Was uns alle angeht

Der SonntagsZeitung vom 20. 1. 08 war folgende, von Petra Wessalowski unter dem Titel »Ältere Herzinfarkt-Patienten werden schlechter versorgt« verfasste Mitteilung zu entnehmen: ?Bern - Eine soeben veröffentlichte Schweizer Studie an über 11.000 Herzinfarkt-Patienten zeigt, dass vor allem über 71jährige nicht gemäss den internationalen Empfehlungen behandelt werden. Sie treffen im Schnitt eine Stunde später im Spital ein als unter 50jährige Patienten - nach über 4 Stunden. Bei einem Herzinfarkt muss die Durchblutung möglichst rasch wiederhergestellt werden, sonst sinken die Heilungschancen. Zudem erhalten Senioren seltener die empfohlenen Medikamente, selbst wenn ihre Genesungsprognosen gut sind. Möglich ist, dass Ältere auf eine optimale Behandlung verzichten - aber auch eine versteckte Rationierung.

»Die Qualitätskontrolle muss verbessert werden«, fordert Studienleiter Andreas Schoenenberger vom Inselspital Bern. Die Folgen, wie Todesfälle oder mehr Pflegeheim-Einweisungen, sollen nun erforscht werden. Fakten dieser Art führen notgedrungen zu der Frage, ob es sich hier um einen Zufall oder um Absicht handelt.
 
Die Arbeitswelt der Ärmsten, von der wir unausgesetzt profitieren
politonline d.a. In der Militärdiktatur Bangladesch gibt es etwa 4000 Textilfabriken. Wie die FAZ vom 31. 1. 07 berichtete, herrscht in diesem Land, das zu den korruptesten dieses Globus zählt, »nicht nur die Armut, sondern ein allumfassendes Klima des Misstrauens und der Bedrohung. Dafür sorgen die Bombenattentate von Islamisten auf zivile Einrichtungen, die ihnen nicht passen.« Ende September 2007 marschierten Tausende von  Textilarbeitern unter Missachtung des Verbots öffentlicher Proteste durch Dhaka; sie verlangten bessere Löhne und Konditionen. Es wurden Hunderte von durch die Armee unterstützte Polizeikräfte eingesetzt, um die Demonstration aufzulösen. In diesem Fall war die Nassa Group betroffen, zu deren Kunden auch Wal-Mart in der USA und Primark in England gehören. Immerhin zählt die Firma zu den besser entlöhnenden Arbeitsgebern und zu den ersten Firmen, die bereit waren, ihren Arbeitern, im Fall von Nassa Group 27.000, den nationalen Mindestlohn von $ 25.-  resp. £ 13.- pro Monat zu zahlen. Wegen schlechter Sicherheitsstandards kommt es immer wieder zu Unfällen in den Fabriken. Im Jahr 2000 starben mindestens 48 Arbeiter, als ihnen ihre in Brand geratene Firma auf Grund des verriegelten Notausgang zur Falle wurde. Bei einem Brand in einer Textilfabrik in Chittagong im Februar 2006 kamen mindestens 65 Menschen ums Leben: das Gebäude hatte keine Notausgänge. Was massgeblich zu der Katastrophe beitrug, war der unvorstellbare Fakt, dass die Wachmänner Fabrikausgänge versperrten - aus Angst, die Arbeiter könnten in dem Tumult Textilien stehlen. Schlechte Sicherheitsstandards, so lässt sich folgern, interessieren offenbar weder die Regierung noch die Manager; schliesslich sind billige Arbeitskräfte auf Grund ihrer Anzahl leicht »ersetzbar«. Was die Kinderarbeit betrifft, so hält die FAZ fest, dass 4,9 Millionen Kinder, rund ein Fünftel der Arbeitskraft des Landes, in Steinbrüchen, auf Müllhalden, als Träger oder in den Fabriken der Textilindustrie arbeiten. Sie werden ausgebeutet und misshandelt, ohne dass es jemanden schert. Die meisten Kinder verdienen weniger als 1 $ am Tag. Sie arbeiten unter unmenschlichen Bedingungen, mit wenig Licht, sind unterernährt und haben eine kurze Lebenserwartung. In den Fabriken montieren sie Fahrradteile und atmen giftige Dämpfe ein. Ihr ganzer Körper ist mit giftigen Stoffen bedeckt.
 
Tchibo ist zumindest in Deutschland und in der Schweiz mit seiner Werbung, die auch in der Basler Zeitung erscheint, gut bekannt. Ein Interview 1 mit einer Näherin, die für Tchibo gearbeitet hatte, legt die erbärmlichen Bedingungen offen. Die Näherinnen kommen aus Familien, die nie Geld für die Schulbildung hatten. Obwohl es seit 2002 in Bangladesch die Grundschulpflicht gibt, wandern die jungen Mädchen noch immer in die Städte, um sich zu verdingen: ein scheinbar nie endender Strom von Billigarbeiterinnen. Annähernd zwei Millionen schuften in den Kleiderfabriken des Landes. Für Bildung gibt es in den Fabriken keine Möglichkeit. Kaum eine der Näherinnen kann lesen oder schreiben. Keine würde freiwillig in den Kleiderfabriken arbeiten, wenn sie nicht ihre Familie unterstützen müsste. Basic Apparels beispielsweise, ein grosser Betrieb in deutschem Besitz, steht im Ruf, etwas höhere Löhne zu zahlen als andere. Aber die Arbeitsbedingungen sind ähnlich: die befragte Näherin gab an, fast jeden Tag von 8.00 bis 20.00 Uhr und oft noch länger gearbeitet zu haben, manchmal bis tief in die Nacht. Aus Angst, den Akkord nicht zu schaffen, verzichtete sie oft auf die Mittagspause; um nicht auf die Toilette gehen zu müssen, habe sie oft nichts getrunken und stattdessen Betel-Nüsse gekaut. Nach einer ohne Begründung erfolgten Lohnkürzung wurden unter Zwang all diejenigen Mitarbeiter ermittelt, die der Gewerkschaft angehörten. Insgesamt wurden 230 entlassen: alles Gewerkschaftsmitglieder.
 
Zusammen mit vier anderen Frauen bewohnt sie eine Slumhütte neben einem stinkenden Abwasserkanal. Die Wände bestehen aus Plastikplanen; billiger geht es in Dhaka nicht mehr. Zum Zeitpunkt des Interviews, Ende Oktober 2005, bereiste die Näherin Deutschland, um einen Kontakt zu den grossen deutschen Warenketten, die letztlich die Auftraggeber für die Fabriken in Bangladesch sind, herzustellen; wie die Sozialreferentin von Tchibo erklärte, habe ihre Firma einen Verhaltenskodex aufgestellt, der öffentlich bekannt sei und für alle Geschäftspartner gelte. Dies, so die Näherin, sei vielleicht für die Publicity sehr schön, nur hält sich in Bangladesch niemand daran. Wir haben bis heute weder geregelte Arbeitszeiten noch feste Arbeitsverträge, und wir dürfen uns nicht in Gewerkschaften oder Betriebsräten organisieren, obwohl Tchibo anderes behauptet und verspricht. So wünschte sie sich, dass die Tchibo-Kunden in den Filialen nachfragen und gegen die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen protestieren würden.
  
Bangladesch ist ein Staat mit der höchsten Bevölkerungsdichte der Welt, wo wirtschaftliche Reformen auf Grund politischer Machtkämpfe und Korruption nur langsam umgesetzt werden, mit schlecht durchgesetzter Gesetzgebung und minimaler Meinungsfreiheit. Wie Le Monde am 11. 12. 03 darlegte, »kommen die Elendsviertel ohne Wasser und Toiletten hinzu. Die  dortigen Bambushütten sind über Teiche gebaut, in deren schwärzlichem Wasser Ratten obenauf schwimmen. Millionen von Brunnen sind durch natürlich vorkommendes Arsen verschmutzt, Unterernährung, Cholera, tabuisiertes Aids und zu frühe Schwangerschaften verursachen Todesfälle: eine traurige Anzahl von erbärmlich Notleidenden, darunter die Allerärmsten, die nur gerade eine Plastikplane zum Schutz besitzen. Mädchen und Frauen sind noch immer den erdrückenden Traditionen einer patriarchalischen und gewalttätigen Gesellschaft ausgesetzt, was durch den  Druck des islamischen Fundamentalismus noch verstärkt wird; sie sind durch Mord (auch durch Verbrennen), Schläge, Vergewaltigung, häusliche Versklavung oder Einschliessung, Verätzung durch Vitriol, das die alltäglichste, weil billigste Waffe gegen die Frau darstellt, bedroht.« Man sollte sich vielleicht Fakten dieser Art vergegenwärtigen, bevor man Tchibos jede Woche dienstags neu zu entdeckende Welt betritt.
 
»Wer keine Überstunden macht, fliegt raus«  
Die Arbeitsbedingungen von Näherinnen in Drittweltländern verletzen die Menschenwürde. Discounter wie Lidl und KiK profitieren davon. Ein Gespräch mit Gisela Burckardt.
 
Was werfen Sie diesen Discountern vor?
Sie kommen ihrer Unternehmensverantwortung nicht nach. Es ist ein Skandal, daß deutsche Unternehmen auf dem Rücken der Näherinnen in der dritten Welt und ohne Rücksicht auf Menschen- und Arbeitsrechte Gewinne machen. Kauft man ein Produkt bei KiK, geht maximal 1 % des Preises an die Näherinnen.
 
CCC hat sechs Firmen in Bangladesch ausfindig gemacht, die für Lidl und KiK arbeiten. Was ergaben die Untersuchungen?
Wir haben in 136 Interviews Näherinnen dieser Betriebe befragt - nach Feierabend. Das durfte in den Werken nicht bekanntwerden, sonst wären sie ihren Job losgeworden. Ihr Arbeitstag dauert zwischen neun und zwölf Stunden. Üblich sind 16 bis 25 € Lohn im Monat, was jedoch nicht einmal für das Notwendigste reicht. Bedenkt man, daß ein Vier-Quadratmeter-Zimmer neun Euro Miete kostet, wird klar, daß viele Frauen hungrig zur Arbeit gehen. Viele haben nicht einmal Arbeitsverträge, d. h., sie stehen auf der Straße, sobald sie krank werden.
 
In welchem Maße profitieren die Firmen von diesen Arbeitsbedingungen?
Die Discounter können zufrieden sein, der Markt hier in Deutschland wächst. Fast jeder Dritte kauft mittlerweile in Discount-Geschäften, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Die Profite steigen. Doch sowohl die Verkäuferinnen hier als auch die Näherinnen in Bangladesch sind arm - trotz harter Arbeit. Denn nicht nur die Herstellung soll billig sein, auch der Vertrieb darf keinen Cent zuviel kosten, um höchstmöglichen Gewinn herauszuschlagen.
 
Wie sehen die Arbeitsrechtsverletzungen aus?
Es wurden massive Verstöße gegen die ILO-Konventionen festgestellt, zu deren Einhaltung sich auch Bangladesch verpflichtet hat. Die Befragten sagten u. a., daß Überstunden Pflicht sind - wer keine macht, fliegt raus. Eine Arbeiterin berichtete, daß ihr für einen vollen Tag der Lohn abgezogen wird, wenn sie mal nur einen halben arbeiten kann. Eine der sechs Fabriken bezahlt nicht einmal den Mindestlohn.
 
Wie werden die Aufträge vergeben?
Mittlerweile ist es üblich, daß sich mehrere große Unternehmen zusammentun, um eine noch größere Bestellmenge zu erzielen; diese Praxis drückt die Stückpreise noch weiter. Gleichzeitig werden die Lieferfristen immer enger. 2003 waren 90 Tage vom Bestellungseingang bis zum Lieferdatum üblich. Heute sind es nur noch 45. Die globalen Unternehmen und die Einkäufer haben die Macht. Sie nutzen ihre riesige Kaufkraft, um Lieferanten zu zwingen, schneller, billiger und flexibler zu produzieren. Immer öfter verläuft die Auftragsvergabe sogar auktionsartig. Die Lieferanten buhlen um Aufträge und unterbieten sich gegenseitig. Der billigste bekommt den Zuschlag.
 
Bei den Discountern hierzulande arbeiten die Aushilfen teilweise für weniger als 5.- € pro Stunde. Krankengeld und Urlaub gibt es nicht. Zur Jahresmitte werden wir jedenfalls eine Kampagne gegen diese Firmen starten, u. a. mit Postkarten und e-Mails.
 
Quelle: http://www.jungewelt.de/2008/02-05/031.php 5.2.08
Das Interview führte Anja Hotopp; Gisela Burckardt ist entwicklungspolitische Gutachterin und Beraterin vieler Länder Afrikas, Lateinamerikas und Asiens. Ehrenamtlich unterstützt sie die Clean Clothes Campaign, die »Kampagne für saubere Kleidung«, welche eine Broschüre mit dem Titel: »Wer bezahlt unsere Kleidung bei Lidl und KiK? Arbeitskraft zum Discountpreis - Schnäppchen für alle?« herausgegeben hat.  Diese kann bei INKOTA-Netzwerk: 030/4289111 oder bei inkota@inkota.de. zum Preis von 3,50 € zuzüglich Versandkosten bestellt werden.
 
1 http://www.jungewelt.de/2005/10-22/021.php  22.10.05