Offener Brief an die NZZ, Ausgabe Nr. 234 vom 7.10.04

Zu dieser Prüfung sei zunächst noch einmal grundlegend festgestellt, dass es der Druck der USA war, der die EU 1999 in Helsinki dazu brachte, der Türkei den Status einer Beitritts-kandidatin einzuräumen. Schon Clinton hatte die EU aufgefordert, einem Beitritt der Türkei gegenüber offen zu sein und im Januar 1998 belehrte uns die USA in Helsinki, "dass der Platz eines Staates in der europäischen Familie nicht daran festgemacht werden dürfe, ob dessen Bild von Kirchturmspitzen oder Minaretten geprägt werde."

Hier geht es vor allem darum, mittels des Anschlusses der Türkei den beherrschenden Einfluss Washingtons auf den alten Kontinent zu verstärken. Den Wünschen der USA gemäss sollte der Beitritt ja schon in 2007 erfolgen. Man darf davon ausgehen, dass die mit der USA eng paktierende Türkei als Vollmitglied in Brüssel ausschliesslich die Strategien Washingtons vertreten würde, was  François Bayrou,  der Präsident der französischen UDF, ebenfalls impliziert, wenn er sagt, dass der Beitritt der Türkei die Union daran hindern würde, hinsichtlich der grossen Probleme unseres Planeten mit einer Stimme zu sprechen.

Sie schreiben,  dass Brüssel gar nichts anderes übrig blieb, als den Beginn der Beitrittsver-handlungen zu empfehlen, dies unter dem Aspekt der  EU als eine  freiheitliche Gesellschaft , die bisher stets das Richtige getan habe und als solche auch die sachlichen Bedingungen aufstelle, denen sich jeder Aspirant zu unterziehen habe. In Wirklichkeit hat die EU auf Grund der massiven Einflussnahme der USA praktisch keine andere Wahl, was die angebliche Freiheit der Europäer mehr als relativiert.  Sie zitieren ferner den luxemburgischen Regierungschef Juncker, laut dem "der Zug längst abgefahren sei", die Beitrittsverhandlungen also zu empfehlen wären,  unterlassen es jedoch, dessen schon früher geäusserten Worte hinzuzufügen, dass er nämlich 1997  als einziger davor gewarnt hatte,  die Türkei als Beitrittskandidatin in Betracht zu ziehen, dass jedoch niemand ernsthaft darüber diskutieren wollte. Die International Herald Tribune schrieb am 9.2.04  im Zusammenhang mit der Sicherheitskonferenz der NATO:  "Viele Europäer, einschliesslich eines grossen Teils der konservativen Freunde der  Bush-Administration, sind dem offenen Druck, den die USA auf die EU ausübt, damit sie die Türkei als Beitrittskandidatin annimmt, abgeneigt. Sie sagen, dass die Involvierung Washingtons die Argumente derjenigen nähre,  die die Politik der USA dahingehend charakterisieren,  dass diese eine  europäische Integration zu vereiteln trachte. Sie fürchten ferner, dass die Amerikaner keine Möglichkeit sehen werden, von ihrer aggressiven Unterstützung der Türken abzuweichen, da ihre strategischen Ziele im Mittleren Osten für sie von grösserem Interesse als das Zufriedenstellen  Europas sei." Wie gross der Druck der USA hinter den Kulissen sein muss, geht allein schon daraus hervor, dass es in Brüssel offenbar niemand wagt, die längst nicht beendete Verfolgung der Kurden anzusprechen.

Die Türkei hat Jahre schwerster Korruption hinter sich und ist noch immer vom IWF abhängig, wozu der Standby-Kredit vom Februar 2001 in Höhe von 19 Milliarden US-$ gehört;  die Inflationsrate beträgt derzeit  68.5 %.  Weder die Nato-Mitgliedschaft noch das Bündnis mit der USA. hat die Türkei je daran gehindert, die Folter zu praktizieren, wozu Verheugen mit einen einmaligen Kommentar aufwartet: es werde nicht mehr systematisch gefoltert, Brüssel erwarte aber, dass die Türkei diese Praktiken vollständig abschaffe. Er hat auch keinerlei Hemmungen, wenn er erklärt, dass ein Beitritt der Türkei keinen Euro mehr kosten werde, "als die Mitgliedländer tatsächlich dafür aufbringen könnten und wollten", was angesichts der gnadenlosen Überschuldung der grossen EU-Staaten an Zynismus grenzt. Von "wollen" kann schon gar keine Rede sein, da die EU-Bürger den Beitritt mehrheitlich ablehnen. Warnende Stimmen zahlreicher Politiker sind nicht zu  überhören. Dennoch steht zu befürchten, dass die "willigen", der USA zudienenden  Stimmen fürs erste die Oberhand haben werden. Was Ihre Einstellung "die Türkei würde als Mitglied auch Europa etwas auflockern, türkisieren, mehr als das durch die Einwanderung ohnehin geschieht"  betrifft,  so verschlägt mir diese schlicht die Sprache. Wie wäre es, wenn Sie zunächst einmal eine türkische Auflockerung der Schweiz testeten, bevor Sie diesen Vorschlag den EU-Bürgern unterbreiten?