Deutsche Richter setzen Europa Schranken - von Peter Müller

Das Verfassungsgericht verhandelt über die Auslieferung eines Deutschen. Es geht um den Europäischen Haftbefehl - und darum, wo die Integration der EU endet Der Abendflug von Berlin nach Madrid wurde per Eilentscheidung aus Karlsruhe storniert. Zumindest für den Fluggast Mamoun Darkazanli. Dem 46jährigen Deutschen syrischer Abstammung sollte im vergangenen November widerfahren, was das Grundgesetz für deutsche Staatsbürger bislang ausdrücklich verboten hatte. Darkazanli sollte ausgeliefert werden. Der spanische Terroristenjäger Baltazar Garzón wollte den Deutschen auf der Anklagebank in Madrid sehen. Darkazanli soll das Terrornetzwerk Al Qaida unterstützt haben, so der Vorwurf. Der Europäische Haftbefehl erlaubt der spanischen Justiz seit August 2004, auch in Deutschland zuzuschlagen. Aufgrund des europäischen Rechts gilt das Auslieferungsverbot des Grundgesetzes nicht mehr.

Auf einen solchen Paradefall hatte das Verfassungsgericht in Karlsruhe nur gewartet. Schon lange suchen die europaskeptischen Richter Udo Di Fabio und Winfried Hassemer nach einer Möglichkeit, der allmächtig erscheinenden EU ein Demokratiedefizit zu attestieren. Der mit der Eilentscheidung befaßte Zweite Senat stoppte die Auslieferung des Terrorverdächtigen, warf den internen Terminplan um und setzte das Verfahren mit dem Aktenzeichen "2 BvR 2236/04" nach oben. Nun rüstet sich Karlsruhe für ein juristisches Gipfeltreffen. Zwei Verhandlungstermine sind für die kommende Woche angesetzt. Das ist ungewöhnlich. So viel Zeit nahmen sich die Richter selten, etwa 1975 bei der Abtreibungsdebatte um den Paragraphen 218.
 
Um den Europäischen Haftbefehl geht es jetzt auch nur vordergründig. Vielmehr steht ab Mittwoch die europäische Integration auf dem Prüfstand und damit die Frage, ob deutsche Grundrechte in der Europäischen Union ausreichend geschützt werden. Unter Tagesordnungspunkten wie "Integrationsgrenzen" dürfte genügend Munition für Politikerschelte in Richtung Berlin abfallen. "Das könnte ein zweites Maastricht-Urteil werden", sagen Rechtspolitiker wie Joachim Stünker (SPD). Dieses Urteil des Verfassungsgerichts hatte 1993 Schlagzeilen gemacht. Mit der Zustimmung zum EG-Beitritt habe der Bundestag nicht für alle Zeiten sein Plazet für die Verlagerung immer weiterer Zuständigkeiten nach Brüssel gegeben, urteilten die Richter. Dem Bundestag müßten Aufgaben "von substantiellem Gewicht bleiben".
 
Dabei hatten Richter wie Bürger die europäische Integration jahrzehntelang wie ein Naturereignis hingenommen. So lange jedenfalls, wie sie allen nutzte. Die Angleichung der Rechtsvorschriften förderte den Absatz holländischen Biers in Deutschland und erlaubte deutschen Rechtsanwälten, vor Mailänder Gerichten zu plädieren. Die Europäische Union wurde zum Binnenmarkt. Doch zu einem Raum des Rechts wurde Europa nicht. Als EU-Richtlinien gegen Grundrechte verstießen, begann der Dauerclinch zwischen den Verfassungsrichtern aus Karlsruhe und ihren EU-Kollegen in Luxemburg. Erst 1986 urteilten dann die Deutschen: Solange die EU und ihre Gerichte die Grundrechte generell wahren, verzichte Karlsruhe auf das letzte Wort.
 
Doch die europäische Integration erschloß sich immer neue Bereiche. Das Maastricht-Urteil ist vom Unbehagen gegen einen Überstaat Europa durchwoben. Beim Strafrecht, also jenem Rechtsgebiet, das die Freiheit der Bürger am weitesten beschneidet, könnte die Zeit des Zuschauens nun wieder vorbei sein. Vor allem der Strafrechtler im Zweiten Senat, Vizepräsident Hassemer, hat im Vorfeld bereits deutlich gemacht: Eine gerichtliche Vergewisserung sei notwendig, "wo die unverzichtbaren Bestandteile der nationalen Rechtsordnungen liegen". Zwar stammen die Regelungen zum Haftbefehl aus dem Bereich Justiz und Inneres (in der EU-Sprache: "dritte Säule") und stehen damit nicht im EG-Vertrag. Doch das dürfte die Bedeutung des Verfahrens kaum mindern. Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) formuliert es drastisch: Sollten sich die europaskeptischen Richter durchsetzen, "könnten wir uns in weiten Teilen aus der Europäischen Union verabschieden".
 
Der Mechanismus, der nationale Parlamente zu Erfüllungsgehilfen der EU macht, ist simpel. In Brüssel entscheiden die Fachminister der Mitgliedstaaten im Rat über Richtlinien und Rahmenbeschlüsse. Der Souverän im Bundestag hat keine andere Wahl, als die EU-Vorgaben durchzuwinken, wenn auch manchmal zähneknirschend. Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Jürgen Gehb, wähnt sich und seine Parlamentskollegen gar in einer "Ratifizierungsfalle": "Wir müssen sehenden Auges abnicken, was wir nicht für in Ordnung halten."
 
Der Europäische Haftbefehl zum Beispiel höhlt gleich mehrere rechtsstaatliche Grundsätze aus. "Keine Strafe ohne Gesetz" etwa, diese alte Säule des Strafrechts wird brüchig, wie gerade der Fall Darkazanli zeigt. Die Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung war in den Jahren, die in seinem Fall eine Rolle spielen, in Deutschland noch nicht strafbar. Jedoch ist "Terrorismus" im Auslieferungskatalog des EU-Rahmenbeschlusses zum Haftbefehl genannt, wie andere schwammige Begriffe, die eher gesellschaftliche Phänomene als klare Straftatbestände beschreiben. Ohnehin sind die gemeinsam nach Straftätern jagenden Europäer oft uneins, was ihnen denn als strafwürdig erscheint. So kann in Deutschland als Betrug gelten, was in anderen Ländern als cleveres Geschäftemachen durchgeht. Sterbehilfe wird in Holland als mildtätig gewertet, andernorts aber als Totschlag. Kiffen ist in Amsterdam erlaubt, Cannabisbesitz in München verboten.
 
"Als eklatant rechtsstaatswidrig" bewerten dies Strafrechtler wie der Münchner Ordinarius Bernd Schünemann. "Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, führt zur Exekution der europaweit jeweils schärfsten Strafrechtsnorm. Das ist unerträglich." Es gilt also gleiches Unrecht für alle. Besonders problematisch wird dies bei Taten, die der Verdächtige gar nicht in dem Land begangen hat, in das er ausgeliefert werden soll. Im Ergebnis können sich Deutsche nicht mehr auf deutsches Recht verlassen.
 
Um weitere unliebsame Überraschungen aus Brüssel zu vermeiden, schlagen Politiker und Professoren vor, der Bundestag solle Minister nur noch mit enggefaßtem Marschbefehl nach Brüssel entsenden. Bislang darf das Parlament im Vorfeld nur Stellung nehmen. Ob eine derartige Novelle Chancen hat, ist freilich fraglich. Denn so würde für Politiker die oft genutzte Möglichkeit entfallen, Kritik an unpopulären Vorhaben nach Brüssel umzuleiten.
Ein Beispiel ist der Streit um das Antidiskriminierungsgesetz. Selbst diejenigen, die dem Regelkonvolut den Garaus machen wollen, verweisen darauf, zumindest einen Kern umsetzen zu müssen - wegen Brüssel eben. Sie verschweigen, daß die deutsche Regierung am Entstehen der EU-Vorgabe maßgeblich beteiligt war.
 
Artikel vom 10. April 2005           © WAMS.de 1995 - 2005