Das Sterben der Unschuldigen - Uranmunition: die Lüge von der sauberen Waffe

Serben und Kosovo-Albaner müssen sich heute fragen: Werden die Folgen der DU-Munition bei uns ähnlich sein? Am 7. Februar 2000 räumte Nato-Generalsekretär George Robertson offiziell ein, dass die Streitkräfte des Paktes während des 78tägigen Krieges gegen Jugoslawien 31 000 DU-Geschosse abgefeuert hatten. Das entspräche einer Menge von 10,5 Tonnen Uran. Eine Studie des United Nations Environment Programmes aus dem Jahr 2003 gibt mit Verweis auf Nato-Verlautbarungen geringfügig höhere Zahlen an, nämlich «mehr als 30 000» Geschosse für Kosovo, 2500 für das übrige Serbien und 300 für Montenegro, in der Summe also über 32 800 (19).

Die jugoslawische Regierung beschuldigte die Nato im Jahr 2000, 50 000 DU-Geschosse abgefeuert zu haben 20. Das entspräche 15 bis 17 Tonnen Uran. Schweizer Forscher vom Independent Scientific Research Institute in Genf gingen in einer Studie von 40 Tonnen DU-Munition im Krieg gegen Jugoslawien aus 21. Die serbische Zeitung Danas berichtete über 35 Tonnen DU, 15 Tonnen davon seien auf sieben Orte im Süden Serbiens, vor allem rund um Vranje und Bujanovac, und weitere knapp 20 Tonnen auf 105 Orte in der Provinz Kosovo, insbesondere rund um Prizren und Pec, abgeworfen worden 22. Allerdings sind diese hohen Werte in den beiden letztgenannten Veröffentlichungen nicht durch Quellen belegt. Ob die im Vergleich niedrigste Angabe des Pentagons stimmt, ist dennoch unklar - die USA hat nämlich offensichtlich »den Überblick darüber verloren, wie viele Urangranaten im Kosovo abgefeuert worden waren«, wie die britische Tageszeitung The Independent nach dem Krieg schrieb 23.
 
Die Gräber von Bratunac
Welche Auswirkungen diese radioaktive Hinterlassenschaft auf die Bevölkerung der betroffenen Region haben wird, lässt sich auf der Grundlage früherer DU-Einsätze kalkulieren. Zum einen die Erfahrungen aus dem Golf-Krieg 1991. Eine Studie der britischen Atomenergiebehörde, die im November 1991 zum Independent durchgesickert war, geht von 500 000 zusätzlichen Krebstoten im Irak aus. Dieser Hochrechnung wurde eine Hinterlassenschaft von 40 Tonnen DU-Munition zugrunde gelegt 24. [In der Realität waren es im Irak zwischen 260 und 400 Tonnen 25.] Nimmt man für Jugoslawien, einschliesslich Kosovo, ungefähr 10 Tonnen DU an - die vom Pentagon angegebene Zahl - so würden dort analog ungefähr 125 000 zusätzliche Krebstote zu beklagen sein. Eine zweite Vergleichsmöglichkeit bietet das Beispiel Bosnien-Herzegowina. Dort setzte die Nato bei Luftangriffen gegen die serbische Armee und die Bevölkerung Anfang September 1995 nach eigenen Angaben 3,5 Tonnen Uranmunition ein. 90 % der Uranbomben ging auf Hadzici, einen serbischen Ortsteil von Sarajevo, sowie auf die Gegend von Han Pijesak, wo sich das Hauptquartier der serbischen Armee befand, nieder 26. Von Hadzici flüchteten die Menschen später in das ostbosnische Bratunac. Independent-Reporter Robert Fisk hat den Friedhof des Örtchens im Januar 2001 besucht: »Ich sehe 300 Grabsteine, die die Inschrift tragen könnten: An abgereichertem Uran gestorben« 27. Svetlana Jovanovic, eine Ärztin im örtlichen Gesundheitszentrum, gibt an, dass 650 der insgesamt 7000 Flüchtlinge aus Hadzici im Zeitraum von Ende 1995 bis Mitte 2004 gestorben seien, davon 40 an Krebs oder Leukämie 28. Die Filmemacher Frieder Wagner und Valentin Thurn fanden für eine WDR-Dokumentation zum Thema DU andere Zahlen: »Von den 3500 Umgesiedelten aus Hadzici starben in den nächsten fünf Jahren 1’112 an Krebserkrankungen - fast ein Drittel dieser Menschen« 29.
 
Eine Untersuchungskommission der UN-Umweltbehörde Unep aus dem Jahr 2002 stritt dagegen eine Gesundheitsgefährdung durch DU ab. Allerdings leuchtete der Befund nicht einmal Zehra Dizdarevic, Gesundheitsministerin in der prowestlichen Regierung der moslemisch-kroatischen Föderation, ein 30. »Was mich an dem Unep-Bericht verwirrt, ist, dass die Strahlungsintensität in den kontaminierten Gebieten in Bosnien harmlos sein soll. […]. Aber auf der anderen Seite finden sich in dem Bericht 24 Empfehlungen, wie die Gebiete vor der Strahlung geschützt und gesäubert werden könnten.« 31 Das Ministerium von Frau Dizdarevic veröffentlichte 2002 eine Krebsstatistik, die die Gefahr für die Gesamtbevölkerung - also auch für die jenseits der DU-betroffenen Gebiete - beschreibt: Demnach starben 1998 je 1,52 von 1000 Bosniern an Krebs, 1999 waren es bereits 2,3 - ein Anstieg von über 50 % 32. Für Bratunac gibt es keine gesonderte Aufschlüsselung in der Krebsstatistik. Aber erwiesen ist, dass dort die allgemeine Mortalitätsquote noch höher als im Landesdurchschnitt ist. In Bosnien-Herzegowina insgesamt betrug sie im Jahr 2002 7,9 pro 1000. In Bratunac lag der Jahresdurchschnitt zwischen 1996 und 2003 bei 11,2 pro 1000 33 [Vermutungen stehen im Raum, was wohl wirklich an Waffen in Hadzici eingesetzt wurde, dass die Todesrate derart hoch ist.][…]
 
Unabhängig davon, ob man die DU-Erfahrungen aus dem Irak, aus Bosnien-Herzegowina oder die Krebsstatistiken der italienischen Soldaten als Vergleichsbasis heranzieht, muss also für Serbien, einschliesslich des Kosovos, mit weit über 100 000 zusätzlichen Toten durch die Uran-Verseuchung gerechnet werden. Da die medizinische Statistik in Serbien seit dem pro-westlichen Regimewechsel im Oktober 2000 nicht mehr funktioniert (oder Daten unterdrückt werden), gibt es für den gegenwärtigen Stand des DU-verursachten Sterbens keine Gesamtdaten. Schlaglichter liefern folgende Details:
»Seit den Bombardierungen sind Lungen-, Knochen- und Zungenkrebs auf dem Vormarsch. Viele Kinder erkranken daran. Die Anzahl der Fälle ist mindestens um 30 % gestiegen«, sagt der Reporter Zorisa Markovic, der sich vor allem um Gesundheitsthemen kümmerte und früher für die Nachrichtenagentur Tanjug und heute für die Tageszeitung Balkan arbeitet 39.
 
»Ein Vergleich der epidemiologischen Daten der Gesundheitsberichte der Stadt Belgrad ein Jahr vor den Bombardements (1998) und fünf Jahre danach (2004) weist auf eine Erhöhung der Gesamtmortalitätsrate (von 10,5 je 1000 auf 12,1) hin […]. Ausserdem belegen die statistischen Daten einen Anstieg bei jährlichen Krebsneuerkrankungen seit 1999 um das Fünffache […]. Für Kosovo-Metohija, obwohl unter Uno-Verwaltung, fehlen in WHO- wie Unicef-Berichten entsprechende Angaben. […] Nach Mitteilung des Krankenhauses  Kosovska-Mitrovica verzeichnet dieses einen eklatanten Anstieg von malignen Erkrankungen (200-fache Erhöhung) gegenüber 1999 sowie eine 17-fache Spontanabortrate […]«. 40
 
»Die Zahl der Menschen, bei denen in Serbien Krebs diagnostiziert wird, ist im Anstieg - besonders seit fünf Jahren. Darmkrebs […] kam gewöhnlich bei Menschen über 50 und 60 vor, aber jetzt sind es […] Leute um 30. […] Seit 2003 hat Darmkrebs fast epidemische Ausmasse erreicht. Chirurg Zoran Krivokapic vom Klinikzentrum Belgrad sagt, dass jede Woche 15 Darmkrebsoperationen durchgeführt werden. […] Allein im Jahr 2006 wurde, der bisherige Spitzenwert, bei 4000 Menschen diese Krebsart diagnostiziert.« 41

Für den Chemophysiker Marion Falk, der früher an US-Atombombenprogrammen beteiligt war, passt die Bezeichnung »schmutzige Atombombe« auf Depleted Uranium »in jeder Hinsicht«, und weiter: »Es ist die perfekte Waffe, um massenhaft Menschen umzubringen.«42
 
Quelle: Zeit-Fragen Nr.5 vom 29.1.2008  
Der Text ist ein Auszug aus der Neuauflage: Jürgen ­Elsässer, Kriegslügen, 2008, ISBN 978-3-89706-511-6; die Nummerierung der Fussnoten folgt derjenigen im Buch
 
19 United Nations Environment Programme, Depleted Uranium in Bosnia and Herzegovina, Nairobi 2003
20 Izvestaj SRJ, Posledice: Nato Bombardovanja za Zivotnu Sredinu SR Jugoslavije, Beograd 2000
21 André Gsponer / Jean Pierre Hurni / Bruno Vitale, A comparison of delayed radiobiological effects of depleted-uranium munitions versus fourth-generation nuclear weapons, Genf 10.10.2002
22 Danas, 4.10.2006, zitiert in Zeit-Fragen vom 11.10.2006
23 The Independent London vom 22.11.1999
24 Le Monde diplomatique vom Juni 1999
25 Scott Peterson vom Christian Science Monitor spricht im Middle East Report 215 von 340 Tonnen. Massimo Zucchetti gibt in seinem Buch »Uranio impoverito. Con elementi di radioprotezione ed utilizzo delle radiazioni ionizzanti« (Torino 2006) 335 Tonnen an.
26 Ekrem Tinjak, Faruk Boric, Hugh Griffiths, Bosnian say Nato Bombs brought »Angel of Death«, IWPR, 15.11.2004; Alix Kroeger, Depleted uranium: Bosnia tests start, BBC, 25.1.2001
27 Weitere einhundert starben lt. Fisk an Herzkrankheiten oder Krankheiten der inneren Organe
28 vgl. Ekrem Tinjak, Faruk Boric, Hugh Griffiths, Bosnian say Nato Bombs brought »Angel of Death«, IWPR 15.11.2004. Alix Kroeger, Depleted uranium: Bosnia tests start, BBC 25.01.2001
29 Frieder Wagner / Valentin Thurn, die Story: Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra, WDR, 28.4.2004
30 Die muslimisch-kroatische Föderation ist der eine Staatsteil Bosnien-Herzegowinas, der andere ist die Republika Srpska (Serbische Republik).
31 z.n. Ekrem Tinjak u.a., a.a.o.
32 AFP, 4.1.2001
33 vgl. Ekrem Tinjak u.a., a.a.o.
39 Akira Suemori, «It’s the same here as in Hiroshima and Nagasaki», ZMAG, 17.2.2005
40 Ljiljana Verner / Angelika Voss, Die verschwiegenen Auswirkungen der Neuen Kriege. Das Beispiel Jugoslawien, IPPNW, Januar 2006, S.12
41 b92. Cancer incidence in Serbia rising, 17.06.2007
42 z.n. Doug Westerman, Depleted Uranium: abgereichertes Uran, Ein Verbrechen gegen Gott und die Menschheit, Zeit-Fragen Nr. 22 vom 29.5.2006