Durchbruch nach Gaza - Von Rüdiger Göbel

Jubel, Applaus und Freudentränen im palästinensischen Grenzort Rafah: Nach tagelangen Verzögerungen ist am Mittwoch abend, 15. Juli, mehr als 200 US-amerikanischen Aktivisten der Kampagne »Viva Palästina« endlich der Durchbruch in den belagerten Gazastreifen gelungen.

Die Organisatoren sprachen von einem »Sieg für Gaza«. Es ist der größte von US-Friedensgruppen organisierte Hilfskonvoi für die Palästinenser seit Beginn der israelischen Abriegelung vor zwei Jahren - und die von den westlichen Mainstream Medien am konsequentesten totgeschwiegene Solidaritätsaktion für die 1,5 Millionen Menschen in dem Küstenstreifen. Während die Chefin des State Departement, Hillary Clinton, in ihrer Rede zur US-Außenpolitik in Washington Verständnis für die israelische Siedlungspolitik äußerte, setzten 218 Bürger ihres Landes ein konkretes Zeichen der arabisch-amerikanischen Freundschaft. In 50 Fahrzeugen brachten sie via Ägypten Hilfsgüter im Wert von einer Million US-$ nach Gaza, darunter Medikamente, Kinderspielzeug, Krücken und Rollstühle für die vielen Kriegsversehrten, die der israelische Angriff auf Gaza zum Jahresbeginn hinterlassen hat. Des weiteren wurden zwei Rettungswagen gespendet. Die Kampagne »Viva Palästina« wurde vom britischen Abgeordneten George Galloway, einem erklärten Kriegsgegner und Antizionisten, initiiert. Galloway war wegen seiner massiven Kritik an der britischen Beteiligung am völkerrechtswidrigen Irak-Krieg im Oktober 2003 aus der Labour-Partei ausgeschlossen worden. Begleitet wurde der nunmehr zweite Konvoi unter anderem vom New Yorker Stadtrat Charles Barron und der früheren Kongreßabgeordneten Cynthia McKinney (Georgia). Diese war erst Anfang Juli von der israelischen Marine festgenommen und in die USA abgeschoben worden, weil sie versucht hatte, mit der Kampagne »Free Gaza« auf dem Seeweg die Blockade zu überwinden. Das International Action Center in New York erklärte am 16. 7. 09 zum erfolgreichen Grenzdurchbruch: »Die Tatsache, daß sie mit Spenden von US-Bürgern finanziert wurde, gibt der Karawane eine besondere Bedeutung, ist Israel doch der weltweit größte Empfänger von Geldern der US-Regierung. Und Israel setzt täglich Waffen und Raketen aus den USA gegen die Palästinenser ein.«
 
Die ägyptischen Behörden hatten die Passage des Hilfskonvois rund zehn Tage lang verzögert. Die Aktivisten erhielten die Auflage, den Gazastreifen innerhalb von 24 Stunden wieder zu verlassen. Wer nicht rechtzeitig ausreise, müsse bis zur nächsten offiziellen Öffnung des Grenzübergangs Rafah warten. Dieser ist seit Juni 2007 von ägyptischer Seite abgeriegelt. Während die großen arabischen TV-Stationen ausführlich über die humanitäre Geste aus Übersee berichten, wird die Aktion in der westlichen Presse weitestgehend ignoriert. »Die Welt schweigt, während die Bevölkerung in Gaza leidet«, heißt es in einer Erklärung der Konvoiteilnehmer. »Doch die zweihundert Amerikaner und die Hilfsgüter im Wert von mehr als einer Million US-Dollar bekräftigen unsere Verpflichtung, für ein freies Palästina einzutreten.« Im Oktober soll eine weitere Hilfslieferung für die Menschen in Gaza auf den Weg gebracht werden. Laut Galloway wird der dann vom Präsidenten Venezuelas, Hugo Chávez, angeführt 1.
 
Wie die Verhältnisse in Gaza beschaffen sind, ist einem Artikel von Jean Shaoul 2 zu entnehmen, der festhält, was das IKRK, Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, aufgezeichnet hat:
 
Der Bericht des IKRK, der mit »1,5 Millionen in Verzweiflung gefangen« überschrieben ist, zeichnet, wie Jean Shaoul schreibt 1, das furchtbare Bild einer humanitären Katastrophe in Gaza: Sechs Monate nach Israels Militäroffensive Anfang des Jahres in Gaza, bei der 1.300 Menschen getötet, noch viel mehr verletzt, Tausende obdachlos und ein Großteil der Infrastruktur Gazas zerstört wurde, können die Bewohner, so der Bericht, auf Grund der israelischen Blockade immer noch kein vernünftiges Leben führen: »Die meisten Menschen kämpfen ums Überleben. Schwerkranke erhalten kaum die notwendige Behandlung. Viele Kinder leiden unter enormen psychischen Problemen. Die Zivilisten, deren Wohnungen und Eigentum während des Konflikts zerstört wurde, finden nicht mehr in ein geordnetes Leben zurück. Die Güter, die nach Gaza gelangen, reichen bei weitem nicht aus, den Bedarf der Bevölkerung wirklich zu decken.« Israel erlaubt seit dem Ende seiner Militäroperationen im Januar keine Einfuhr von Materialien für Reparaturarbeiten mehr. Nicht ein Cent von den 1,33 Milliarden $, die im März auf der Geberkonferenz in Ägypten versprochen wurden, ohnehin viel weniger als die von den UN geschätzten notwendigen 2,4 Milliarden $, ist bisher in Gaza angekommen. Bis heute wurde nicht mit den Reparaturarbeiten angefangen. Laut   IKRK werden die stark von israelischen Bomben zerstörten Gebiete, »…. weiterhin wie das Epizentrum eines starken Erdbebens aussehen, wenn nicht riesige Mengen an Zement, Stahl und andere Baumaterialien ins Land hinein gelassen werden.«
 
Strom- und Wasserversorgung sowie Kläranlagen wurden durch den Krieg zerstört. Die Lieferung neuer Wasserrohre, elektrischer Ersatzteile, von Pumpen und Transformatoren nach Gaza wurde nicht erlaubt. Zwar wurden einige der notwendigsten Reparaturen durchgeführt; der allgemeine Zustand ist jedoch extrem unbefriedigend. Infrastruktureinrichtungen sind überlastet und brechen ständig zusammen. 90 % der Menschen klagen über eingeschränkte Stromversorgung, 10 % haben überhaupt keinen Strom. Zweiunddreißigtausend Menschen haben kein fließendes Wasser und 100.000 haben nur jeden zweiten oder dritten Tag Zugang zu Wasser. Da es an funktionierenden Wasseraufbereitungsanlagen mangelt, müssen jeden Tag 69 Millionen Liter nur teilweise geklärten oder gänzlich unbehandelten Abwassers - das entspricht dem Volumen von 28 Schwimmbädern - direkt ins Mittelmeer gepumpt werden. Nach der Wohlfahrtsagentur der UN, UNRWA, die sich der palästinensischen Flüchtlinge annimmt, haben Infektionserkrankungen, auch Durchfallerkrankungen und virale Gelbsucht zugenommen. Das ist eine Folge verschmutzten Wassers und schlechter hygienischer Bedingungen. Die Bewohner Gazas haben kaum Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Krankenhäuser sind am Ende, es gibt kaum Strom, Medikamente und Prothesen. Ihre Einrichtungen funktionieren nicht mehr. Ungefähr 100 der 150 Menschen, die während der letzten Offensive Gliedmaße verloren haben, warten immer noch auf die Versorgung mit Prothesen. Nur wenigen Schwerkranken wurde erlaubt, Gaza zu verlassen und sich außer Landes behandeln zu lassen. Selbst wenn sie diese Möglichkeit bekommen, ist die Reise nach Israel über den Grenzübergang Erez ein Albtraum. An lebenserhaltende Apparaturen angeschlossene Patienten müssen aus dem Rettungsfahrzeug genommen und auf Bahren 60 bis 80 Meter weit zum, auf der anderen Seite wartenden, Rettungswagen getragen werden. Wer gehen kann, muß sich eingehenden Befragungen unterziehen, bevor er die Ausreiseerlaubnis bekommt, die aber oft auch versagt wird. Die Blockade hat die Wirtschaft im Gazastreifen ruiniert. Die Arbeitslosigkeit ist auf 44 %  in die Höhe geschnellt. Die Import- und Exportbeschränkungen für Gaza haben die Industrieproduktion um 96 %  reduziert und kosteten 70.000 Arbeitsplätze. Nur einmal täglich gibt es in den Familien eine Mahlzeit. Auf Fleisch, Huhn und Eier muß verzichtet werden. Die Regale im Supermarkt sind leer, außer Grundnahrungsmitteln von UN-Organisationen und Spenden der Europäischen Union gibt es nichts. Deshalb leiden Zehntausende von Kinder an Eisen-, Vitamin A und D-Mangel, was zu Wachstumsstörungen an Knochen und Zähnen, reduzierter Immunabwehr, Abgeschlagenheit und Lernstörungen führt. In einer besonders eindringlichen Passage des Berichts heiß es. »Der Großteil der ganz Armen weiß nicht mehr weiter.« Sie haben wirklich alles, was sie hatten, verkauft, einschließlich ihrer Existenzgrundlage, wie Viehbestand oder Fischerboote. Ihre Ausgaben für Nahrung können sie einfach nicht mehr reduzieren. Am schlimmsten geht es den Kindern, sie machen die Hälfte der Bevölkerung in Gaza aus.
 
Während der drei Wochen dauernden Offensive entwurzelte die israelische Armee Tausende Bäume in Zitrus-, Oliven- und Palmenhainen, zerstörte Bewässerungsanlagen, Brunnen und Gewächshäuser. Israel hat Zonen bis zu einem Kilometer Breite entlang der Grenze zwischen Gaza und Israel zum Niemandsland erklärt und so Landwirte am Betreten ihres Bodens gehindert. Mindestens 30 % des anbaufähigen Landes von Gaza ist betroffen. Bauern, die ihr eigenes Land betreten, laufen Gefahr, von den Israelis erschossen zu werden. Israel hat die Fischerei eingeschränkt, indem es die schon unter dem internationalen Standard liegende Fischereizone für die Bewohner Gazas nochmals von sechs auf drei Seemeilen vor der Küste Gazas reduziert hat. Die meisten Bestände größerer Fische und Sardinen, die vor zwei Jahren 70 % des Fangs ausmachten, liegen jetzt jenseits dieser Grenzen. Daß die 1,5 Millionen Palästinenser in Gaza, wie es das IKRK ausdrückt, »in einen Teufelskreis von Entbehrung und Hoffnungslosigkeit« getrieben werden, liegt einzig und allein an dem bewußten, kriminellen Vorgehen der israelischen Regierung, die dabei die Rückendeckung Washingtons und der wichtigsten europäischen Mächte hat.
 
Die gegenwärtige Blockade begann, als im September 2000 nach Ariel Scharons provokantem Besuch des Tempelbergs in der Altstadt Jerusalems die Intifada ausbrach. Dieser Besuch war absichtlich dazu angelegt, jegliche Friedenslösung in dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zu torpedieren. Damals riegelte Israel seine Grenzen zum Westjordanland und zum Gazastreifen ab. Israel verschärfte die Blockade im Januar 2006 nach der Wahl der Hamas, die von Israel und den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Tel Aviv fing an, Steuern und Staatseinkünfte für die Behörden von Gaza, die Israel eingenommen hatte, einzubehalten. Die europäischen Mächte unterstützten die Wirtschaftssanktionen gegen die Hamas-Regierung. Die Blockade wurde im Juni 2007 in eine Totalbelagerung umgewandelt, als die Hamas die rivalisierende Fatah vertrieb. Die Fatah hatte Geld, Waffen und Ausbildung von Israel und den USA erhalten, und war von Ägypten unterstützt worden, um die Hamas-Regierung mit militärischen Aktionen zu stürzen und die Macht zurückzuerobern. Seit dieser Zeit genehmigte Israel selbst die Lieferung grundlegender »humanitärer Hilfe« wie Nahrungsmittel, Treibstoffe und medizinische Ausrüstung nur noch in winzigen Rationen. Die Darstellung des IKRK veranschaulicht, schließt Jean Shaoul, daß die Bewohner Gazas in einem einzigen großen Gefängnis leben.
 
Diesem Bericht sei folgende Meldung aus der jungen Welt vom 14. 7. 09 angefügt 3: Brandstiftung - Israelis aus der illegalen Siedlung Bat Ayin im Westjordanland haben am 6. Juli palästinensische Plantagen angezündet. Israelischen Presseberichten zufolge hatten in den vergangenen Tagen militante Zionisten wiederholt Brände gelegt. Gezielt wurden Oliven- und Mandelbäume zerstört. Palästinenser aus dem Dorf Safa unweit von Hebron versuchten verzweifelt, das Feuer zu löschen. Auf Anweisung von Verkehrsminister Israel Katz (Likud) sollen arabische Namen von israelischen Ortsschildern entfernt werden. Jerusalem wird »Yerushalayim« geschrieben, ohne zusätzlichen Verweis auf das arabische »Al-Quds« (»Die Heilige«). »Nazareth« wird zu »Natzrat«, »Jaffa« im Süden von Tel Aviv wird »Yafo» und »Safed» in Galiläa wird »Tzfat«.
 
Anmerkung politonline d.a. In seiner Rede zur Lage der Nation Anfang Februar 2005 hatte sich George W. Bush hinsichtlich der Entwicklung in Nahost noch optimistisch geäußert. Ein Frieden zwischen Israelis und Palästinensern sei »in Reichweite«. Danach jedoch verschob er dieses Ziel offensichtlich auf einen recht entfernt liegenden Zeitpunkt, da er im Mai 2008 vor der Knesset ankündigte, »daß in 60 Jahren Frieden im Mittleren Osten herrschen soll.« Die Palästinenser hätten dann die Heimat, von der sie lange geträumt hätten. Wie wir schon einmal vermerkten, muß man nicht unbedingt ein Zyniker sein, um sich zu fragen, wie groß diese überhaupt noch sein noch sein könnte und ob es zu diesem Zeitpunkt - sollten sich die Verhältnisse auf die aufgezeigte Weise fortsetzen - überhaupt noch Palästinenser geben wird.
 
Was Präsident Barack Obama betrifft, so traf sich dieser soeben mit 16 führenden Vertretern jüdischer Organisationen der USA, um, wie es heißt, Sorgen entgegenzutreten, daß der Präsident zu hart gegenüber Israel und zu weich gegenüber Palästinensern, Arabern und dem Iran sei. Unter den Teilnehmern waren auch Repräsentanten der pro-Israel-Lobby AIPAC, der Americans for Peace Nowund der J Street, die der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern kritisch gegenüberstehen. In einem kurzen Kommuniqué des Weißen Hauses hierzu hieß es: »Der Präsident bekräftige seine unerschütterliche Verpflichtung zu Israels Sicherheit und zu Anstrengungen zur Erreichung des Friedens im Nahen Osten.« Zum Vorwurf, gegen den Iran zu wenig und zu langsam etwas zu tun, wiederholte Obama seine bekannte Position: Sollte die Regierung in Teheran sich nicht bald den an sie gestellten Forderungen unterwerfen, müsse über »weitere Schritte« nachgedacht werden. Jetzt aber sei es, soll der Präsident hinzugefügt haben, noch zu früh, darüber öffentlich zu sprechen.   
 
1 http://www.jungewelt.de/2009/07-17/057.php
2 http://www.wsws.org/de/2009/jul2009/gaza-j09.shtml  9. 7. 09
Rotes Kreuz berichtet über schreckliche Zustände in Gaza - Von Jean Shaoul
3 http://www.jungewelt.de/2009/07-14/052.php
4 Quelle: http://www.jungewelt.de vom 15. 7. 2009
Obama beruhigt Freunde Israels - Treffen mit führenden Vertretern jüdischer Organisationen in den USA - Von Knut Mellenthin
Zum American Israel Public Affairs Committee - AIPAC - siehe  http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=477
Eine neue Pro-Israel-Lobby für die USA – von Knut Mellenthin
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=960
Obama verspricht AIPAC einen Krieg gegen den Iran - Von F. William Engdahl