Inschalla von Uri Averny

Nicht nur die Palästinenser sollten nach der Vereidigung der palästinensischen nationalen Einheitsregierung einen tiefen Seufzer der Erleichterung von sich geben - die Israelis haben allen Grund, dies auch zu tun. Dieses Ereignis ist ein großer Segen - nicht nur für sie, sondern auch für uns, falls wir an Frieden interessiert sind, der dem historischen Konflikt ein Ende setzen wird. Für die Palästinenser wirkt sich dieses Ereignis sofort aus: die Drohung der Gefahr eines Bürgerkrieges ist so gebannt worden. Das war nicht nur ein Alptraum, es war auch absurd.

Palästinensische Kämpfer schossen in den Straßen Gazas auf einander und erfreuten so die Besatzungsbehörden. Wie in der Arena des antiken Roms töteten die Gladiatoren einander zum Vergnügen der Zuschauer. Leute, die vorher zusammengelebt und jahrelang gemeinsam in Israels Gefängnissen gesessen hatten, handelten auf einmal wie erbitterte Feinde. Es war noch kein Bürgerkrieg. Aber die blutigen Vorfälle hätten dorthin führen können. Viele Palästinenser waren sehr besorgt: wenn die Zusammenstöße nicht sofort zu einem Ende gekommen wären, dann wäre tatsächlich ein richtiggehender Bruderkrieg ausgebrochen. Das war natürlich auch die große Hoffnung der israelischen Regierung, daß  Hamas und Fatah einander vernichten - ohne daß  die Israelis einen Finger rühren mussten. Die israelischen Nachrichtendienste hatten dies tatsächlich schon vorausgesagt.
 
Ich machte mir keine Sorgen. Meiner Ansicht nach ist ein palästinensischer Bürgerkrieg ausgeschlossen. Zunächst einmal, weil die grundsätzlichen Bedingungen für einen Bürgerkrieg nicht gegeben sind. Das palästinensische Volk ist in seiner ethnischen, kulturellen und historischen Zusammensetzung einheitlich. Palästina ist nicht wie der Irak, in dem drei Völker leben, die sich ethnisch (Araber und Kurden), religiös (Schiiten und Sunniten) und geographisch (Norden, Mitte und Süden) sehr unterscheiden. Es ähnelt auch nicht Irland, wo die Protestanten, Nachkommen von Siedlern, gegen die katholischen Nachkommen der ursprünglichen Bevölkerung kämpfen. Es ähnelt auch nicht afrikanischen Ländern, deren Grenzen ohne Rücksicht auf Stammesgrenzen von den Kolonialherren festgelegt worden waren. Es ist auch keinem revolutionären gesellschaftlichen Umbruch gefolgt wie dem, der die großen Bürgerkriege in England, Frankreich und Russland  verursachte, noch einem so enormen Teilungsgrund wie die Sklaverei in den USA. Die blutigen Auseinandersetzungen, die im Gazastreifen ausbrachen, waren Kämpfe zwischen Parteimilizen, die durch Fehden zwischen Großfamilien (Hamulah) verstärkt wurden. Fast in allen Befreiungsbewegungen gab es solche Kämpfe. Nach dem 1. Weltkrieg, als z.B. die Briten gezwungen waren, den Iren die Home Rule (Selbstverwaltung) zu gewähren, brach sofort ein blutiger Kampf zwischen den Freiheitskämpfern aus: irische Katholiken töteten irische Katholiken. Während des Kampfes der jüdischen Gemeinschaft in Palästina gegen das britische Kolonialregime (»das Mandat«) wurde ein Bürgerkrieg nur dank einer Person verhindert: Menachem Begin - der Kommandeur des Irgun. Er war entschlossen, unter allen Umständen einen Bruderkrieg zu verhindern. David Ben Gurion wollte den Irgun eliminieren, der seine Führung ablehnte und seine Politik unterminierte. In der sogenannten »Saison« befahl er seiner ihm loyalen Haganah-Organisation, Irgunmitglieder zu kidnappen und sie der britischen Polizei auszuliefern, die sie folterte und in ein Gefängnis ins Ausland brachte. Aber Begin verbot seinen Leuten, ihre Waffen gegen Juden zu richten.
 
Solch ein Kampf unter Palästinensern wird nicht zu einem Bürgerkrieg werden, weil das ganze palästinensische Volk absolut dagegen ist. Jeder denkt an die »Arabische Rebellion« von 1936, als der damalige palästinensische Führer, der Großmufti Hadj Amin al-Husseini, seine palästinensischen Rivalen umbringen ließ. Während der drei Jahre der Rebellion (die in der zionistischen Terminologie ‚Ereignisse’ genannt wurden), töteten die Palästinenser unter einander viel mehr, als sie  britische und jüdische Gegner  töteten. Die Folge davon: als das palästinensische Volk im Krieg von 1948 seinen Test, der seine gesamte Existenz betraf, durchlebte, war es zersplittert und gespalten; es fehlte ihnen eine vereinigte Führung und  es war von der  Gnade der arabischen Regierungen abhängig, die  gegeneinander intrigierten. Sie waren nicht in der Lage, gegen die viel kleinere, gut organisierte jüdische Gemeinschaft aufzustehen, die sofort eine vereinigte und effiziente Armee aufstellte. Die Folge war die »Nakba«, die schreckliche historische Tragödie des palästinensischen Volkes. Was 1936 geschah, berührt das Leben jedes einzelnen Palästinensers bis zum heutigen Tag. Es ist schwierig, einen Bürgerkrieg zu beginnen, wenn das ganze Volk dagegen ist. Selbst Provokationen von außerhalb - und ich vermute, daß  es davon genug gegeben hat - können ihn nicht auslösen. Deshalb habe ich keinen Augenblick daran gezweifelt, daß  es am Ende zu einer Einheitsregierung kommen wird - und ich bin sehr froh, das dies nun geschehen ist.
 
Warum ist dies gut für Israel? Ich will etwas sagen, was viele Israelis und ihre Freunde in der Welt schockieren wird: Wenn es die Hamas nicht gäbe, dann müßte sie erfunden werden. Wenn eine palästinensische Regierung ohne Hamas gebildet worden wäre, hätten wir sie solange boykottieren müssen, bis die Hamas mit eingeschlossen worden wäre. Und wenn wir durch Verhandlungen ein historisches Abkommen mit der palästinensischen Führung erreichen sollen, sollten wir es unter einer Bedingung machen: daß  Hamas mit unterzeichnet. Klingt das verrückt? Natürlich. Aber das ist die Lektion, die uns die Geschichte aus Erfahrungen anderer Befreiungskriege lehrt. Die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten ist fast gleich zwischen der Fatah und der Hamas geteilt. Es macht überhaupt keinen Sinn, ein Abkommen nur mit der Hälfte der Bevölkerung zu unterzeichnen und einen Krieg gegen die andere Hälfte zu führen. Auf jeden Fall werden wir ernsthafte Konzessionen machen - wie den Rückzug in enger gezogene Grenzen, Rückgabe von Ost-Jerusalem an seine Besitzer. Sollen wir dies für ein Abkommen tun, das von der Hälfte des palästinensischen Volkes  nicht akzeptiert wird und dem sie nicht verpflichtet ist? Für mich wäre das der Gipfel der Torheit. Ich will noch weitergehen: Hamas und Fatah vertreten nur einen Teil des palästinensischen Volkes, das in der Westbank, im Gazastreifen und in Ost-Jerusalem lebt. Millionen palästinensischer Flüchtlinge (keiner kennt die genaue Zahl) leben außerhalb des Gebietes von Palästina und Israel. Wenn wir tatsächlich für ein vollständiges Ende des historischen Konfliktes kämpfen, müssen wir uns um eine Lösung bemühen, die sie mit einschließt. Deshalb hinterfrage ich sehr die Weisheit Zipi Livnis und ihrer Kollegen, die verlangen, daß  die Saudis in ihrem Friedensplan jede Erwähnung der Flüchtlinge fallenlassen sollen. Schlicht gesagt: es wäre stupid. Der gesunde Menschenverstand würde das genaue Gegenteil raten: verlangen, daß  die Saudi-Friedensinitiative, die zu einem offiziellen pan-arabischen Friedensplan geworden ist, die  Flüchtlingsfrage mit einschließt, damit das Endabkommen auch eine Lösung für das  Flüchtlingsproblem darstellt.
 
Das wird sicher nicht einfach sein. Das Flüchtlingsproblem hat psychologische Wurzeln, die den eigentlichen Kern des palästinensisch-zionistischen Konfliktes berühren, und es betrifft das Schicksal von Millionen von Menschen. Aber wenn der arabische Friedensplan besagt, daß  die Lösung eine in Übereinstimmung sein muß, also in »Übereinstimmung« mit Israel, dann wird sie aus dem Reich unvereinbarer Ideologien in die Realität, in die Welt der Abkommen und Kompromisse  gesetzt. Ich habe dies viele Male mit arabischen Persönlichkeiten diskutiert, und ich bin davon überzeugt, daß  ein Abkommen möglich ist.
Die neue palästinensische Regierung gründet sich auf das »Mekka-Abkommen«. Es scheint,  als sei es nicht ohne die energische Intervention von König Abdullah von Saudi Arabien zustande gekommen. Der internationale Hintergrund muß auch berücksichtigt werden. Der Präsident der USA ist dabei, sein Irakabenteuer mit verzweifelten Bemühungen zu einem Ende zu bringen, damit es nicht als totale Katastrophe in die Geschichte eingeht. Zu diesem Zweck versucht er, eine sunnitische Front zusammenzubringen, die den Iran blockiert und hilft, die sunnitische Gewalt im Irak zu beenden. Das ist natürlich eine stark vereinfachende Idee. Sie berücksichtigt die große Komplexität der Realitäten dieser Region nicht. Bush hat im Irak eine Regierung eingesetzt, die von den Schiiten dominiert wird. Er hat versucht, das sunnitische Syrien zu isolieren. Und Hamas ist natürlich eine fromme sunnitische Organisation. Aber das amerikanische Staatsschiff fängt an, sich zu drehen. Als riesiges Schiff kann es dies nur sehr langsam. Unter amerikanischem Druck willigte der saudische König - vielleicht widerwillig - darin ein, die Führung der arabischen Welt auf sich zu nehmen, nachdem Ägypten diese Aufgabe nicht erfüllt hatte. Der König hat Bush davon überzeugt, daß  er mit Syrien reden müsse. Nun versucht er, ihn davon zu überzeugen, daß  er Hamas akzeptieren muss. In diesem Bild ist Israel ein Hindernis. Vor ein paar Tagen flog Ehud Olmert nach Amerika, um der Konferenz der jüdischen Lobby, AIPAC, mitzuteilen, daß  ein Rückzug aus dem Irak eine Katastrophe wäre - übrigens im Gegensatz zur Meinung von mehr als 80 % der amerikanischen Juden, die einen baldigen Rückzug befürworten. In der letzten Woche gab der US-Botschafter in Tel-Aviv zu verstehen, daß  es der israelischen Regierung nun erlaubt sei, Verhandlungen mit Syrien zu führen - man kann vermuten, daß dieser Wink sich bald in eine Order verwandeln wird. Vorläufig ist in den Positionen der israelischen Regierung keine Veränderung  zu bemerken. »   «
 
Leider wird gerade jetzt, wo eine palästinensische Regierung die Chance hat, stark und stabil zu werden, die israelische Regierung immer schwächer. Die Unterstützungsquote für Olmert nähert sich den Umfragen nach auf  Null zu. Die Prozente können an den Fingern einer Hand gezählt werden. Praktisch jeder spricht über seinen politischen Abgang innerhalb weniger Wochen, vielleicht nach der Veröffentlichung der zeitweiligen Untersuchungsergebnisse der Winigrad-Kommission  über den zweiten Libanonkrieg. Aber selbst wenn es Olmert gelingen sollte, politisch zu überleben, dann würde es eine Lahme-Enten-Regierung sein, die nicht in der Lage wäre, irgend etwas Neues zu starten - und sicher keine mutige Initiative gegenüber der neuen palästinensischen Regierung. Doch wenn Bush uns auf der einen und der saudische König uns von der anderen Seite unterstützen würde, vielleicht könnten wir dann doch ein paar Schritte vorwärts gehen. In unserer Gegend sagt man: In scha Allah, wenn Gott will.
 
Uri Avnery, 17. März 2007