Die Bush-Regierung - eine «Juntokratie» von Prof. Bernd Greiner, Hamburg

Amerika führt einen Krieg ohne absehbares Ende, im Innern sind Freiheitsrechte in Gefahr. Wie konnte der Regierungsapparat der amerikanischen Demokratie zur Beute von Glaubenskriegern werden? «Wir sind jetzt ein Empire, und wenn wir in Aktion treten, schaffen wir unsere eigene Realität. Und während Sie diese Realität studieren, werden wir erneut handeln und andere, neue Realitäten schaffen, die Sie dann ebenfalls studieren können. Auf diese Weise werden sich die Dinge von selbst erledigen. Wir sind Akteure im Auftrag der Geschichte. Und Sie, Sie alle miteinander, werden aus der Distanz nur noch untersuchen können, was wir tun.» So ein Berater von George W. Bush, zitiert nach The New York Times Magazine vom 17.10.2004

Wenn George W. Bush das Problem wäre, hätten wir keine Probleme. Gewiss, diese wuchtige Feststellung provoziert umgehend Einwände:
Es ist doch nicht vorstellbar, dass ein anderer Präsident im März 2003 einen Krieg vom Zaun gebrochen und ein vorgeblich zu befreiendes Land ins Chaos gestürzt hätte! War es nicht George W. Bush, der internationales Recht vorsätzlich zur Disposition stellte und seinen Folterknechten Freibriefe ausstellte? Und trägt nicht er die Hauptverantwortung dafür, dass der vermeintliche «Kampf gegen den Terror» auf eine Politik zur Förderung des internationalen Terrorismus hinausläuft? Dennoch ist der eingangs formulierte Satz mehr als bloss ein Spiel mit Worten. Er enthält die Aufforderung, den Blickwinkel zu erweitern: Es ist nicht damit getan, sich allein auf die Person des Amtsinhabers zu konzentrieren und Trost im politischen Kalender zu suchen, der im November 2008 den Beginn von Bushs Rentenalter vorsieht. Vielmehr gilt es, nach einem Regierungssystem zu fragen, in dem institutionelle Korrektive chronisch ungenutzt bleiben, und nach einer politischen Öffentlichkeit, die nicht einmal mehr die Kraft zur Skandalisierung herrschender Zustände aufbringt.
 
Als vor einigen Jahren das Wort vom «kalten Staatsstreich» oder einem schleichenden Übergang zum «Caesarismus» in Washington die Runde machte, lag noch der Verdacht parteipolitischer Denunziation über dieser Anschuldigung. Mittlerweile ist in den Vereinigten Staaten eine Reihe detaillierter Studien erschienen, die am Beispiel des Irakkrieges die sachliche Berechtigung dieses Vorwurfs unterstreichen. Ehemalige Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrates wie Daniel Benjamin und Steven Simon rechnen das Scheitern des «Kriegs gegen den Terror» vor («The Next Attack»). David J. Rothkopf, Friedensforscher und Experte für Sicherheitsfragen, beschreibt die Machtstrukturen dieses Nationalen Sicherheitsrates («Running The World»). Renommierte Journalisten wie George Packer («The Assassins’ Gate»), Mark Danner («The Secret Way to War») oder die Pulitzer-Preisträgerin Dana Priest («The Mission») analysieren den Feldzug gegen den Irak und dessen Folgen. Allesamt amerikanische Studien, die auf dieser Seite des Atlantiks noch nicht recht angekommen sind, aber in den USA heiss diskutiert werden.
 
Die neuen Texte zeigen im Detail, wie Vizepräsident Richard Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seit Mitte September 2001, wenige Tage nach den Attacken auf New York und Washington D. C., die traditionell für den aussen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozess zuständigen Gremien, Ämter und Abteilungen ausschalteten und durch handverlesene Ad-hoc-Gruppen ihrer Wahl ersetzten. Noch vor dem Sturz der Taliban in Afghanistan war der Inner Circle um Bush zum Krieg gegen den Irak entschlossen. Allerdings rechnete er zugleich mit erheblichen Zweifeln und Widerständen im nationalen Sicherheitsapparat. Daher die Eile und die Skrupellosigkeit. Am Ende hatten buchstäblich alle, die bei der zügigen Vorbereitung des Krieges gegen Saddam Hussein im Weg standen oder der ideologischen Unzuverlässigkeit verdächtig waren, keinen Einfluss mehr auf den Gang der Dinge: weder die für den Nationalen Sicherheitsrat tätigen Experten noch die Chefs der Teilstreitkräfte, weder das Büro der Vereinten Stabschefs noch die CIA, oder die vierzehn anderen Geheimdienste der Regierung und schon gar nicht das Aussenministerium. An ihre Stelle trat eine «Koalition der Willigen» - dominiert von einem auf mehrere Dutzend Mitarbeiter erweiterten Stab im Büro des Vizepräsidenten, vom Office of Special Plans unter der Leitung des Rumsfeld ergebenen Douglas Feith und von der Counter Terrorism Evaluation Group, die einer langjährig für Terrorbekämpfung zuständigen Einheit des Pentagons vor die Nase gesetzt wurde. In dem Bemühen, die Existenz des nicht Existierenden glaubhaft zu machen - nämlich Saddams Massenvernichtungswaffen und seine Verbindungen zu Usama bin Ladin - wurden die meisten geheimdienstlichen Erkenntnisse aus dem Verkehr gezogen. Sie wurden durch zweckdienlich zurechtgebogene Daten ersetzt. Dieses Material schleuste man, indem man die üblichen Verfahrenswege umging, weiter an einen nach dem 11. 9. gutgläubigen Kongress und eine nicht minder einfältige Presse.
 
Das «alte Europa» wollte keine Politik der Lüge
Von einem Amerika-Besuch zurückkehrend, sprach der Chef der britischen Geheimdienste bereits im Sommer 2002 von der Unvermeidlichkeit eines neuerlichen Irakkrieges. Washington, so Richard Dearlove in einer Unterredung mit Premierminister Tony Blair, benötigte nur noch etwas Zeit, um «Informationen und Fakten […] der Politik anzupassen». Nachzulesen ist dies im «Downing Street Memorandum», das mittlerweile in einer von Mark Danner kommentierten Edition vorliegt. Diese Quelle verdeutlicht auch, wie Rumsfeld seine Unterscheidung von «altem» und «neuem Europa» verstanden wissen wollte. Altmodisch waren schlicht jene, die keinen Gefallen an einer Politik der vorsätzlichen Lüge fanden.
Von einem Kampf rivalisierender Fraktionen in der amerikanischen Hauptstadt zu sprechen, geht an der Sache vorbei. Was sich dort abspielte, war - in den Worten der kritischen Politik-Beobachter Daniel Benjamin, Steven Simon, Mark Danner, George Packer, Dana Priest oder David J. Rothkopf - nichts weniger als eine bürokratische Revolution. Man etablierte eine «Parallel-» oder «Schattenregierung», eine «Achse Cheney-Rumsfeld-Bush», die sich mit einem halben Dutzend Gleichgesinnter Praktiken zu eigen machte, die üblicherweise den Politbüros verblichener Imperien zugeschrieben werden. Wer eine akademische Ausdrucksweise wählt, müsste von einem Verfahren jenseits aller Legitimation sprechen. Wer nach einem politisch provokanten, aber begründeten Wortbild sucht, könnte von der Eroberung des Regierungsapparats durch skrupellose Autokraten sprechen oder gleich die Vokabeln «Putsch» und «Junta» verwenden. Jeder Vergleich ist durch die Expertise der genannten Autoren gedeckt.
 
Eine Frage steht freilich, die jüngsten Studien inbegriffen, nach wie vor unbeantwortet im Raum: Wie konnte das geschehen? Warum ist ein riesiger demokratischer Regierungsapparat so leicht zu manipulieren? Wie ist es um die vielbeschworenen Checks and Balances bestellt, die Widerlager der Verfassung gegen das Machtbegehren einer Minderheit? Warum konnte noch nicht einmal die allen Bürokratien eigene Trägheit bremsend wirken? Am besten greift man auf einen Klassiker der Zeitgeschichtsschreibung zurück: auf Arthur Schlesingers Buch über die «Imperiale Präsidentschaft». In einem ausführlichen Kommentar zur Verfassung von 1789 verweist der Harvard-Historiker auf die Grauzone präsidialer Befugnisse. Einerseits war den «Gründungsvätern» daran gelegen, die Exekutive zu disziplinieren und einzudämmen. Im Unterschied zu den machtvollkommenen Regenten Europas war der amerikanische Präsident gezwungen, beim Abschluss aussenpolitischer Verträge und im Falle einer Kriegserklärung die Zustimmung der Legislative, des Kongresses also, einzuholen. Andererseits konnte das Staatsoberhaupt diese im Prinzip «geteilte Macht» (Alexander Hamilton) unter bestimmten Bedingungen für sich allein reklamieren. Im Falle eines Überraschungsangriffs oder in Zeiten des Notstandes durfte er sich um der Rettung der Verfassung willen zeitweise über dieselbe hinwegsetzen - eine Kompetenz, die erstmals von Abraham Lincoln (Präsident 1860–1865) während des Bürgerkrieges bis zur Neige ausgeschöpft wurde. Aber in der Folgezeit meldete der Kongress erfolgreich seine Ansprüche an. Bis zum Ende der 30er Jahre hielten die Volksvertreter das Weisse Haus mit Neutralitätsgesetzen an der kurzen Leine und nannten dies «vorbeugende Risiko-Minimierung». Die Exekutive sollte erst gar nicht in Versuchung kommen, Gefahren zu provozieren: Letztere hätten in einen Notstand umgedeutet und für eine Machtverschiebung genutzt werden können, die mit der Verfassung unverträglich gewesen wäre.

Der vom Dezember 1941 bis Januar 1990 real existierende (oder phasenweise künstlich erzeugte) Ausnahmezustand hat die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Unter dem Eindruck des Überfalls auf Pearl Harbor trat der Kongress faktisch alle Kompetenzen, Notverordnungen im Inneren inbegriffen,  an Franklin D. Roosevelt (1933–1945) ab. Wie es um die Möglichkeiten zum «Rückbau» überschüssiger Macht am Ende des Zweiten Weltkrieges bestellt war, ist schwer zu sagen. Denn angesichts der Krisen und Aufgeregtheiten des kalten Krieges wurde noch nicht einmal der Versuch dazu gemacht. Es reichte allenfalls zu kosmetischen Korrekturen wie der Beschränkung präsidialer Amtszeiten auf acht Jahre. Von weitergehenden Schritten sahen die Gesetzgeber ab, auch und gerade, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, die «nationale Sicherheit» zu gefährden. Man liess Harry Truman (1945–1953) gewähren: Dieser schickte amerikanische Truppen nach Korea. Dass er den Kongress nicht befragte, begründete er mit dem Hinweis, als Oberkommandierender der Streitkräfte habe er auch jederzeit das Recht, den Kriegszustand auszurufen. Die Folgen dieser Anmassung sind nicht zuletzt aus dem Verlauf des Vietnam-Krieges bekannt.
 
Einladung zum Machiavellismus
Weniger geläufig ist die Art und Weise, wie die selbstherrliche Ausweitung präsidialer Befugnisse seit den frühen fünfziger Jahren institutionell unterfüttert wurde. Dazu hat David J. Rothkopf eine Studie vorgelegt. «Running the World», seine Insider-Geschichte des «National Security Council», ist besonders lesenswert, weil sie sich nicht im Dickicht von Details verliert, sondern den Blick für die grossen Linien bewahrt. Im Zuge des 1947 verabschiedeten «National Security Act» wurde mit dem «Nationalen Sicherheitsrat» (NSC) ein Gremium berufen, das der Papierform nach die wichtigsten Ministerien gleichberechtigt an der Willensbildung zur Aussen- und Sicherheitspolitik teilhaben liess. In der Praxis freilich entwickelte sich der NSC zu einer Art mit umfangreichen Beraterstäben ausgestatteten Parallelregierung. Er repräsentierte weniger den kollektiven Willen der Bürokratien, sondern diente dem Weissen Haus zum bedarfsgerechten Politikmanagement jenseits dieser Bürokratien - oder wahlweise gegen sie. Auf Dauer kommen die «Schattenkabinette» einer Einladung zum Machiavellismus gleich. Kein Präsident seit Harry Truman war gegen diese Versuchung gefeit. Einige reklamierten gar eine Art Gewohnheitsrecht und lieferten den Stoff für eine endlose Skandalgeschichte. Zwar führt von hier aus kein direkter Weg zur Lähmung aller Checks and Balances. Wohl aber ist damit gesagt: Das amerikanische System ist für Machtmissbrauch besonders anfällig. Durch den Zusammenbruch des konkurrierenden Sowjetimperiums ausgelöst, traten im Amerika der neunziger Jahre verschiedene Akteure und Gruppen auf den Plan, die das Politische radikal neu definierten: traditionelle kalte Krieger, neokonservative Intellektuelle und in der Wolle gefärbte religiöse Fundamentalisten. Streitlustig waren sie allesamt. Aber wie die Autoren George Packer, Dana Priest, Daniel Benjamin und Steven Simon in ihren Studien zeigen, standen sie sich wegen dieser Streitlust eben auch ständig gegenseitig im Weg. Nur in einem Punkt gab es keinen Dissens: Egal, ob man einer weltraumgestützten militärischen Hegemonie das Wort redete, für eine aktivistische, auf «Regimewechsel» in geostrategischen Kernzonen ausgelegte Projektion amerikanischer Macht eintrat oder weltanschaulichen Ordnungsphantasien anderer Couleur nachhing,  nichts von alledem war ohne eine Exekutive mit Blankovollmacht vorstellbar.
 
Kurz: die Lobrede auf eine «imperiale Präsidentschaft» ist der Archimedische Punkt, das gemeinsame Drittel dieser Entwürfe für eine «neue Weltordnung». Eben deshalb sollte man die allfällige Rede von der Rückkehr zum «Unilateralismus» nicht nur als Aufkündigung einer störenden - weil zu Kompromissen zwingenden - «multilateralen Aussenpolitik» verstehen. «Unilateralismus», das war auch eine innenpolitische, auf die uneingeschränkte Souveränität des Weissen Hauses gemünzte Formel: eine Kampfansage an den Kongress wie an zivilgesellschaftliche Akteure, denen für die Diskussion der Aussenpolitik allenfalls ein Katzentisch reserviert wurde. Ausgerechnet der Wahlsieg von George W. Bush im Jahr 2000 relativierte allerdings die Hoffnung, die Welt nach dem Willen der Neokonservativen neu modellieren zu können. Mochte auch eine Phalanx neokonservativer Missionare in den Stäben des Nationalen Sicherheitsrates Platz nehmen, mochten Schlüsselpositionen mit Hardlinern wie Rumsfeld oder Cheney besetzt werden - mit einer auf Wahlbetrug gegründeten Präsidentschaft liess sich kein Staat machen. Entsprechend orientierungslos dümpelte die Bush-Administration in den ersten Monaten vor sich hin. Eine Neuordnung des Mittleren Ostens kam ebensowenig zur Sprache wie andere Punkte des Projekts «Demokratie-Export». Die Bemühungen um eine andere Militärdoktrin gerieten unter das Friendly Fire der eigenen Generalität, und nach wenigen Monaten wurden Wetten auf einen vorzeitigen Abschied des Verteidigungsministers angenommen. Das Ende eines hochfahrenden Unternehmens schien gekommen, ehe es richtig begonnen hatte.
 
Hier nun liegt die Pointe unserer Autoren: Die aus dem Lot geratene Machtverteilung zwischen ausführender, gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt bietet auch den Schwachen ein Einfallstor. Das Attribut «imperial» ist nicht für Charismatiker vom Format eines Lincoln, Franklin D. Roosevelt oder Kennedy bestimmt. Im Gegenteil: gerade ein «Zufallspräsident» wie George W. Bush kann sich über Nacht zum politischen Usurpator aufschwingen. Die erste wichtige Voraussetzung war mit  dem 11. 9. gegeben, einem unerwarteten, schockartigen Ereignis, das die Gesellschaft über Wochen und Monate hinaus lähmte. Deshalb kommt der Bush-Kritiker George Packer wiederholt auf ein Zitat von Richard Perle zu sprechen: «Die Welt begann mit dem 11. 9. Eine intellektuelle Vorgeschichte gibt es nicht.» Und fügt zu Recht hinzu, dass der zweite Teil des Zitats nicht stimmt. Anders ausgedrückt: Mit einem anderen politischen Personal hätte die Entwicklung tatsächlich einen anderen Verlauf genommen. Die Hoffnung, dass die Regierung ihren Kurs ändert, richtet sich auf die amerikanische Öffentlichkeit. An Informationen fehlt es nicht. Über die Bush-Administration ist mehr bekannt als über die der meisten Vorgänger.
 
Gottes Botschafter im Weissen Haus
George W. Bush aber hatte eine kleine Gruppe um sich versammelt, die das Selbstbild von «Illuminati» pflegte: von Geheimbündlern und Verschwörern, mit höherer Einsicht gesegnet und zu einer revolutionären Mission auserkoren. Die Veränderung der Welt ist ihnen nicht  Aufgabe, sondern Auftrag. Wer dem weltanschaulichen Profil von Männern wie Richard Cheney, Paul Wolfowitz, Donald Rumsfeld, Richard Perle oder Douglas Feith nicht die gebührende Aufmerksamkeit widmet, begreift ihre skrupellose Entschiedenheit ebensowenig wie die seit dem Herbst des Jahres 2001 entfesselte Dynamik. Gleiches gilt für das religiöse Welt- und Gesellschaftsbild des Präsidenten. Nach der Lektüre der aktuellen Bücher von Benjamin, Simon, Packer oder Rothkopf dürften auch die hartnäckigsten Zweifler davon überzeugt sein, dass George W. Bush meint, was er sagt - nämlich die Rolle als Gottes Botschafter ausfüllen zu müssen. Wie immer der Anspruch auf Selbstermächtigung definiert sein mochte, zu realisieren war er nur unter einer weiteren Bedingung: dass es gelang, die Ausnahmesituation in einen permanenten Ausnahmezustand umzudefinieren. Der Staatsapparat konnte erst in dem Augenblick zur Beute von Weltanschauungskriegern werden, als Bushs Anspruch auf «grenzenlose Kompetenzen» in Kriegszeiten auch öffentlich bestätigt wurde.
 
Womit wir wieder bei der Frage nach den politischen Strukturen wären, jenseits des handelnden Personals. Woher rührt das Einverständnis der Bevölkerung, des Souveräns? Wieso wiesen Kongress und Öffentlichkeit das Ansinnen zu ihrer eigenen Entmachtung nicht zurück? Warum konnte George W. Bush im November 2004, zu einem Zeitpunkt, als der Irak im Chaos versank und die Kriegslügen allseits bekannt waren, einen Erdrutschsieg einfahren? Eine systematische Diskussion dieses Problems steht bis dato aus. Aber immerhin geben unsere Autoren wichtige Fingerzeige. Es geht ihnen vor allem um die nationale Meistererzählung, die als mythologischer Kitt seit der Gründerzeit von Generation zu Generation weitergereicht wird. Diese Erzählung handelt von Amerika als einer besonderen, zum freiheitlichen Vorbild der übrigen Welt erwählten Nation. Allerdings sollte diese Nobilitierung des Eigenen nicht mit Selbstsicherheit gegenüber dem Fremden verwechselt werden. Im Gegenteil. Gerade wenn die Ausnahmestellung mit einem Ausrufezeichen versehen wird, tritt deren Kehrseite markant hervor, die Angst vor einer fremden Umwelt und die Unterstellung, jenseits des Gelobten Landes herrschten nur Neid und Missgunst, von dem Bestreben befeuert, das Vorbild Amerika zu Fall zu bringen. Daraus bezieht der Unilateralismus - das Pochen auf eine Handlungsfreiheit, die von Dritten unbehelligt bleibt - seine Energie. Schlägt die gefühlte in eine real erfahrene Bedrohung um, ist die Versuchung zu einer von Rache geleiteten Politik gross. Diesen Impuls zu zügeln, bereitete selbst Präsidenten wie Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt Schwierigkeiten. George W. Bush machte erst gar nicht den Versuch. Er reklamierte von Anfang an das Recht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und die Gesetzlosigkeit der anderen mit der Suspendierung eigener Gesetze zu bekämpfen.
 
Folter? Ein Zeichen für Entschlossenheit
Eben darum - so die Juristen Stephen Holmes und David Luban in dem Sammelband «The Torture Debate in America» - wurde Bush mit erdrückender Mehrheit wiedergewählt: weil er den Eindruck eines Oberkommandierenden vermittelte, der zum Sieg über den Terrorismus befähigt, da er noch weniger Skrupel kennt als seine Gegenspieler. Und eben darum kosteten die Bilder von Abu Ghraib keine Wählerstimmen, hat das System der Folter sein Bekanntwerden überlebt. Der Folter, so lässt sich mit Holmes und Luban argumentieren, eignet ein publikumswirksamer Symbolwert: Sie steht für Entschlossenheit und Unbarmherzigkeit. Wer sich ihrer bedient, um den gottgewollten Freiheitsweg zu bewahren, braucht sich weder zu rechtfertigen noch zu entschuldigen. Wenn diese Interpretation aber zutrifft, können Korrekturen an einer heute populären Interpretation der Malaise américaine nicht ausbleiben. Soll heissen: ein präziseres Nachdenken über Rolle und Funktion des christlichen Fundamentalismus scheint vonnöten. Gewiss verdankt Bush dieser Klientel einen Gutteil seines Rückhaltes. Und zweifellos hat deren Auftreten zur neuerlichen Popularisierung manichäischer Schwarz-Weiss-Deutungen beigetragen, zu der Selbstverständlichkeit, mit der eine «Ausmerzung des Bösen» verlangt und die Welt in klar geschiedene Wir- und Sie-Gruppen aufgeteilt wird.
 
Unbestreitbar ist schliesslich, dass Amerikas Kultur und Gesellschaft nur versteht, wer die prägende Kraft seiner Religionen verstanden hat. Doch ganz davon abgesehen, dass man in den jüngsten Dekaden eine an die Awakenings des 19. Jahrhunderts erinnernde Politisierung der Religion beobachten kann, bleibt die Frage: Braucht man tatsächlich eine politisierte Religion, um den öffentlichen Diskurs über Politik in den Denkschablonen von Kreuzzüglern einzusperren? Nach der Lektüre von Haynes Johnsons Abhandlung «The Age of Anxiety» über das Amalgam von Überheblichkeit und Angst als einer Grundkoordinate des amerikanischen Selbstbildes muss man diese Frage eher verneinen. Zumal Johnson überzeugend darlegt, dass die «Zivilreligion», also der «säkularisierte Glaube» an den Ausnahmestatus des eigenen Gesellschaftsmodells, zum Entwurf kruder Feindbilder, auch zur Aktualisierung von Verfolgungswahn, völlig ausreicht. So gesehen bedarf es keines «wiedergeborenen Christen» im Weissen Haus, um einen «Kampf der Kulturen» zur Grundlage des eigenen Überlebens zu stilisieren. Was immer man von dieser Lesart halten mag, sie drängt zu einer Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen politischer Selbstkorrektur. Wie ist es um den Willen bestellt, aus Fehlentwicklungen die naheliegenden Schlüsse zu ziehen und einen anderen Kurs einzuschlagen? Mit Blick auf die gegenwärtige Regierung scheint keine noch so pessimistische Erwartung übertrieben.
 
Man fühlt sich in die Lage der Reporterin und Historikerin Barbara Tuchman zurückversetzt. Tuchman wollte in den späten sechziger Jahren wissen, warum seit John F. Kennedy keine Administration eine Exit Option aus Vietnam wahrnehmen konnte, genauer gesagt: wahrnehmen wollte. Obwohl, wie hinlänglich dokumentiert, die politischen und militärischen Berater Alternativen formuliert und nachdrückliche Warnungen vor den katastrophalen Folgen des eingeschlagenen Kurses vorgetragen hatten. Tuchmans damalige Beobachtungen - der Buchtitel «Die Torheit der Regierenden» eingeschlossen - könnten aktueller nicht sein. Sie sprach, mit Blick auf Präsident Lyndon B. Johnson und dessen Verteidigungsminister Robert McNamara von einer an das Unfehlbarkeitsdogma der Päpste erinnernden Hybris. Sie deutete die Regression politischen Denkens als Ausdruck eines blinden Vertrauens in die Unbesiegbarkeit des eigenen Militärs und erinnerte an die Selbstbezüglichkeit aller «Empires» in der Nachfolge Roms.
 
30 000 tote Zivilisten für die «Demokratie»
Der Publizist Leslie Gelb, während des Vietnamkrieges bei der «New York Times» beschäftigt und unter Bill Clinton im Aussenministerium tätig, hat darauf hingewiesen, dass Tuchman mit ihren vielfach variierten Hinweisen auf Voluntarismus und Dezisionismus zwar eine zutreffende Beschreibung gewählt hat; in der Analyse aber müsse man einen Schritt weitergehen: Das Versagen ist als zu erwartende, wenn nicht unhintergehbare Folge der «imperialen Präsidentschaft» zu deuten. Wer sich nämlich aus Gründen des Machterhalts oder des Misstrauens gegen andere dem Group Think verschreibt und nur die ohnehin Einverständigen am Prozess der Meinungsbildung teilhaben lässt, ist auf die kreisende Bewegung im Ewiggleichen festgelegt. Deshalb lässt sich Tuchmans Studie auch in einem Satz resümieren: «Das System funktionierte.» Dennoch: die Besonderheiten des Bush-Teams fordern selbst im Rahmen der «imperialen Präsidentschaft» einen ungewöhnlich hohen Preis. In den erwähnten Studien zur Irakpolitik, erst recht aber in den Erinnerungen von L. Paul Bremer - der als Bushs Statthalter und Chef der Coalition Provisional Authority binnen eines Jahres für stabile Verhältnisse im Irak sorgen sollte - wird im Detail festgehalten, dass diese Regierung keinerlei Vorstellungen für die Nachkriegszeit hatte, von Planungen gar nicht zu reden. Mehr noch: Rumsfeld und sein Team verhinderten vorsätzlich die Rekrutierung einschlägig qualifizierter Mitarbeiter und die Ausarbeitung entsprechender Expertisen. Was nicht dem Gebot eines schnellen Sieges und eines raschen Rückzugs entsprach, wurde untersagt. Mit dem Ergebnis, dass man in den Irak einmarschierte, ohne seinen Feind zu kennen: jene Milizen, die sich bereits im Vorfeld auf die Intifada für die Zeit nach Saddam vorbereitet hatten und mangels alliierter Sicherungstrupps imstande waren, Millionen Tonnen Sprengstoff und Waffen aus Depots zu stehlen. Mittlerweile verüben sie bis zu 80 Anschläge pro Tag. Verglichen mit der Belagerung der Green Zone in Bagdad erscheint heute der Beschuss der Stellung Khe Sanh in Südvietnam wie ein Scharmützel. Letzteres forcierte Lyndon B. Johnsons Entscheidung zum Rückzug. «Bush hingegen ist Johnson im Quadrat», so Leslie Gelb im Gespräch mit George Packer. «Er glaubt tatsächlich daran, dass er gewinnen kann. Wenn es je einen Gläubigen gegeben hat, dann Bush. Wir reden über jemanden, der von allen Informationen jenseits der offiziellen Linie abgeschnitten ist.» Nur so sst erklärbar, dass Bush eine bis dato erreichte Zahl von 30 000 getöteten irakischen Zivilisten für eine um der «Demokratie» willen zu vernachlässigende Grösse hält. Die Hoffnung auf einen neuen Kurs der amerikanischen Regierung muss folglich auf die Aussenwelt gerichtet sein, vorab auf die amerikanische Öffentlichkeit. An Informationen fehlt es ihr nicht. Ironischerweise ist über das Innenleben einer Administration, die sich wie keine andere hermetisch abzuschotten sucht, mehr bekannt als über die meisten ihrer vergleichsweise publikumsoffenen Vorgänger. Seit dem Herbst 2001 liefern verprellte Bürokraten, meist anonym, skandalträchtigen Stoff, aus dem auch die hier vorgestellten Bücher gemacht sind. Allein - die Reaktionen bleiben aus. Oder man belässt es bei einem achselzuckenden «Und was gibt’s sonst noch Neues?».
 
So im jüngsten Fall, als bekannt wurde, dass sechs pensionierte ranghohe Generäle Rumsfeld zum Rücktritt aufforderten, weil er sich weigerte, die Nuklear-Option aus den Planungen für einen möglichen Luftschlag gegen den Iran zu streichen. Mark Danner bezeichnet diese Teilnahmslosigkeit deshalb als «Age of Frozen Scandal», als Zeit der schockgefrorenen Skandale, in der essentielle Kontrollmechanismen nicht mehr greifen.
In den siebziger und achtziger Jahren pflegte die Presse dergleichen Hinweisen nachzugehen. Der Kongress setzte Ermittlungsausschüsse ein und bemühte in besonders schweren Fällen Sonderstaatsanwälte oder Gerichte. Heutzutage ist selbst das «Downing Street Memorandum» keine Titelgeschichte wert. Und die Legislative treibt ihre seit Oktober 2002 offensichtliche Selbstentmachtung konsequent weiter. Damals hatte man die Zustimmung zum Krieg an die Bedingung geknüpft, dass der Präsident weitere Beweismittel zur Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak vorlegte. Bekanntlich ignorierte Bush dieses Ansinnen. Die angekündigte Untersuchung wurde nach der Wiederwahl im Jahr 2004 eingestellt. Dass Bushs Umfragewerte mittlerweile auf dem tiefsten Punkt angelangt sind, besagt demgegenüber nicht viel. Der konservative Mainstream entzog einst auch Lyndon B. Johnson das Vertrauen und bescherte Jahre später Richard Nixon einen Erdrutschsieg - vor dem Hintergrund eines eskalierenden Luftkriegs in Vietnam.
 
Durchaus mit Gewalt – wenn’s dem Sieg dient
«Get out or win» lautete damals die Parole. Wie es scheint, hätte eine Mehrheit auch heute nichts gegen eine «Siegstrategie», vulgo: gegen Gewalt, einzuwenden. Wen kümmern die Mittel, wenn ein Sieg dabei herausspringt? Eben darauf zielt Mark Danners Rede von der «politischen Eiszeit». Amerika streitet nicht mehr. Die oppositionellen Demokraten sind froh, wenn ihnen der neokonservative «Vordenker» Francis Fukuyama mit einem Buch von erschreckender Banalität und Provinzialität (soeben übersetzt: «Scheitert Amerika?») Anlass zur Häme gibt. Ein Autor, der Cheney und Rumsfeld vorhält, keine wahrhaftigen Intellektuellen zu sein und im übrigen einem «Missionarismus light» das Wort redet, hat in der Tat nichts anderes verdient. Doch in Ermangelung eigener Ideen fällt die Blamage auf die demokratischen Spötter zurück. Und der Beobachter von aussen? Dem bleibt nicht viel ausser Ratlosigkeit und Kopfschütteln. Kann es wirklich sein, dass Amerika zum Streit mit sich selbst keine Kraft mehr aufbringt, weil es den Glauben an die Überzeugungskraft seiner Ideale verloren hat? Sollte David J. Rothkopf mit der Vermutung richtig liegen, dass dieses Land mental nicht im Zeitalter der Globalisierung angekommen und von dessen Verwerfungen überfordert ist? Man will es nicht wahrhaben. Denn träfe dies nicht zu, hätte George W. Bush dies seinerzeit nicht kenntlich gemacht, als er unter dem Eindruck des 11. Septembers 2001 den Rat gab: «Geht einkaufen.» 
 
Quellle: www.zeit-fragen.ch  vom 17.7.06
 
Bernd Greiner. Jahrgang 1952, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung und lehrt als Professor nordamerikanische Geschichte an der Universität Hamburg. Soeben erschien der von ihm mitherausgegebene Band «Heisse Kriege im Kalten Krieg».
 
Besprochene Literatur:
Daniel Benjamin, Steven Simon. The next Attack, The Failure of the War on Terror and a Strategy for Getting it Right. New York 2005.
L. Paul Bremer III, with Malcolm McConnell. My Year in Iraq. The Struggle to Build a Future of Hope. New York 2006.
Mark Danner. The Secret Way to War. The Downing Street Memo and the Iraq War’s Buried History. New York 2006.
Francis Fukuyama. Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert. Berlin 2006.
Karen J. Greenberg (Hg.). The torture Debate in America. New York 2006.
Haynes Johnson. The Age of Anxiety. McCarthyism to Terrorism. Orlando/New York 2005.
George Packer. The Assassins’ Gate. America in Iraq. New York 2005.
Dana Priest. The Mission. Waging War and Keeping Peace with America’s Military. New York 2003.
David J. Rothkopf. Running the World. The Inside Story of the National Security Council and the Architects of American Power. New York 2005.
Arthur Schlesinger Jr. The Imperial Presidency. Reprint: Mariner Books, Boston 2004.
Barbara Tuchmann. Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Frankfurt am Main 2003.