Sehr geehrte Frau Merkel,

schon seit langem hat man in Israel keine Reden gehört, die solch zionistisches Pathos hatten, wie die Reden, die Sie bei Ihrem Besuch in Israel vor einer Woche gehalten haben. Sie haben es während Ihres dreitägigen Besuchs sehr klar gemacht, wie sehr Sie den Staat Israel unterstützen und gegen seine Feinde an seiner Seite stehen. Acht Minister, unzählige Regierungsangestellte und Sicherheitskräfte haben Sie mitgenommen, um mit grossem Aufwand bei Ihren Gastgebern einen guten Eindruck zu hinterlassen. Trotz dem Obengenannten muss ich Sie jedoch, mit allem Respekt, darauf hinweisen, dass Sie uns keine gute Tat erwiesen haben:

Wenn Sie nämlich wirklich nur Israels Wohl im Sinne gehabt hätten, dann hätten Sie die Palästinenserfrage zumindest erwähnt. Stattdessen taten Sie so, als ob es Sie überhaupt nicht gäbe. Sie hätten mit klaren Worten erwähnen müssen, dass die israelische Besatzung der Palästinensergebiete unmenschlich ist und enden muss, dass Israel die besetzten Gebiete räumen, die Siedlungen auflösen, und die Belagerung des Gazastreifens beenden muss. Wenn Sie nämlich wirklich nur Israels Wohl im Sinne gehabt hätten, dann hätten Sie Abu Mazen zumindest einen Besuch abstatten und sich mit dem palästinensischen Kampf um die Unabhängigkeit solidarisch zeigen sollen. Wenn Sie wirklich an der Seite Israels gegen seine Feinde stehen wollten, dann hätten Sie zuallererst den Staat Israel selbst kritisiert. Die grösste Gefahr, die Israel zu fürchten hat, ist nämlich ironischerweise nicht der Iran, sondern Israel selbst. Seit 1967 betreibt der Staat Israel nämlich ein System der Selbstvernichtung. Jeder, der sich um das Wohl des Staates Israel bemüht, muss ihm helfen, dieses System zu beenden.
 
Ich bin mir sicher, dass Sie gebildet genug sind, das zu wissen. Auch weiss ich, dass das Schuldbewusstsein des deutschen Volkes Ihnen nicht die Möglichkeit gestattet, den jüdischen Staat offen zu kritisieren. Zudem kann angenommen werden, dass Ihnen in einem solchen Fall israelische Politiker vorgeworfen hätten, eine Antisemitin zu sein. Trotzdem sollten Sie sich nicht davon abbringen lassen, denn der wirkliche Antisemit ist der, der angesichts der Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten schweigt, da es jedem klar ist, dass die Fortsetzung der Besatzung das Ende des Staates Israels auf sich ziehen wird. Und falls man Ihnen vorwirft, ein Antisemit zu sein, können Sie ja Ehud Olmert selbst zitieren, der vor drei Monaten sagte, dass, wenn die Besatzung nicht beendet wird, der Staat Israel beendet werden wird. Ich würde Sie gerne darauf hinweisen, Frau Merkel, dass sich die Mehrheit der Israelis eingestehen, dass die Besatzung untragbar ist und uns nicht weniger Schaden zufügt als den Palästinensern. Jedoch fehlt der israelischen Regierung die Kraft, die einzige Operation durchzuführen, die unser Leben retten kann: Die Entfernung des Tumors, der sich »[besetzte] Gebiete« nennt. Durch diesen Tumor bluten wir ununterbrochen, und er macht uns von Tag zu Tag schwächer. Und daher brauchen wir keine Solidaritätsbekundung und auch keine pro-zionistische Reden, sondern internationalen Druck, der die Besatzung beenden kann. Alleine schaffen wir das nämlich nicht. Jedoch mit Hilfe unserer europäischen Freunde gibt es eine Chance, Ruhe und Frieden für beide Völker zu erreichen.
 
Zum Schluss würde ich Sie gerne darauf hinweisen, dass ich zwar kein Moralist bin, aber dennoch denke, dass Sie eine der wichtigsten moralischen Lektionen des Zweiten Weltkrieges vergessen haben: Nämlich dass man bei Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen darf, und dass man gegen jedes Regime, das ein anderes Volk unterdrückt, kämpfen muss. Heute sind wir leider die Unterdrücker. Es ist daher Ihre Aufgabe, mit lauter Stimme zu sagen, dass das 21. Jahrhundert keinen Platz für Besatzungsmächte und Unterdrücker hat, und dass jedes Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat. Israel braucht diesen Druck, um seiner selbst willen. Wer Israel liebt, muss Druck auslösen, bis die Besatzung beendet ist.
 
Mit freundlichen Grüssen, Dr. Meir Margalit
 
Anmerkung von politonline
Was den Bau neuer Siedlungen betrifft, so kündigte Ministerpräsident Ehud Olmert in Anwesenheit der Bundeskanzlerin die Ausweitung des illegalen Siedlungsprogramms an 1. Er  trat am 17.3.08 in Jerusalem vor die Presse und verkündete, Israel werde in Ostjerusalem Hunderte neuer Wohnungen errichten. Die Siedlung Har Homa sei »unveräusserlicher Bestandteil« Israels. Der Regierungschef verteidigte das Expansionsprogramm seines Landes in Anwesenheit der Bundeskanzlerin, die brav lächelte und weitgehend schwieg. Wenige Stunden vor Beginn des Merkel-Besuchs hatte die israelische Armee Angriffe auf den Gazastreifen geflogen. Wieder einmal. Dabei wurden vier Mitglieder der palästinensischen Organisation Islamischer Jihad getötet. Nach den Tötungen von fünf Palästinensern am 12.3.  in der Westbank schwindet die Hoffnung auf einen baldigen Waffenstillstand. Auch hält der Beschuss von südisraelischen Ortschaften wie Sderot mit Kassamraketen und Mörsergranaten an. Israel ist ökonomisch in einer glänzenden Verfassung und wird von der BRD verstärkt als Handelspartner, besonders im militärischen Bereich, wahrgenommen. Damit nähert sich Merkel immer mehr der Nahost Politik der USA an. »Die Bundeskanzlerin versucht zu Recht ihrer aus der Shoah herzuleitenden Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk gerecht zu werden«, sagte Tsafrir Cohen, Israel-Palästina-Repräsentant der in Frankfurt am Main ansässigen Hilfsorganisation medico international. »Doch eine zentrale Lehre aus eben jeder Vergangenheit ist die universelle Einhaltung von Menschenrechten und des internationalen Rechts. Beide werden durch den gegenwärtigen Ausbau eines Enklavensystems in den besetzten Gebieten eklatant und systematisch verletzt. Dazu darf die Bundesrepublik nicht schweigen.«
 
Wir fügen abschliessend den in der Zeitung Freitag erschienene Gastkommentar des Völkerrechtlers und Bundestagsabgeordneten der Linkspartei, Norman Paech, ein 2:
Kein Weg aus der Eskalation
Wenn drei Viertel der Palästinenser die Beendigung der Verhandlungen zwischen dem Präsidenten der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, und den Israelis fordern, weil sie ergebnislos verlaufen, und 64 % den Beschuss Israels mit Raketen vom Gaza-Streifen aus befürworten, ist unser Bild von Palästina offenbar korrekturbedürftig. Wenn das »Palestinian Center for Policy and Survey Research« in der gleichen Umfrage feststellt, dass Abbas bei Präsidentenwahlen nur noch 46 % der Stimmen (vor drei Monaten 56 %), Ismail Haniyeh aber 47 % (vor drei Monaten 37 %) erhalten würde, scheint auch die Rechnung der Annapolis-Strategen nicht aufzugehen. Nie zuvor hat eine Mehrheit die Beendigung der Gespräche und den Beschuss Israels befürwortet. Alarmierend ist auch, dass 86 % der Bevölkerung den Anschlag vom 6. März gegen die Yeshiva-Schule in Jerusalem, bei dem acht Schüler erschossen wurden, gut heißen. Die Wut, die aus dieser Umfrage spricht, so das »Palestinian Center«, ist ähnlich wie zur Zeit der zweiten Intifada von 2000. Nie gab es eine größere Unterstützung für Gewalt in den vergangenen 15 Jahren.
 
Die Ursache dieses für alle Seiten katastrophalen Ergebnisses sieht das Institut in den rund 130 Toten, die die jüngsten Angriffe der israelischen Armee in Gaza gekostet haben, den vier Männern, die eine israelische Gang vor zwei Wochen in Bethlehem erschossen hat, und in der Ankündigung, die Siedlungen weiter auszubauen. Nichts hat sich seit Annapolis und Paris für die Bevölkerung geändert, niemand glaubt an den Friedenswillen der Regierung von Ehud Olmert. Die 150 Millionen US-$, die George W. Bush dieses Jahr dem Haushalt der Palestinian Authority überweist, werden ebenso wirkungslos in ungeklärten Kanälen verschwinden wie jede Budgethilfe bisher. Selbst der IWF ist überzeugt, dass der in Paris beschlossene Transfer von 7,2 Milliarden US-$ keine nachhaltige Besserung der trostlosen Lage bringen wird. Die Arbeitslosigkeit in Städten wie Kalkilya reicht an die 60 %, mehr als die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung leben in Armut. Da helfen keine Industrieparks, wie von Kanzlerin Angela Merkel mit 20 Millionen Euro Unterstützung für Jenin versprochen.
 
An Geld fehlt es in den besetzten Gebieten nicht. Hebron etwa hat an die 500 Millionäre. Palästinenser im Ausland haben genug Geld, um es in ihrer alten Heimat zu investieren - sie haben nur keine Möglichkeiten. Das ökonomische Leben wird durch die massiven israelischen Restriktionen, die häufigen Straßensperren und Kontrollen, die allnächtlichen Überfälle, Verhaftungen und Erschießungen durch israelisches Militär, den Mauerbau und die Erweiterung der Siedlungen erdrosselt. Das Eindringen der Siedler in die Altstadt von Hebron hatte die Schließung von 1.600 Läden zur Folge, die Einmauerung von Kalkilya trieb 600 zur Aufgabe, von 4.000 Geschäften in Gaza sind nur noch 100 geöffnet. Der Schlüssel zur Entwicklung Palästinas liegt nicht beim internationalen Geld, den zahllosen Nichtregierungsorganisationen, den unübersichtlichen Hilfsprojekten - er liegt ganz einfach in der Aufhebung der Besatzung. Niemand hatte erwartet, dass Frau Merkel in ihrer Rede vor der Knesset diese Forderung erheben würde. Niemanden habe ich getroffen, der Anstoß an ihrem Eintreten für die Sicherheit Israels genommen hat. Unverständnis und Empörung aber löste die Einseitigkeit ihrer Erklärung aus, die mit keinem Wort die historischen Opfer der Palästinenser, die desolate Lage vor allem im Gazastreifen oder die deutsche Verantwortung auch für einen palästinensischen Staat erwähnte. Selbst die israelische Presse hat die Einseitigkeit einer Rede kritisiert, von der keine Idee, keine Hoffnung für einen Friedensprozess ausgeht, der das Ende der Besatzung herbeiführen muss.
 
Das offene Schreiben von Margalit ist auf http://alsharq.blogspot.com/2008/03/dr-meir-margalit-zu-merkels-israel.html vom 26. März 2008 einsehbar; Dr. Margalit ist Historiker und Aktivist der israelischen Friedensbewegung und ehemaliges Stadtratsmitglied von Jerusalem; aus dem Hebräischen übersetzt von Benjamin Rosendahl
1 http://www.jungewelt.de/2008/03-18/038.php 18.3.08 Palästinenser kein Thema
2 http://www.freitag.de/2008/13/08130206.php vom 28. 3. 08
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