Massenmord - Von Doris Auerbach

Die Zahl der in Afghanistan getöteten Widerstandskämpfer wächst in einem unheimlichen Ausmass. Erschreckend ist, dass sie fast immer als mutmassliche Extremisten bezeichnet werden. Es kann sich also jeweils sowohl um Gegner der Besatzungsmacht als auch um Zivilisten handeln. Es scheint offenbar niemandem mehr daran gelegen zu sein, hier vor dem Eingreifen noch eine genaue Unterscheidung zu treffen; es wird ganz einfach bombardiert resp. erschossen. Letztlich rechtfertigt der täglich missbrauchte Terror alles, so dass jeder, der sich den unter dem beispiellos zynischen Begriff ?Enduring Freedom? - in Wahrheit eher ?Ewige Knechtschaft? - operierenden Angriffstruppen in den Weg stellt, von deren entfesselter Vernichtungswut bedroht ist. An der im August 2006 durchgeführten Militäroffensive «Operation Mountain Thrust», der grössten seit dem Sturz der Taliban 2001, waren mehr als 10.000 Soldaten der Koalitionstruppen - vor allem aus der USA, Kanada und Grossbritannien - sowie afghanische Soldaten beteiligt. (Bild: Festnahme mutmasslicher Terroristen in der südwestpakistanischen Stadt Quetta Mitte August 2006)

Man muss sich vor Augen führen, dass US-Vertreter, die zusammen mit den NATO-Partnern fordern, dass sich Deutschland jetzt auch im gefährlichen Süden des Landes - wo die heftigsten Kämpfe toben - engagieren soll, nicht länger verbergen, was die anhaltende Bekämpfung der Taliban in Tat und Wahrheit bedeutet: Deutschland müsse endlich einsehen, dass es in Afghanistan auch ums Töten der Feinde gehe, lautet einer ihrer Kernsätze. 1 So, wie es aussieht, geht es in der Tat nur noch ums Töten: Gefangene, die die US-Truppen doch machen, werden nicht, wie im Völkerrecht und Kriegsvölkerrecht festgeschrieben, als Kriegsgefangene behandelt, sondern als sogenannte ‚unrechtsmässige Kämpfer’ festgehalten und zum Teil nach Guantánamo verbracht. Offenbar lautet der an die deutschen KSK-Truppen ergangene Auftrag, die Taliban ‚wenn nicht anders möglich’ gefangenzunehmen, womit dem Töten unleugbar oberster Rang eingeräumt wird. 
 
Seit Anfang des Jahres und mit  Juli 2006 sind in Afghanistan mehr als 1.300 Menschen bei Kämpfen ums Leben gekommen, die meisten von ihnen werden - für niemanden von uns nachprüfbar - als Aufständische bezeichnet. Die Bilanz für den Monat Juni allein liegt bei mehr als 600 getöteten mutmasslichen Taliban-Kämpfern. Anfang August sind  bei Gefechten in der südafghanischen Provinz Helmand mindestens 18 Kämpfer der radikal-islamischen Taliban und ein Polizist getötet worden. Im September lag die Zahl weiterer getöteter mutmasslicher Taliban-Kämpfer bei rund 145, im Oktober bei 315; hinzu kommen mehr als 60 Zivilisten, die Ende Oktober in Südafghanistan ums Leben kamen. Dies sind Pressemeldungen entnommene Zahlen, bei denen nicht genau eruierbar ist, ob die Zahl der Getöteten jeweils nicht noch wesentlich höher liegt und ob sich unter diesen mutmasslichen Rebellen in Wirklichkeit nicht doch ein hoher Anteil an Zivilisten befindet. Was gefangen genommene Widerstandskämpfer betrifft, so wird selten eine präzise Zahl angegeben, es sind dann meist ‚mehrere’, was natürlich einer Verschleierung ihrer Verschleppung dienlich ist.
 
Wie die Junge Welt vom 6. 10. 06 2 ausführt, übernahm Brüssel Anfang Oktober das Kommando über die als Mission (!) bezeichneten Militäreinsätze in ganz Afghanistan, was die rund 12 000 der im Osten Afghanistans stationierten US-Soldaten einschliesst. Die Übergabe verdeutliche »das anhaltende Engagement der NATO und ihrer internationalen Partner für die Zukunft dieses grossartigen Landes«, schwärmte Generalleutnant David Richards, der gleichzeitig zum Vier-Sterne-General befördert wurde. Man muss sich einmal vorstellen, auf welcher Basis! US-Generalleutnant Karl Eikenberry erklärte am 5. 10. bei einer kleinen militärischen Feierstunde, die Zusammenlegung werde die Truppe »effektiver« und »flexibler« machen. Wenn man bedenkt, dass der Stabsgefreite Trevor Coult erklärte, dass es sich bei den jetzigen Kämpfen um die schwersten seit dem Koreakrieg handelt und Afghanistan als den schlimmsten Ort bezeichnet, an dem er je war, so kann es hier unmöglich irgendetwas zu feiern gegeben haben. Was die US-geführte Kriegskoalition betrifft, so behält sie [selbstredend !] die Kontrolle über den Stützpunkt Bagram, einschließlich der dortigen Gefängnisse und Folterzentren. 2
 
Die von der NATO neu eröffnete Front zwang laut UNO Zehntausende zur Flucht. Das UN-Flüchtlingshilfswerk ­UNHCR tat unterdessen das Übliche: es schlug Alarm. Dies und die Forderung an die Internationale Gemeinschaft, die finanziellen Mittel aufzubringen, um die  Folgen des von der anglo-amerikanischen Ölmacht inszenierten, als koloniale Unterwerfung zu betrachtenden Afghanistankriegs zu schultern, sind praktisch die einzigen Aktivitäten dieser von uns teuer bezahlten und meist gänzlich ohne Einfluss bleibenden Institution. Dazu kommen noch die Vorwürfe, die wir uns von der Spitze des UNHCR anhören müssen, wenn den Staaten vorgeworfen wird, zu wenig für die Kriegsflüchtlinge und Asylanten zu tun. Mit keinem Wort wendet man sich an die Kriegstreiber selbst resp. an die Rüstungsgiganten. Rund 15’000 Familien waren vor den NATO-Offensiven geflohen. Betroffen waren vor allem die Provinzen Kandahar, Urusgan und Helmand. Die NATO selbst behauptet, bei der verschärften Offensive im Süden Afghanistans - in die auch die Bundeswehr involviert ist - seien mehr als tausend islamische Kämpfer ums Leben gekommen. Zudem sollen 19 ISAF-Soldaten und mehr als 50 afghanische Zivilisten getötet worden sein 2. Die Stimmung gegenüber den ausländischen Truppen in Afghanistan verschlechtert sich, da die Aufregung über die zivilen Opfer, die die Angriffe in Südafghanistan kosten, immer grösser wird. Der Militärführer der radikalislamischen Kämpfer, Mullah Dadullah, sprach jetzt von einem Völkermord. Man werde in den kommenden Tagen mehr Selbstmordanschläge gegen ausländische Truppen verüben: ‚Die Taliban werden die Mörder afghanischer Frauen und Kinder nicht in Frieden lassen, sondern sie weiter angreifen.’
 
Das Töten von Gegnern geschieht auch in Pakistan, dem ehemaligen Helfer der USA, Saudiarabiens und der CIA beim Aufbau des Djihads und der Taliban, die man jetzt mit allen Mitteln zu vernichten trachtet, da sie sich den Plänen der USA zu widersetzen gewagt hatten. Hauptangriffsziel ist offensichtlich Nord-Waziristan im Grenzgebiet zu Afghanistan, wohin nach dem Sturz der Taliban Ende 2001 zahlreiche radikal-islamische Rebellen geflüchtet sind. Dort kommt es immer wieder zu Kämpfen und Anschlägen auf die Armee des wie eh und je engstens mit der USA verbündeten Pakistans. Am 30. 10. griff die pakistanische Armee erneut ein mutmassliches Trainingszentrum militanter Islamisten in Nord-Waziristan an und tötete fast 80 Menschen. Nach Aussagen der dortigen Bevölkerung handelte es sich in Wirklichkeit jedoch um eine Koranschule. Bereits am 6. 4. 06 hatten pakistanische Soldaten bei Kämpfen in dieser Gegend mindestens 40 Talibankämpfer getötet, am 7. 6. 06 15 bis 20 mutmassliche Muslimextremisten. Die Zahl der im März 2006 getöteten Islamisten beträgt etwa 75. Insofern ist der Behauptung des pakistanischen Verteidigungsminister Rao Sikandar Iqbal, dass die von der Schweiz gewünschten ausgedienten Schweizer M113-Schützenpanzer - deren Ausfuhr glücklicherweise gestoppt wurde - nur für friedenserhaltende Operationen der UN eingesetzt würden, auch nicht ein Quentchen an Glaubwürdigkeit beizumessen.
 
Darüber hinaus sind sogenannte Al Kaida-Verdächtige an die CIA verkauft worden: Wie der pakistanische Präsident Pervez Musharraf vor kurzem in seinen Erinnerungen einräumt, bezahlte die CIA Millionen an $ für die Auslieferung von insgesamt 369 Terrorverdächtigen an die USA. Nach der Bekanntmachung dieses Sachverhalts durch die britische Times folgte selbstverständlich prompt die Erklärung eines Sprechers des US-Justizministeriums, sein Ministerium hätte von den Zahlungen nichts gewusst, doch hätten sie nicht stattfinden dürfen. Niemand, der die heutige US-Politik auch nur annähernd durchschaut, wird noch gewillt sein, solche Aussagen zu glauben. Dieses absolut perverse, menschenverachtende Geschäft nimmt ganz offensichtlich seinen Fortgang. Wie Le Figaro vom 29. 9. 06 berichtet, klagt Amnesty International [ai] die im Krieg gegen den Terrorismus entstehenden Auswüchse an: Pakistanische ‚Prämienjäger’ verkaufen ihre ‚Beute’ an die Behörden. Im Gefolge dieser furchtbaren Praxis ereignen sich zahllose Fälle von Folter und solche, in denen die Opfer einfach verschwinden. All dies auf der Basis der Zusammenarbeit bei der von der USA lancierten Terrorbekämpfung. ‚Der Weg nach Guantánamo fängt in Pakistan an’, schätzt Claudio Cordone von ai. Es geht nicht nur um sogenannte Terroristen: der am 29. 9. 06 von ai veröffentlichte Bericht zeigt ein regelrechtes Programm auf, das mit einer Entführung beginnt und in den meisten Fällen mit dem Verschwinden des Opfers endet. 85 % der in Guantánamo Festgehaltenen, schätzt ai, wurden im übrigen in  Pakistan und in Afghanistan nicht etwa von US-Soldaten festgenommen, sondern von der afghanischen Nordallianz. Diese wird von der zweitgrössten ethnischen Gruppe des Landes, den Tadschiken, dominiert. Wie ai weiter ausführt, hat die USA für jeden mutmasslichen Terroristen eine Belohnung von 5.000 US-$ versprochen. Meistens dringen Polizisten oder auch einfache Bürger bei dem ‚Verdächtigen’ ein, knebeln ihn, legen ihm Handschellen an und entführen ihn. Anschliessend wird er an die pakistanische Armee verkauft, die diesen ihrerseits an US-Agenten weiterverkauft. Die Praxis, eines Rivalen habhaft zu werden, um ihn dann unter der Anklage des Terrorismus weiterzuverkaufen, ist so rasch zu einem praktischen Mittel geworden, um Auseinandersetzungen in Stammesgebieten zu regeln. Man fragt sich unwillkürlich, wo die im Februar dieses Jahres von US-Präsident Bush zwecks Unterstützung der pakistanischen Sicherheitsbemühungen freigegeben rund 250 Millionen €  Steuergelder unter diesen Umständen landen werden. Wie üblich sind sie auch für die Demokratisierung Pakistans und als Hilfe im internationalen Kampf gegen den Terror gedacht, den der Westen aus meiner Sicht ausschliesslich auf Grund des nackten Terrors verbreitenden Vorgehens der USA zu führen gezwungen ist. Niemand in Brüssel würde es je wagen, dies offen auszusprechen. Hinzu kommt, dass es Pakistan war, das die 35 Militärbasen, in denen die Mujaheddin jahrelang trainiert wurden, einrichtete und diese wie auch die Taliban logistisch unterstützte, was zwischen 1982 und 1992 zur Ausbildung von  mehr als 100 000 militanten Islamisten führte, die man heute zu vernichten sucht.
 
Die Praxis des unmittelbaren Tötens resp. Erschiessens des Gegners beschränkt sich keineswegs auf die beiden genannten Länder. Es geschieht in Saudiarabien, auf den Philipinnen und in Sri Lanka, um nur einige wenige Länder zu nennen. So bezeichnete der philippinische General Jovito Palparan die Morde an linken Aktivisten gegenüber der Asia Times Ende Oktober als »kleine Opfer« und beteuerte, dass die Mordwelle bei seiner seit einigen Monaten anhaltenden Kampagne zur Bekämpfung der maoistische Guerilla überaus »hilfreich« sei. Amnesty International registrierte über 600 Morde sowie das »Verschwinden« von 140 Mitgliedern linker Organisationen. Palparan gilt als der Hauptstratege des schmutzigen Krieges gegen die philippinische Linke und wird von dieser deswegen als »Schlächter« bezeichnet 3. Was Israel betrifft, so haben  israelische Soldaten bei einer neuen militärischen Offensive im Gazastreifen mindestens sechs Palästinenser erschossen und 40 weitere verletzt 4. Auch ein israelischer Soldat kam ums Leben. Infanterie- und Panzereinheiten starteten in den Morgenstunden die Operation »Herbstwolken« und besetzten die Stadt Beit Hanun im Norden des Palästinensergebiets, wie die Armee und palästinensische Sicherheitskräfte mitteilten. [Man muss sich einmal überlegen, mit welchen Worten derart blutige Vorgänge verbrämt werden]. Unter den Toten seien drei Mitglieder des bewaffneten Arms der regierenden Hamas. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sprach von einem Massaker. Die Armee kontrolliere Beit Hanun und habe die Stadt mit etwa sechzig Panzern und gepanzerten Fahrzeugen eingekreist, verlautete aus palästinensischen Krankenhaus­kreisen. Auch die Nachbarorte Dschabalija und Beit Lahja seien teilweise besetzt. Augenzeugen berichteten, dass die Armee mit Planierraupen in der Stadt drei Häuser dem Erdboden gleichgemacht habe; rund ein Dutzend weiterer Häuser seien durch Panzergeschosse beschädigt worden. Israelische Soldaten hätten auf Hausdächern Stellung bezogen. Über dem Einsatzgebiet kreisten Hubschrauber und Drohnen. [….] Eine von der Armee auf Arabisch an die palästinensische Bevölkerung gerichtete Botschafte lautete: »Diese Operation richtet sich gegen terroristische Elemente. Die Armeeaktivitäten werden bis zur Befreiung des Soldaten Gilad Schalit fortgesetzt«.

Scotland Yard gab am 25. 7. 2005 bekannt, dass der Schiessbefehl auf mutmassliche Selbstmordattentäter bleibt. Auch Londons Polizeichef Ian Blair verteidigte die neu eingeführte Kopfschuss-Praxis als alternativlos. Sein Vorgänger John Stevens sprach sich ebenfalls für ein entschiedenes Vorgehen aus. ‚Es gibt nur einen sicheren Weg, einen Selbstmordattentäter, der davon überzeugt ist, seine Mission auszuüben, zu stoppen, sein Gehirn sofort zu zerstören, vollständig’. Seit 2003 gilt für Sicherheitskräfte in Grossbritannien die Anweisung, möglichen Selbstmordattentätern direkt in den Kopf zu schießen, statt zuerst auf den Körper zu zielen. So soll verhindert werden, dass die Schüsse eine Bombe auslösen oder der Attentäter noch Zeit findet, einen möglichen Sprengsatz zu zünden. Auch hier wird an die Frage, wie man jeweils im voraus feststellen will resp. sicher sein kann, einen Selbstmordattentäter vor sich zu haben, kein Gedanke verschwendet. Fazit: Im Namen des Terrors - Mord an allen Fronten!
 
1 SPIEGEL ONLINE - 24. Oktober 2006
2 http://www.jungewelt.de/2006/10-06/046.php  6. 10. 06 NATO eröffnet neue Front - Brüssel übernimmt Kommando über Militäreinsätze in ganz Afghanistan. Anhaltender Krieg zwingt laut UNO Zehntausende Menschen zur Flucht - Von Rüdiger Göbel
3 http://www.jungewelt.de/2006/10-20/046.ph »Totaler Krieg« gegen Linke - Ansteigende Zahl politischer Morde auf den Philippinen Von Tomasz Konicz
4 http://www.jungewelt.de/2006/11-02/022.php Israelischer Terroreinsatz im Gazastreifen
 
Siehe auch ‚Blick auf Afghanistan und den dortigen Drogenhandel’ auf politonline