Schwerpunkt Asien

Einer Mitteilung des in der Regel verlässlich informierten Netzwerks »Réseau Voltaire« zufolge hat das Pentagon den Befehl erhalten,

den Nahen Osten aufzugeben und sich auf den Fernen Osten zu konzentrieren. Die »China Task Force«, eine Arbeitsgruppe des US-Verteidigungsministeriums für China, hat jetzt ihren Bericht vorgelegt. Dieser bleibt zwar geheim, er prangert aber offenbar die Kluft zwischen Erklärungen und Taten an. Die Arbeitsgruppe war diesen Februar, wenige Stunden vor einem Telefongespräch zwischen den Präsidenten Biden und Xi Jinping, angekündigt worden. Sie besteht aus 15 Mitgliedern, die hauptsächlich aus dem Pentagon und der Geheimdienstwelt stammen; den Vorsitz führt Ely Ratner, der während der Obama-Regierung stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater von Vizepräsident Biden war. In der Folge unterzeichnete Verteidigungsminister General Lloyd James Austin III sofort mehrere geheime Richtlinien und wandte sich an die Mitarbeiter des Pentagons, damit diese unmittelbar umgesetzt würden, dies ohne neue Prioritäten abzuwarten. Es würde darum gehen, den Schwerpunkt nicht mehr auf den erweiterten Nahen Osten, sondern auf Asien zu legen. Kurz gesagt, zu tun, was man seit Jahren sagt, aber nicht durchführt.  [1]

Hinsichtlich der Frage, wie das Pentagon China ins Visier nehmen soll, findet derzeit eine heftige Debatte statt, die sich mit zwei Visionen der Rolle der US-Streitkräfte gegenüber China befasst. Sollen diese in der Ferne positioniert werden und nur Raketen zu befürchten haben, oder in der Nähe, wo sie möglicherweise von feindlichen Soldaten angegriffen würden? Beide Optionen verlangen sehr unterschiedliche Stationierungen der Truppen und erfordern im Fall von Stützpunkten an der chinesischen Grenze sehr hohe Kosten.

Das Office of Cost Assessment and Program Evaluation CAPE [Büro für Kosten- und Programmbewertung]  sowie das Office of Net Assessment ONA  [Büro für die strategischen Einschätzung]  bestehen darauf, dass die Stützpunkte so weit wie möglich von China entfernt liegen. Die Gegner der beiden Gruppierungen weisen ihrerseits auf die Notwendigkeit einer sofortigen Entsendung von Truppen hin, wenn China Taiwan angreift. Laut CAPEund ONAwürde die Annexion Taiwans durch Peking indessen nicht viel bedeuten. Der Kommandant der Luftwaffe der IndoPaCom, General Ken Wilsbach, wiederum plädiert für eine Zerstreuung der Streitkräfte in einer Vielzahl kleiner Stützpunkte, die gleichzeitig schwer angreifbar sind.  [2]

Was die EU angeht, so soll diese gemäss einem Bericht von German Foreign Policy [3] »ihre außen- und militärpolitischen Aktivitäten in der Asien-Pazifik-Region deutlich ausweiten, wie dies der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach seiner Rückkehr von einer mehrtägigen Reise nach Indonesien gefordert hat. Borrell besprach in Jakarta nicht nur eine Intensivierung der Kooperation mit Indonesien, sondern auch mit dem südostasiatischen Staatenbund ASEAN. »Wir sind dabei«, so Borrell, »Optionen zur Ausweitung der maritimen Präsenz der EU im riesigen indo-pazifischen Raum zu erkunden«. Das sei erforderlich, da sich die globalen Gewichte mit dem Aufstieg Chinas immer mehr weg vom Atlantik hin zum Pazifik verschöben: »Die Geschichte der Menschheit des 21. Jahrhunderts wird in der Indo-Pazifischen Region geschrieben«. Nur wenige Tage zuvor hatte   Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer als erstes Mitglied einer Bundesregierung überhaupt die Pazifikinsel Guam besucht, wo die Fregatte Bayern bei ihrer Asienfahrt im Herbst Station machen wird. Guam beherbergt wichtige US-Militärstützpunkte und gilt bei einem Krieg zwischen den USA und China als mögliches Schlachtfeld.    

Asiens Münchner Sicherheitskonferenz

Die Südostasienreise, die der EU-Außenbeauftragte absolviert hat, mußte pandemiebedingt deutlich reduziert werden. Borrell hatte ursprünglich einen Auftritt beim Shangri-La Dialogue in Singapur eingeplant; die Veranstaltung, die jedes Jahr vom Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) durchgeführt wird, wird zuweilen als asiatische Parallele zur Münchner   Sicherheitskonferenz eingestuft. Borrell hätte dort die Gelegenheit gehabt, mit Verteidigungsminister Austin zusammenzutreffen. Singapur sagte den Shangri-La Dialogue allerdings wegen eines starken Aufflackerns der Pandemie kurzfristig ab. Genauso wenig konnte Borrell die Philippinen bereisen, was kürzlich im Gespräch gewesen war: Auch dort macht die Pandemie Besuchsaufenthalte zur Zeit unmöglich. Um seine Reise nicht gänzlich abblasen zu müssen, traf Borrell am 2. 6. für vier Tage in Indonesiens Hauptstadt Jakarta ein. Dort führte er Gespräche mit Präsident Joko Widodo, Außenministerin Retno Marsudi und Verteidigungsminister Prabowo Subianto. Darüber hinaus fand er sich zu Gesprächen im Hauptquartier des südostasiatischen Staatenbundes ASEAN ein, das in Jakarta angesiedelt ist.

Nicht mehr in Europa    

Hintergrund von Borrells Reise war ausdrücklich die globale Kräfteverschiebung hin zum Pazifik, die Europa  - jahrhundertelang globaler Mittelpunkt der technologischen und der ökonomischen Entwicklung sowie Expansionszentrum über die gesamte Welt ausgreifender Kolonialmächte -   an den Rand der Weltpolitik zu rücken droht. Der EU-Außenbeauftragte verdeutlichte dies mit der Feststellung, der Indo-Pazifik schaffe 60 % der globalen Wirtschaftsleistung und erarbeite zwei Drittel des globalen Wachstums. In der Tat befindet sich in der Region mittlerweile das größte Freihandelsbündnis der Welt [die Regional Comprehensive Economic Partnership RCEP]; letzteres umfaßt neben der ASEAN China,  Südkorea und Japan sowie Australien und Neuseeland und steht  für annähernd ein Drittel der Weltbevölkerung und ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung: Dies mit unvermindert steigender Tendenz. Experten schreiben dem RCEP das Potential zu, globale Standards zu setzen. »Die Geschichte der Menschheit des 21. Jahrhunderts wird in der Indo-Pazifischen Region geschrieben«, diagnostizierte Borrell in Jakarta: »Das Gravitationszentrum der Welt liegt nicht mehr mitten in Europa«. Dem müsse die EU nun umgehend Rechnung tragen. 

»Grüner Neokolonialismus«

Dementsprechend dringt Borrell darauf, dass die EU, die »zu oft mit sich selbst und mit ihrer Nachbarschaft beschäftigt ist«, in Südostasien deutlich mehr Präsenz zeigen müsse. Bei seinem jetzigen Besuch in Jakarta hatte der EU-Außenbeauftragte mit hausgemachten Problemen zu kämpfen. So hält der Streit   um den Import von Palmöl aus Indonesien und Malaysia, das als Basis für Biokraftstoffe genutzt wird, an. Das Europaparlament hat sich klar gegen die Nutzung von Palmöl als Kraftstoff ausgesprochen, da bei dessen Produktion soziale und Umweltstandards oft schwer verletzt werden; auch hat die EU 2019 einen Importzoll auf indonesischen Biodiesel wegen angeblich unzulässiger Subventionen erhoben. Dagegen geht Jakarta bei der WTO vor und beschwert  sich über den grünen Neokolonialismus der europäischen Mächte. Borrell sah sich nun genötigt zu bekräftigen, dass die EU »nicht gegen Palmöl sei«. Darüber hinaus erörterte der EU-Außenbeauftragte mit seinen Gesprächspartnern in Indonesien den Kampf gegen die Pandemie. In Indonesien wird, wie auch sonst in Südostasien, sehr genau registriert, dass die reichen Mächte des Westens, darunter die EU, die meisten verfügbaren Impfstoffe wegkaufen und dass deshalb für ärmere Länder wenig übrig bleibt. Indonesien etwa bekam AstraZeneca-Dosen aus Indien; seit deren Ausbleiben ist es gänzlich auf chinesische Vakzine angewiesen.

Die EU als geopolitischer Akteur 

Nach seiner Rückkehr fordert Borrell nun außer erneuten Bemühungen um ein Freihandelsabkommen mit Indonesien  - die EU unterhält solche Abkommen innerhalb von ASEAN bisher lediglich mit Singapur und mit Vietnam - insbesondere auch entschlossenere außen- und militärpolitische Aktivitäten in der Region. »Wenn wir ein geopolitischer Akteur sein wollen, müssen wir auch als politischer und als Sicherheitsakteur in der Region wahrgenommen werden«, erklärte er und gab bekannt: »Wir sind dabei, Optionen zur Ausweitung der maritimen Präsenz der EU im riesigen indo-pazifischen Raum zu erkunden«. Kriegsschiffe Frankreichs sowie des außen- und militärpolitisch weiterhin eng mit der EU kooperierenden Vereinigten Königreichs sind immer häufiger mit Übungsfahrten sowie Manövern im Indischen und im Pazifischen Ozean präsent. Auch die Bundeswehr verstärkt ihre Anstrengungen: Sie wird Kampfjets nach Australien und eine Fregatte in den Pazifik entsenden. Zur Vorbereitung hielt sich Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer Ende Mai in Südkorea auf: Die Fregatte Bayern soll nach gemeinsamen Übungen mit den japanischen Streitkräften eine Zeitlang an der Überwachung der UN-Sanktionen gegen Nordkorea teilnehmen. 

Potentielles Schlachtfeld

Nach ihren Gesprächen in Seoul reiste Kramp-Karrenbauer als erste   bundesdeutsche Ministerin zu Gesprächen nach Guam. Guam ist ein Außengebiet der Vereinigten Staaten, das unter anderem eine Marine- und eine Luftwaffenbasis beherbergt; die von Kramp-Karrenbauer besuchte Andersen Air Force Base gilt als einer der bedeutendsten US-Militärstützpunkte in der Asien-Pazifik-Region und im Falle eines Kriegs in Asien nicht nur als wichtige Brücke für den US-Nachschub, sondern auch als Startpunkt für US-Langstreckenbomber. Auf ihrer Asienfahrt wird die Fregatte Bayern auch auf Guam erwartet. Die  Insel hat unter US-Militärstrategen zuletzt größere Aufmerksamkeit erhalten, weil Kriegssimulationen, sogenannte war games, ergeben haben, dass China im Kriegsfall mit seinen zahlreichen Abwehrraketen wohl in der Lage ist, Landebahnen auf Guam und sonstige Einrichtungen dort mit seinen Abwehrraketen zu zerstören und dadurch US-Angriffe auf chinesisches Territorium zu verhindern. Um dennoch ungehindert Angriffe führen zu können, sieht der neue US-Militärhaushalt umfangreiche Mittel zur Errichtung von High-Tech-Abwehrsystemen auf der Insel vor. 

Kramp-Karrenbauer besuchte also Ende Mai  - von der deutschen Öffentlichkeit kaum beachtet -  mit Guam ein potentielles Schlachtfeld in einem drohenden Krieg der Vereinigten Staaten gegen China.

 

 

[1]  https://www.voltairenet.org/article213346.html   10. 6. 21

[2]  https://www.voltairenet.org/article213358.html   11. 6. 21

[3]  https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8620/   8. 6. 21
Das Gravitationszentrum der Welt