palästinensisches Territorium trennt, nicht mehr als 9 km beträgt, werden die Israelis niemals sicher sein, wenn die Palästinenser völlig unsicher sind. Deshalb haben die  harten Antworten der Israelis auf die Militanz der Palästinenser allgemein die Bedrohung der Israelis vergrößert, nicht verkleinert. Während von 1978 bis 1987 durch palästinensische Angriffe 82 Israelis getötet wurden, sprang diese Zahl in der darauffolgenden Dekade auf mehr als 400. Und in weniger als zwei Jahren der zweiten Intifada (29. September 2000 bis 29. Mai 2002) wurden mehr als 450 Israelis und 1’250 Palästinenser umgebracht, auf beiden Seiten waren es meistens Zivilisten.
 
Zuletzt: Wenn man die Weigerung Israels, mit ‚Terroristen’ zu verhandeln, betrachtet, zeichnen Israels frühere Verhandlungen mit der Hisbollah im Libanon ein anderes Bild. Israels Bombardement der elektrischen  Generatoren und seine Operation ‚Früchte des Zorns’ im Jahre 1996, die zum Massaker von Qana führte, schlug, wie viele andere Operationen zur Einschüchterung des libanesischen Widerstandes, fehl, was Israel zuletzt dazu zwang, durch eine dritte Partei mit denen zu verhandeln, die es für „Islamistische Terroristen“ hielt, und Hunderte von libanesischen und palästinensischen Gefangenen im Austausch für die sterblichen Überreste toter israelischer Soldaten freizulassen. Die weitergehende Saga hat wieder einmal die Absurdität gezeigt, Einseitigkeit als gangbare und sichere Lösung darzustellen. Und doch benutzt Olmert das Kidnapping eines Soldaten, um das historische Übereinkommen zu unterminieren, das Hamas mit der Fatah-Partei des PA-Präsidenten Mahmoud Abbas über eine gemeinsame Regierung und die de facto Anerkennung und Verhandlungen mit Israel, dem eingeschworenen Feind, erreicht hat. Ob wir es wollen oder nicht, die Hamas ist wie die Hisbollah ein Nebenprodukt einer unterdrückerischen Besetzung, nicht anders herum! Deshalb ist der Rückzug von einer exzessiven Verwendung von Gewalt und eine Konzentration aller Bemühungen auf ein ausgehandeltes Ende der Besetzung oberstes Gebot. Andernfalls wird Israel nur die Popularität der Hamas stärken und sie auf geheime Aktionen und Krieg zurückdrängen.
 
Marwan Bishara, palästinensischer Schriftsteller und Herausgeber, ist Dozent an der American University von Paris und Autor von Palästina/Israel „Friede oder Apartheid“