Der Verrat des Bundesrats an der bilateralen Idee von Nationalrat Luzi Stamm, Baden

Bilaterale Verträge statt EU-Beitritt! Das wurde unserer Bevölkerung nach den Volksentscheiden 1992 (Nein zum EWR) und 2001 (klares Nein zur Initiative "Ja zu Europa") versprochen. Mit zweiseitigen ("bilateralen") Verträgen werde versucht, die Interessen der Schweiz zu wahren. Das Vorgehen des Bundesrats bei den Bilateralen II beweist jedoch: Statt Vorteile für unser Land auszuhandeln, missbraucht er die "Bilateralen", um uns in die EU zu zwingen.

Gefährliche Entwicklung für unsere direkte Demokratie
 
Gefährlich beim Vorgehen des Bundesrats ist vor allem zweierlei:
 
- Erstens verdeckt er sein wahres Ziel, das er seit 1992 verfolgt: den EU-Beitritt. Der Schock, dass das Volk am 4.3.2001 mit 76 Prozent Nein-Stimmen einen sofortigen EU-Beitritt ablehnte, sitzt so tief, dass die Beitritts-Strategen in Bern seither ihre Taktik geändert haben: Der Bevölkerung wird systematisch erklärt, ein Beitritt sei kein Thema. Hinter den Kulissen wird der EU-Beitritt jedoch nach wie vor mit voller Kraft angestrebt. Die freie Willensbildung wird damit verfälscht und der Stimmbürger irregeführt.
 
- Zweitens führt sich der Bundesrat immer mehr wie eine politische Partei auf und vertritt somit nur noch einen Teil der Bevölkerung. Bundesrätliche Aussagen wie "diese Abstimmung müssen wir gewinnen" sind zur Tages­ordnung geworden. Mit gigantischem Propagandaaufwand führt unsere Landesregierung Abstimmungskampagnen, unter Einspannen der Medien und unter Mobilisierung der finanziell starken Wirtschaftsver­bände. Andersdenkende haben gegen diese Übermacht kaum mehr eine Chance und können eine Abstimmung höchstens noch gewinnen, wenn sie den Bundesrat als Gegenpartei vehement bekämpfen.
 
Der Bundesrat tut so, als hätten die Bilateralen nichts mit dem EU-Beitritt zu tun. Nur selten nennt er die wahren Absichten, oft nur in ausländischen Medien: So zum Beispiel Bundesrat Moritz Leuenberger in der Frankfurter Rundschau vom 2.3.2001: "Je mehr Hürden wir abbauen, desto selbstverständlicher kann der EU-Beitritt später vollzogen werden". Oder Bundesrätin Micheline Calmy-Rey nach 100 Tagen im Amt mit erfrischender Ehrlichkeit: "Die Bilateralen Verträge sind dazu da, um den Weg in die EU zu ebnen" (Pressekonferenz 24.4.2003). Diesen zentralen Satz muss man sich immer und immer wieder vor Augen halten; denn nur so ist das Verhalten des Bundesrats überhaupt verständlich.
 
 
Entlarvendes Verhalten des Bundesrats bei den "Bilateralen II" 
 
Nach Abschluss der "Bilateralen I" verlangte die EU von der Schweiz auf den zwei Gebieten "Zinsbesteuerung" und "Rechtshilfe" dringend neue Vertragsabschlüsse. Da die Schweiz auf beiden Gebieten zu Konzessionen bereit war, befand sie sich verhandlungs­taktisch in einer hervorragenden Situation und hätte bei all den Themen, die uns Probleme bereiten, Forderungen stellen können (hier nur einige Beispiele):
 
Forderung "polizeiliche Zusammenarbeit". Wenn die Schweiz polizeiliche Zusammen­arbeit für sinnvoll hält (wie z.B. Austausch der Daten von wirklich Kriminellen), würde sie diese natürlich jederzeit erhalten, übrigens auch wenn das Volk Schengen ablehnen sollte (im Rahmen von "Bilateralen III"). Wer innerhalb der EU sollte gegen poli­zeiliche Zusammenarbeit opponieren?
 
Forderung "keine schikanösen Grenzkontrollen". Wir hätten vertraglich ausschliessen können, dass Grenzgänger künftig mit "Dienst nach Vorschrift" schikaniert werden, wie dies im Frühling 2004 während einigen Tagen der Fall war.
 
Forderung "keine Re-Exportzölle". Ebenso hätte unterbunden werden können, dass die EU Re-Exportzölle erhebt, wie dies letztes Jahr plötzlich drohte. Eine ganze Reihe von Forderungen zu Gunsten unserer Exportindustrie hätte umgesetzt werden können.
 
Forderung "neue Regelung beim Transitverkehr". Statt am Transit der 40-Tönner Milliarden zu verdienen, haben wir uns Lastwagenlawinen und Dutzende von Milliarden von Franken aufgebürdet (Bau der Neat, Milliarden für eine angebliche Umlagerung des Verkehrs auf die Schiene, SBB-Defizite, Strassensanierungen für 40-Tönner, Staukosten). Die Gelegenheit wäre ideal gewesen, dieses Lastwagen-/Finanzdesaster teilweise zu korrigieren.
 
Forderung "Anflug auf die Schweizer Flughäfen wie in den 90er-Jahren". Bei einigermassen geschicktem Verhandeln hätte die ganze Problematik um den Flughafen Kloten im Rahmen der "Bilateralen II" mit einem Schlag gelöst werden können. Die Nachteile für Hunderttausende von Schweizerinnen und Schweizern (plötzlicher Fluglärm plus Wertverlust von Grundstücken in zweistelliger Milliarden-Höhe) hätten eliminiert werden können.
 
Forderung "Kontingente für Arbeitskräfte". Auch die Nachteile einer unkontrollierbaren Einwanderung durch eine volle Personenfreizügigkeit hätten vermieden werden können (Lichtenstein hat auch Konzessionen ausgehandelt). Die Interessen der Wirtschaft (Kontingente, Mitarbeiter in die Oststaaten zu schicken etc.) hätten ohne weiteres in die "Bilateralen II" eingebaut werden können.
 
So vieles hätte unser Land gebraucht, um Wohlstand und Souveränität bewahren zu können! Was aber machte unsere Landesregierung? Sie verlangte nichts, was unserem Land Vorteile bringt. Als angebliche "Gegenleistung" forderte sie vielmehr den Anschluss an Schengen!
 
Einen besseren Beweis für die wahren Absichten des Bundesrats gibt es kaum. Denn es war der Bundesrat selbst, der noch 1999 in der Botschaft zu den Bilateralen I ausdrücklich zugegeben hatte, dass über Schengen nicht einmal verhandelt werden könne, weil "Verhandlungen für jene Bereiche nicht in Frage kommen, bei deren Rege­lung Souveränitätsübertragungen an supranationale Instanzen unerlässlich sind". Dass der Bundesrat bei den Verhandlungen über die "Bilateralen II" Schengen ins Spiel brachte, war somit ein eigentlicher Verrat an allen, die auf die bilateralen Verträge als Alternative zum EU-Beitritt gehofft hatten.
 
 
Die Bilanz der bilateralen Verträge II
 
Entsprechend verheerend ist die Bilanz der bilateralen Verträge ausgefallen. Wer sie würdigt, muss beachten, dass acht der neun Dossiers so oder so in Kraft treten, da nur gegen Schengen/ Dublin ein Referendum ergriffen wurde.
 
-  Bei der Zinsbesteuerung (Besteuerung der Erträge von Geldern, die aus der EU in die Schweiz transferiert worden sind) ist es weltweit einmalig, dass ein Land (die Schweiz) für ein anderes (die EU) Steuern eintreibt und ans Ausland (die EU) weiterleitet.
 
-  Bei der Rechtshilfe (mit dem irreführenden Titel "Betrugsabkommen") hat die Schweiz der Eliminierung des Bankkundengeheimnisses bei den indirekten Steuern zugestimmt (z.B. bei Mehrwertsteuerdelikten), eine extreme Kon­zession, wenn man an die Bedeutung des Bankenplatzes Schweiz für unseren Wohlstand denkt.
 
-  Bei Schengen/Dublin verkauft uns der Bundesrat wie erwähnt ein Dossier als Vorteil, bei dem wir in Tat und Wahrheit unsere Souveränität verkaufen. Dublin ist von unterge­ordneter Bedeutung und ist wohl sogar kontraproduktiv, wie Erfahrungen in Deutschland zeigen. Schengen jedoch hat eine enorme Tragweite und bedeutet faktisch einen EU-Teilbeitritt, denn wir übernehmen das künftige Schengen-Recht (heute rund 500 Seiten), ohne dass wir mitbestimmen können. Der Bundesrat rühmt sich zwar, er habe eine jederzeitige Ausstiegmöglichkeit aus Schengen ausgehandelt. Wie sollte jedoch ein Ausstieg je wieder möglich sein, wenn wir schon hunderte von Bestimmungen übernommen haben und die Grenzkontrollen abgeschafft hätten? Die Vorteile von Schengen ("Schengen light") würden wir jederzeit auch ohne Anschluss an Schengen erhalten, denn Dinge wie die polizeiliche Zusammenarbeit oder die sinnvolle Anerkennung von Visas liegt im beidseitigen Interesse.
 
- Die sechs verbleibenden Dossiers (Verarbeitete Landwirtschaftspro­dukte, Statistik, Ruhegehälter, Bildung, Umwelt und Medien) sind relativ unbedeutende Ergänzungen ("Leftovers") der "Bilateralen I", auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann. Per Saldo sind sie sicher nicht zu Gunsten der Schweiz ausgefallen; im Wesentlichen verursachen sie uns nur Kosten. Man beachte zum Beispiel das Dossier "Ruhegehälter", für in der Schweiz wohnende, pensionierte EU-Beamte (ein Dossiers für zurzeit nur rund 50 Personen!). Diese werden künftig zu 100 Prozent durch die EU besteuert, zu 0 Prozent durch die Schweiz. Man muss sich schon fragen, wo da noch Vorteile für unser Land liegen sollen.
 
Unter dem Strich bedeutet dies, dass wir bei den beiden Dossiers Zinsbesteuerung und Rechtshilfe gewaltige Konzessionen gemacht haben, dass wir dafür aber überhaupt keine Gegenleistung erhalten haben; im Gegenteil, mit Schengen würden wir zudem ein gefährliches trojanisches Pferd in unser Land holen, das unsere Selbstbestimmung im sehr wichtigen Bereich der inneren Sicherheit zerstört.
 
 
Die Matchball-Frage: EU-Beitritt oder selbständige Schweiz?
 
Wenn der Bundesrat sich rühmt, hervorragend verhandelt zu haben, so hat er zwar Recht aus der Optik derjenigen, die der EU beitreten wollen. Für diejenigen, welche an einer selbständigen Schweiz mit ihrer weltweit ein­maligen direkten Demokratie festhalten wollen, sind die Verträge miserabel.
 
Nochmals sei Bundesrätin Calmy-Rey zitiert (24.4.2003): Die bilateralen Verhand­lungen II entsprechen der längerfristigen Europastrategie des Bundesrats. (...) Indem wir die bilatera­len Beziehungen zur Europäischen Union und allen jetzigen und künftigen Mitgliedstaaten intensivieren, können wir den Boden für den EU-Beitritt vorbereiten (...) Wir können uns nicht mit der Zuschauerrolle begnügen. Ich werde alles daran setzen, um das Schweizer Volk davon zu überzeugen, dass diese neue Etappe für Europa und unser Land lebenswichtig ist." Nicht nur die Bundesrätin, sondern der Bundesrat als Ganzes setzt "alles daran, um das Volk zu überzeugen". Statt zu infor­mieren, will der Bundesrat "überzeugen", im Klartext manipulieren. Automatische Einbürgerung, Abschaffung der Grenzen, freie Einwanderung; das alles sind Teile der bundesrätlichen Strategie, uns in die EU zu führen.

Das Jahr 2005 wird zur entscheidenden Weichenstellung für unser Land. Akzeptiert unsere Bevölkerung Schengen, das uns in die EU führen soll? Oder bringen wir die Kraft auf, für eine selbständige Schweiz mit besseren Rahmenbedingungen und mehr Wohlstand zu stimmen?