Afghanistan - Seltsame Betrachtungsweisen - Von Doris Auerbach

Der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung verurteilte die kürzlich erfolgten Anschläge auf die Bundeswehr in Afghanistan, bei denen ein Soldat getötet und neun verletzt wurden, als »hinterhältig und verbrecherisch.« [1]

Halte ich mir dagegen die brutal hohe Zahl von getöteten Taliban, die Opfer von Angriffen der NATO-Truppen wurden, vor Augen, dann bin ich der Auffassung, dass die Worte Jungs in erster Linie auf die Besatzer selbst zutreffen. Die Truppe sei »heimtückischen Anschlägen ausgesetzt«, so Jung ferner; als ob die NATO-Anschläge nicht in eine weitaus schlimmere Kategorie fielen, bedenkt man, dass sich der afghanische Widerstand mit einer hochgradig überlegenen Militärtechnik, an der er zu zerschellen droht, konfrontiert sieht. Jung liess darüber hinaus verlauten, dass es die Bundeswehr am Hindukusch mit einem »vernetzten und intelligenten Gegner« zu tun habe. Es lässt sich schwerlich von der Hand weisen, dass es ein solcher sein muss, zieht man die von Matin Baraki in seinem Bericht »Karsais Sonne geht unter« dargelegten Fakten in Betracht. Inzwischen ist bekannt, dass immer mehr von einem Afghanistan-Einsatz Heimkehrende unter psychischen Störungen leiden und als Folge von Gewalt- und Elendserfahrungen traumatisiert sind. Der gleiche Jung meinte hierzu im Februar dieses Jahres: Die Soldaten sollten bereits erste Symptome einer posttraumatischen Störung sehr ernst nehmen und umgehend einen Arzt aufsuchen oder eine andere Expertenhilfe in Anspruch nehmen; »je früher, desto besser«, sagte er und kündigte den Aufbau eines Forschungs- und Kompetenzzentrums an, um Bundeswehrsoldaten mit dem sogenannten Rückkehrer-Trauma besser betreuen zu können. Das dürfte die bereits immensen Afghanistan-Kosten für den Steuerzahler der BRD weiter erhöhen. Wesentlich naheliegender wäre der von vielen längst verlangte Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan, eine Forderung, der allerdings kein Gehör geschenkt wird. So erklärte auch Aussenminister Frank-Walter Steinmeier, der zur Zeit des Anschlags zu einem Wahlkampf-Blitzbesuch nach Afghanistan gekommen war: »Es bleibt unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Afghanistan nicht erneut zum Hort des internationalen Terrorismus wird«. Keiner der bezüglich Afghanistans den Terror konstant im Munde führenden Politiker würde je mit der Ergänzung aufwarten, dass sich das Land ohne die dort von der USA seinerzeit aufgebauten Mudschahedin, den nachfolgenden Aufbau der Taliban eingeschlossen, mit Sicherheit in ruhigeren Gefilden befände.
 
Am Abend des 4. 5. 09 richteten US-Besatzungstruppen im Westen Afghanistans ein Blutbad in zwei Dörfern der Provinz Farah an 2. Bis zu 120 Zivilpersonen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, wurden nach Behördenangaben bei Luftangriffen der Airforce getötet, wobei weitere Opfer noch unter den Trümmer gesucht wurden. Dorfbewohner aus Gerani hatten aus Protest rund 30 Leichen zum Sitz des Provinzgouverneurs gebracht. Es sei schwierig gewesen, die genaue Zahl der Toten zu ermitteln, weil die Körper schwer verstümmelt gewesen seien, sagte Abdul Basir Khan, ein Mitglied des Provinzrats. Die Erklärung des von der USA gestützten Karsais, der auch dieses Mal den »Vorfall als inakzeptabel« verurteilte, und bei seinem kürzlichen Besuch in Washington im CNN-Fernsehen erklärte, dass man nicht glaube, dass die Luftangriffe im Kampf gegen den Terrorismus wirksam seien, ist im Prinzip völlig unnütz, denn vor der totalen Vereinnahmung Landes ist ein Ende der Besatzung offensichtlich nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Afghanistan erlebt Neue Qualität des Kampfeslautete die Überschrift eines Artikels in der Welt vom 9. Mai 3. Mit Blick auf die jüngste Entwicklung im Norden Afghanistans hat sich der Bundeswehrverband effektiv nicht gescheut, von einer neuen Qualität des Kampfes zu sprechen. In der Neuen Osnabrücker Zeitung forderte Verbandschef Ulrich Kirsch neues unbemanntes Fluggerät, um die Aufklärung aus der Luft zu verbessern. So liefere etwa der in der USA entwickelte Predator noch während des Fluges Bilder und könne die Aufklärungsarbeit der sieben deutschen Tornados sinnvoll ergänzen. Wohl kaum jemand, der sich mit dem blutigen Geschehen in dem weitgehend zerstörten Land beschäftigt hat, vermag hier eine Qualität auszumachen oder könnte den Tornados einen Sinn zubilligen. Aber seit den nach dem Millennium von der USA inszenierten Kriegen hat man sich an Interpretationendieser Art, die in der Presse meist unkommentiert erscheinen, gewöhnt.
 
Der Brandherd Afghanistan hat sich inzwischen massiv ausgeweitet. Gegenwärtig liefern sich afghanische und US-Truppen Gefechte in der Provinz Farah in West-Afghanistan, mit allen Folgen, wie sie der Presse täglich zu entnehmen sind. Hierzu ein Auszug aus einem Bericht 4 von Knut Mellenthin: Der oberste Regierungsvertreter in Swat hatte die Bevölkerung mehrerer Orte am 5. 5. 09 aufgefordert, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Das gilt in Pakistan als übliche Vorankündigung, dass massive Luftangriffe auf diese Gebiete unmittelbar bevorstehen. Die systematische Entvölkerung bestimmter Gegenden ist ein zentrales Element der Aufstandsbekämpfung im Nordwesten Pakistans. Fast 600.000 Bürgerkriegsflüchtlinge sind in dieser Region beim Welternährungsprogramm der UNO registriert. Die Gesamtzahl der Vertriebenen wird auf bis zu einer Million Menschen geschätzt. Die pakistanische Regierung unternimmt kaum Hilfsmassnahmen. In Swat machten sich daher Hunderte mit ihrem wenigen Besitz zu Fuss oder in überfüllten Bussen auf die Flucht, insbesondere aus der Bezirkshauptstadt Mingora, wo schwerbewaffnete Taliban in Erwartung der  Regierungsoffensive die Kontrolle über alle wichtigen Punkte übernommen und befestigte Stellungen auf den Dächern höherer Gebäude errichtet haben. Mehrere Polizeistationen wurden gesprengt, nachdem die staatlichen Sicherheitskräfte ohne Widerstand abgezogen waren. Präsident Asif Ali Zardari, dessen Ansehen sich im eigenen Land auf einem Tiefpunkt befindet, steht schon seit Monaten unter starkem amerikanischen Druck, den Krieg gegen die Taliban massiv zu verstärken. Wie Mellenthin anmerkt, hat im US-Kongress die Debatte über ein Gesetz begonnen, das Militär- und Wirtschaftshilfe für Pakistan vom Wohlverhalten der Regierung in Islamabad abhängig macht. Damit, gilt es anzufügen, wird erneut ersichtlich, mit welchen Mitteln sich die Fortsetzung des Kriegs und der Ruin eines Landes erzielen lassen. Dieses Wohlverhalten kann nichts anderes als die totale Fügsamkeit hinsichtlich der US-Strategie bedeuten.
 
Pakistan erhält vom US-Steuerzahler jährlich rund 2 Milliarden $ an Militärhilfe; die jährliche humanitäre Hilfe ist inzwischen auf 1.5 Milliarden $ gesteigert worden. Man muss sich einmal den Widersinn dieses grotesken, man kann ruhig sagen, jeglicher Intelligenz ermangelnden Leerlaufs vorstellen, der auch die US-Bürger einer fortschreitenden Verarmung aussetzt. Einer Meldung von BBC online vom 6. Mai 5 zufolge »könnte die US-Unterstützung für Pakistan über die kommenden 5 Jahre hinweg die Gesamthöhe von 17.5 Mrd. $ erreichen; weitere 14 Mrd. $ von internationalen Finanzinstitutionen kämen hinzu.« Es sei denn, der Kongress bemüht sich, diese Finanzierungsquelle etwas auszutrocknen, was jedoch vermutlich in dem Moment unwahrscheinlich wird, in dem Afghanistan und Pakistan endgültig auf die Linie der Fortsetzung der Kampfhandlungen einschwenken. Angesichts des mittlerweile über mehreren westlichen Nationen kreisenden Pleitegeiers fragt man sich zudem, um welche Finanzinstitutionen es sich bei den 14 Mrd. $ handeln kann. Trotz der in Pakistans Armee investierten Milliarden, schreibt BBC ferner, erweist sich diese hinsichtlich der Bekämpfung der Aufständischen noch immer als ungeeignet, verursacht hohe Verluste unter der Bevölkerung und hat selbst zahlreiche Tote zu beklagen.
 
Die furchtbare Bilanz dieses Vorgehens steht im krassen Gegensatz zu den neuerlich mit den üblichen hehren Worten eingerichteten humanitären Foren, die wir nebst allen übrigen UNO-Organisationen finanzieren müssen. Nicht einer dieser kostspieligen Einrichtungen gelingt es, den Grund ihres Bestehen, den Krieg, zu bekämpfen, wodurch sie sich als völlig machtlos erweisen. So hat die UNO auch jetzt wiederum nicht mehr als eine Erklärung zu bieten: die jetzige Offensive drohe zur grössten Vertreibungskrise der Welt zu werden. Betrachtet man die strahlenden Gesichter und die zur Schau gestellten Umarmungen der Teilnehmer am NATO-Gipfel in Baden-Baden und Strassburg, so muss man sich nicht nur total verdummt, sondern auch einem ungeheuren Zynismus ausgesetzt fühlen.
 
Dem pakistanischen Generalmajor Athar Abbas zufolge dient der Militäreinsatz dazu, die Region von den Taliban zu befreien; auch er muss wissen, dass Pakistan mit daran beteiligt war, das jetzige Beseitigungsobjekt gezielt aufzubauen. Nicht, dass ein Fakt dieser Art Ministerpräsident Yousuf Raza Gilani daran hinderte, bei der Bevölkerung um Unterstützung (!) für die gestartete Grossoffensive zu werben. Ziel sei es, »die Elemente auszulöschen, die den Frieden und die Ruhe im Land zerstört haben und Pakistan als Geisel nehmen wollen«, sagte er am 7. 5. 09 in einer Fernsehansprache. Mit den Worten »die Ehre und Würde des Landes wieder herzustellen« beauftragte Gilani die Armee, »die Terroristen auszuschalten«. Auch hier kann man nur noch auf den Zynismus hinweisen, der sich unter diesen Umständen auftut. Wie Kai Küstner vom SWR2 am 8. 5. berichtete, versuchen die Taliban im Swat-Tal angeblich, Zivilisten von der Flucht abzuhalten. Sie seien eine Art Lebensversicherung. Wenn sich die Extremisten unter die Bevölkerung mischen, müsse die Armee vorsichtiger agieren, laute die Kalkulation.
                                                        
US-Aussenministerin Hillary Clinton äusserte sich kürzlich betroffen über die toten Zivilisten in Afghanistan: »Wir bedauern die Verluste zutiefst.« Sie kündigte eine Untersuchung an. Zu was diese nutze sein soll, ist nicht wirklich ersichtlich, war sie es doch, die Ende März dieses Jahres für die Ausweitung des Afghanistan-Krieges warb. Wenige Tage vor dem NATO-Gipfel hatte sie auf einer internationalen Afghanistan-Konferenz in Den Haag den Druck auf die Verbündeten in Europa erhöht: »In der Vergangenheit standen für unsere Anstrengungen oft zu wenig Personal, Ressourcen und Gelder zur Verfügung«, hatte Clinton kritisiert. Was die EU-Parlamentarier im übrigen am 6. 3. 09 dazu bewegt haben mag, die Aussenministerin, die den von aussen weiträumig abgesperrten Parlamentssitz in Brüssel unter Jubelrufen und Applaus betrat, wie einen Popstar zu empfangen, hätte man gerne gewusst. Sogar ein I love HillaryT-Shirt fand sich im Publikum; die Begeisterung ebbte nicht ab. »In Europa herrscht grosser Enthusiasmus, Ihnen und Ihrem Präsidenten wird ein grosser Vertrauensvorschuss entgegengebracht«, sagte EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering. Worüber sich Pöttering und die EU-Parlamentarier im einzelnen informiert haben, dürfte mehr als bescheiden sein, ist doch Clinton für ihre Drohungen bekannt; noch als demokratische Präsidentschaftsbewerberin hatte sie den Iran am 22. 4. 08 im US-Fernsehen vor einem atomaren Angriff auf Israel gewarnt, ganz so, als hätte dieser die besagte Waffenkategorie bereits in seinem Besitz. In diesem Fall könnten die Vereinigten Staaten den Iran auslöschen, sagte sie. Im übrigen erlagen, glaubt man der Presse, auch die Teilnehmer der am 5. 3. 09 in Brüssel über die Bühne gegangenen Runde der NATO-Aussenminister ganz offensichtlich Clintons Charme-Offensive, als das ihr Auftreten von den Journalisten charakterisiert worden war. »Kaum einer, der nach dem Treffen nicht von dem positiven Klima geschwärmt hätte.« Kein Wunder, dass die Kriegsgurgeln aller Couleur jeweils die Oberhand behalten.
 
Barack Obama erklärte im Anschluss an das Treffen mit den Präsidenten Afghanistans und Pakistans am 6.5. im Weissen Haus, dass das Ziel, Al Kaida zu besiegen, sie vereine. Er erwarte zwar Rückschläge und weitere Gewalt, dass jedoch hinsichtlich der Erreichung desselben eine ungebrochene Verpflichtung bestehe. Er versäumte auch nicht zu erklären, dass Amerika auf der Seite des pakistanischen und afghanischen Volkes stünde und eine umfassende, zivile und militärische Komponente einschliessende Strategie hätte. Was den militärischen Aspekt dieses Zurseitestehens betrifft, so erläuterte er diesen nicht weiter. Das hätte sich auch erübrigt, denn ihn dürfen beide Völker im Moment aufs härteste auskosten. Der Sondergesandte für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke, blieb offensichtlich im gleichen Fahrwasser. Laut ihm muss die USA zwecks Bekämpfung der Taliban mehr Druck auf Islamabad ausüben; ohne Unterstützung Pakistans könne die USA in ihrem Konflikt mit den Taliban keinen Erfolg erzielen. »In der Region stehen Amerikas lebenswichtige nationale Sicherheitsinteressen auf dem Spiel«, so Holbrooke. Diese Interessenslage, ist abzuschätzen, wird den Krieg vorerst weiter in Gang halten. Eine Politik dieser Art dürfte kaum ohne das Aussenministerium konzipiert werden; vielleicht lässt sich die Presse eines Tages dazu herbei, die Hillary Clinton zugebilligte Charme-Offensive daher einer Revision zu unterziehen. Jedenfalls liest man in der Berliner Umschau 6 u.a., dass »Karsai und Zardari versprochen haben, aktiv gegen die Taliban vorzugehen und sich besser abzusprechen. Zudem bestünde die ernste Gefahr, dass sich undefinierte - aber sicher nicht US-freundliche - Kräfte in den Besitz des pakistanischen Atompotentials setzen könnten, des am schnellsten wachsenden Nuklearpotentials der Welt. Für die Bevölkerung stellt sich die Lage anders dar. Grob gesagt hat diese drei Feinde: die USA, die beiden Ländern einen mörderischen Krieg beschert hat, den fanatisierten Flügel der Taliban, der in Gebieten, in denen er das kann, die Scharia eingeführt hat, und natürlich das eigene Establishment, dem man wirklich nicht Unrecht tut, wen man es unter die Rubrik inkompetent und korrupt einordnet.«
 
Inzwischen dürfte Ban Ki Moon, nachdem er eine weitere Millionenspende auf Kosten unserer Steuerkassen für Somalia unter Dach und Fach gebracht hat, schon wieder eifrig damit beschäftigt sein, eine neue Rede aufzusetzen. Mit welchen Worten er die internationale Gemeinschaft dieses Mal davon zu überzeugen suchen wird, dass sie die humanitäre Katastrophe finanziell zu pflastern hat, bleibt abzuwarten. Es wird sicherlich nicht allzu schwierig werden, da ihm in der Regel jeweils genügend Politiker zur Seite stehen, die mit denselben Tönen aufwarten.   
 
 
1 http://www.neues-deutschland.de/artikel/148147.afghanistan-fuehrungsgestammel.html#  2.5.09 Afghanistan-Führungsgestammel - Nach Taliban-Angriff: Betroffenheit und »Nun-erst-recht«-Propaganda Von René Heilig
2 http://www.jungewelt.de/2009/05-07/063.php 6.5.09
Über hundert Tote durch US-Bombenterror -Luftangriff auf zwei afghanische Dörfer: »Jeweils Dutzende Leichen« in den betroffenen Orten
3 http://www.welt.de/politik/article3706281/Afghanistan-erlebt-Neue-Qualitaet-des-Kampfes.html   9.5.09  Afghanistan erlebt »Neue Qualität des Kampfes«
4 http://www.jungewelt.de/2009/05-06/052.php  6. 5. 09                        
Luftangriffe als Gastgeschenk? US-amerikanischer Druck zwingt Pakistan in den Bürgerkrieg
Von Knut Mellenthin
5 http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/8036782.stm  6. 5. 09
6 http://www.berlinerumschau.com/index.php?set_language=de&cccpage=08052009ArtikelPolitikKling1  8.5.09 USA setzen ihre Statthalter unter Druck - Von James Kling