Die Israel-Mauer - Ein Monolog von David Hare

Na schön. Dann wollen wir doch mal ernsthaft über die Sache nachdenken. Ich bitte Sie inständig: Stellen Sie sich das mal vor! Wie verzweifelt müssen diese Leute sein!


Ein Land hat den Punkt erreicht, an dem 84 % der Bevölkerung dafür sind, die Landesgrenzen mit einer Mauer zu sichern. Wann haben Sie das letzte Mal davon gehört, daß  84 % eines Volkes sich über etwas einig waren? Und jetzt haben sich über vier Fünftel einer Nation - das ist doch eine unvorstellbare Zahl - für etwas entschieden, das man nur als bizarr bezeichnen kann. Die Berliner Mauer wurde gebaut, damit niemand raus konnte; die Mauer um Israel wird gebaut - so heißt es - damit niemand rein kann. Man könnte das als einen außergewöhnlichen Zustand bezeichnen; jedenfalls ist er nicht normal. Und das ist ein Wort, das man im Nahen Osten ständig hört: normal. Die Palästinenser fragen: »Wann werden wir endlich wieder ein normales Leben führen?« Und dasselbe fragen sich die Israelis. Der israelische Staat wurde 1948 gegründet und sollte vor allem ein ganz normales Land wie jedes andere sein. Und jetzt, 60 Jahre später, glaubt die Mehrheit der Israelis, daß ihr Land eine Mauer braucht. Nur daß sie es nicht Mauer nennen. Sie nennen es Zaun. Wörter werden zu Abzeichen; an ihnen kann man erkennen, auf welcher Seite jemand steht. Die Israelis sagen »gader ha´harfrada«, was »Separationszaun« bedeutet. Die Palästinenser haben eine etwas andere Bezeichnung. Sie nennen den Zaun »jidar al-fasl al-´unsuri«, was soviel heißt wie »Rassentrennungsmauer". Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich diese oder jene  Bezeichnung verwende. Ich ergreife nicht Partei, und ich habe Bekanntschaften auf beiden Seiten des Zauns und auf beiden Seiten der Mauer.
 
Am 1. Juni 2001, neun Monate nach Beginn der zweiten Intifada, überschritt ein palästinensischer Selbstmordattentäter die Grenze vom Westjordanland nach Israel und zündete in einer Diskothek am Strand von Tel Aviv seinen Bombengürtel. 21 Zivilisten, die meisten davon Schüler, kamen ums Leben. Weitere 132 Menschen wurden verletzt. Das Massaker rief eine Bewegung ins Leben, die sich für den Bau einer Absperranlage einsetzte. Ihr Hauptargument war das gleiche, das Ministerpräsident Jitzchak Rabin schon zehn Jahre zuvor angeführt hatte, nämlich daß man das Land nur vor Terroristen schützen könne, indem man die Grenzen zu den Palästinensergebieten abriegle und so mögliche Konfliktherde zwischen den beiden Seiten verhindere. Wobei die Separation keineswegs nur eine  militärische Strategie sein sollte. Bevor Rabin von einem israelischen Landsmann ermordet wurde, hatte er noch klargemacht, worauf es ihm wirklich ankam: »Die Separation muß für uns ein Lebenskonzept sein.« Da haben wir es. Nicht nur einfach eine Mauer. Eine Mauer wäre eine Tatsache. Diese Mauer jedoch ist eine Philosophie oder, wie ein Beobachter es ausdrückte, »ein politischer Schachzug, um den Laden dicht zu machen«. Der Bau begann im Jahr 2002. Ursprünglich waren 782 km geplant, die gesamte Länge von Israels  Ostgrenze. Man schätzt, daß die Fertigstellung Ende 2010 erfolgen wird. Die Sperranlage besteht aus Schützengräben, elektrischen Zäunen mit Stacheldraht, Wachtürmen, Betonblöcken und asphaltierten Patrouillenwegen und kostet etwa 1,5 Millionen € pro km. An die 30 Hektar Gewächshausfläche und 37 Kilometer Bewässerungsrohre sind auf der palästinensischen Seite bereits zerstört worden. 1500 Hektar des Palästinensergebietes wurden konfisziert. An manchen Stellen verläuft die Mauer nur wenige Meter von palästinensischen Dörfern entfernt. 102.000 Bäume sind bis jetzt schon gefällt worden. Von Anfang an war der genaue Verlauf umstritten. Die offensichtliche Route verliefe entlang der internationalen Grenze, die 1949 zwischen Israel und Jordanien eingerichtet wurde und von beiden Seiten als die »Grüne Linie« bezeichnet wird. Aber jetzt liegen 85 % des geplanten Verlaufs im Innern des Westjordanlandes. Der Zaun schlängelt sich im Zickzack und verläuft an einigen Stellen nur 200 m östlich der Grünen Line, geht dafür aber an anderen Stellen bis zu 22 km in das besetzte Gebiet, um dort israelische Siedlungen zu schützen. Manchmal umschließt er fruchtbare palästinensische Agrargebiete und Brunnen, so daß palästinensischen Bauern der Zugang zu ihren Feldern abgeschnitten wird. Etwa 140.200 israelische Siedler werden zwischen dem Zaun und der Grünen Linie leben, und 93.000 Palästinenser werden sich plötzlich auf der falschen Seite der Mauer befinden. Deswegen wird der Zaun von seinen Gegnern nicht als das gesehen, was er angeblich sein soll - eine Sicherheitsmaßnahme - sondern als Landraub, als der Versuch (genau wie die stetige Erweiterung der israelischen Stadtteile von Jerusalem), die bestehenden Verhältnisse zugunsten der eigenen Interessen zu verändern.  Selbst die eifrigsten Verfechter des Zaunes räumen ein, daß dieser, genau wie die Blockade des Gaza-Streifens, eine sehr große Unannehmlichkeit für die Palästinenser darstellt. Aber sie argumentieren, daß die mißliche Lage der Palästinenser vorübergehend und verschmerzbar, der Tod von Israelis durch Terrorangriffe aber ein bleibender und irreversibler Schaden sei. Der internationale Gerichtshof in Den Haag vertritt eine andere Auffassung. Am 9. Juli 2004 erging folgende Verfügung: »..... der von der Besatzermacht Israel angestrebte Mauerbau in den besetzten palästinensischen Gebieten .... verstößt gegen internationales Recht. Israel muß ... den Bau sofort einstellen ... und die bereits gebauten Abschnitte unverzüglich wieder entfernen…..«
 
»Ein perfektes Verbrechen«
Professor Nusseibeh von der Al-Quds-Universität drückt es besonders prägnant aus: »Das ist so, wie wenn man jemanden in einen Käfig sperrt und dann, wenn er verständlicherweise anfängt zu schreien und um sich zu schlagen, behauptet, daß ein Mensch, der zu solchen Wutausbrüchen neigt, eben eingesperrt werden müsse. Die Mauer ist ein perfektes Verbrechen, denn sie beschwört die Gewalt herauf, zu deren Verhinderung man sie angeblich gebaut hat.« Eines Morgens mache ich mich nach Ramallah auf. Dort sitzt der Teil der palästinensischen Regierung, der das Westjordanland verwaltet - nicht die Hamas, die, nachdem sie 2006 die palästinensischen Wahlen gewonnen hatten, 2007 die Kontrolle über Gaza übernahmen. Ich bin mit Freunden unterwegs. Einer ist aus London, der andere, dem das Auto mit dem entscheidenden Nummernschild gehört, ist Palästinenser. Am Abend zuvor habe ich in einem Vorort von Jerusalem noch Tee mit einem israelischen Intellektuellen getrunken, der erläuterte, was er als das israelische Paradoxon bezeichnet: In den Augen der Welt erscheint Israel stark und aggressiv, aber sich selbst empfindet es als schwach und labil. »Man soll es kaum glauben, aber in Israel hat man immer noch das Gefühl, in einem Provisorium zu leben. Von welchem anderen Staat kann man das sagen? ….. Von außen erscheinen wir stark: Wir haben eine große Armee, viele Atomwaffen, und wir treten sehr sicher auf, wenn es um unsere Gebietsansprüche geht, aber von innen fühlt es sich nicht so an. Wir fühlen uns nicht sicher. .... Nach 60 Jahren ist Israel noch immer nicht unsere Heimat geworden.«
 
Am nächsten Tag denke ich an seine Worte, als wir im palästinensischen Teil vom Westjordanland, unweit von Jerusalem, an eine Straßensperre kommen. Es ist eine staubige und verlassene Gegend; zu unserer Linken ragen hohe Betonblöcke auf - die Mauer. Obwohl die Straße nicht durch die Mauer verläuft, müssen wir anhalten. Vor uns ist eine lange Schlange, die schon seit 15 Minuten still steht. Die Leute haben die Motoren abgestellt und sitzen auf den Kühlerhauben und Dächern ihrer Autos, rauchen und unterhalten sich. So ist das hier immer. Eine tägliche Routine, ein Pflichtprogramm, das einmal oder auch mehrmals täglich - je nachdem, wie häufig man am Tag hin- und herfährt - absolviert werden muß. Die Soldaten lassen immer nur jeweils von einer Seite passieren. Wir warten weitere 20 Minuten, während die Autos aus der Gegenrichtung an uns vorbeifahren. Endlich kommen die mit Maschinengewehren bewaffneten Israelis - in aufreizend langsamer Manier - auf unsere Straßenseite und lassen uns unverständlicherweise passieren. Ich sage unverständlicherweise, aber es gibt wahrscheinlich doch eine Logik dahinter. Sicherheitsbedenken spielen jedoch bestimmt keine Rolle - die Straße führt nicht nach Israel, und den einzelnen Autos wird auch keine besondere Beachtung geschenkt. Deswegen fragt man sich, warum die israelischen Soldaten hier sinnlos den Verkehr aufhalten. Die Antwort ist klar. Sie tun es, weil sie es können. Für die Wartenden lautet die Botschaft: »Wenn wir euch aufhalten wollen, dann machen wir es. Wir haben das Recht, euch aufzuhalten. Aus unserer Sicht ist eure Lebenszeit unwichtig.« Als Tony Blair 2007 Nahost-Sondergesandter wurde, gab es im Westjordanland 521 israelische Checkpoints. Heute sind es 699. Mein israelischer Freund sagte noch etwas anderes: »Die Besatzung erniedrigt die Palästinenser, aber sie erniedrigt auch uns.« Die einen sagen: »Wir brauchen eine Mauer, damit wir ein normales Leben führen können.« Die anderen meinen: »Solange es eine Mauer gibt, werden wir niemals ein normales Leben führen.« So ist es, oder so scheint es zumindest zu sein.
 
Wir fahren in Richtung  Nablus. Wegen der israelischen Kontrollposten können wir nicht die asphaltierte Strecke nehmen. Man hat uns schon einige Male nicht durchgelassen, also kehren wir immer wieder um, fahren hin und her, um eine unbewachte Straße zu finden, die uns von hinten herum in die Stadt führt. Ständig, so scheint es uns wenigstens, kommen wir an israelischen Siedlungen vorbei; auf jedem Hügel, den wir überqueren, sehen wir sie. Es sind nicht einmal Häuser, sondern Wohnwagen. Die Wohnwagen kommen, um eine neue Gemeinde hinzupflanzen, und wenn das passiert ist, ziehen sie weiter auf den nächsten Hügel, um dort auch eine hinzupflanzen. Das sind keine natürlich gewachsenen Siedlungen, sondern hastig aus dem Boden gestampfte Lager. Jetzt haben wir uns verfahren. Mein Freund tönt: »Ich kenne den Weg.« Kennt er nicht. Wir treffen einen großen, spindeldürren Mann mit Schnurrbart und Zigarette, der aus seinem VW aussteigt und uns fragt: »Ihr wollt nach Nablus rein?« Er lacht laut über unsere Unfähigkeit, so als ob er solchen wie uns schon öfter aus der Patsche geholfen hätte. »Ich bringe euch nach Nablus. Fahrt mir nach.« Er macht einen fröhlichen Eindruck. Der Kameradschaftsgeist der Straße, der Okkupation, wo die Unmöglichkeit eines alltäglichen Lebens Galgenhumor erzeugt. Über ein paar Schleichwege landen wir in Nablus. Eine 40-Minuten-Strecke hat uns drei Stunden gekostet, aber jetzt sind wir da. Nablus, die Stadt, in der Joseph und auch Jakob begraben sind; eine Stadt mit 180000 Einwohnern, von 14 jüdischen Siedlungen mit 6 israelischen Checkpoints umgeben sowie weiteren 26 Siedlungen, die sogar nach israelischem Recht illegal sind. Nablus, die Stadt, von der man sagt, daß sich hier zeigen wird, ob die palästinensische Regierung sich im Westjordanland behaupten kann. Einst waren hier die der Fatah nahe stehende al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden zuhause, aber jetzt regiert als Bürgermeister Adly Yaish, ein Absolvent der Universität von Liverpool, der, obwohl kein Mitglied der Hamas, 2005 mit deren Unterstützung und 73 % der Stimmen gewählt wurde. Seitdem hat er 15 Monate seiner Amtszeit in israelischer Haft verbracht, ohne daß jemals eine konkrete Anklage gegen ihn erhoben wurde. Neunmal haben israelische Richter seine Freilassung angeordnet.
 
Verlassenheit und Zerfall
Nablus, ein Handelszentrum, in dem kein Handel mehr betrieben werden kann, weil niemand mehr hinein darf. Aber hier sind wir und laufen durch die grauen Steinarkaden und die unzähligen Gassen der Markthallen. Man könnte glauben, in Marrakesch zu sein: üppige Auslagen von Fleisch und frischem Obst, Fliegen, Schirme und Kleidungsstücke, Parfüms und Gewürze, streunende Hunde und Kinder. 80 % der Bevölkerung sind arbeitslos. Es gibt also wenig Kunden, und alles ist um die Hälfte billiger als in Jerusalem. Jetzt kommen wir zu dem angeblich besten Café in der Mitte des Marktes. Die Wände bestehen aus brüchigem Glas und morschen Holzbänken und säumen einen sonnigen Innenhof. Das Sheikh Quasim Café war einst ein angesagter Treffpunkt, wo alle hingingen. Jetzt sind nur fünf der 400 Holzstühle besetzt. Es sieht aus wie ein Filmset, eine Theaterdekoration, die versucht, eine düster-romantische Atmosphäre von Verlassenheit und Zerfall zu kreieren. Wir fahren zurück. Am Checkpoint ist der israelische Soldat natürlich stocksauer. »Wie sind Sie hineingekommen? Sie dürfen da gar nicht rein, das wissen Sie! « »Wir haben einen Weg hinein gefunden.« Das genau ist der Punkt. Wir haben einen Weg hinein gefunden. Das ist es, was die Israelis nicht verstehen wollen. Professor Neill Lochery von der Universität in London, Autor des Buches »Why Blame Israel«, betrachtet den Sicherheitszaun als einen Fehler. »Jetzt schon«, so sagt er, »ist die Mauer ein Relikt vergangener Zeiten.« Denn schon vor ihrer Fertigstellung haben die Feinde Israels ihre Strategie geändert. Sie haben sich von Selbstmordattentaten auf das Abfeuern von Kassam-Raketen verlegt, die auch im Westjordanland, wie schon in Gaza, himmelhoch über die Mauer fliegen können, mit nichts als Zucker und Kaliumnitrat. In Zukunft werden die Kämpfe in der Luft ausgetragen, meint Lochery. Mit anderen Worten: Wenn man eine Sperre aufbaut, werden die Leute einfach außen herum gehen oder in diesem Fall obendrüber. Neue Ideen sind schnell veraltet. Wir fahren jetzt in Ramallah ein, wo die Mauer mit Graffiti bedeckt ist. Oh ja, hier wird ein Bezug hergestellt, und zwar mit Spraydosen und Plakatfarben, so daß jeder Besucher sofort denkt: »Ah, Berlin!«
 
Am nächsten Tag bin ich in Jerusalem und spreche mit David Grossman, dem israelischen Schriftsteller, dessen Sohn Yuri am letzten Tag des Libanonkrieges getötet wurde. In seinem Haus herrscht noch immer Trauer. »Als der Staat gegründet wurde, gab es natürlich ein klares Ziel; es ging darum, gemeinsam etwas von Dauer zu erschaffen. Aber 1967 haben wir unsere Chance vertan. Statt die eroberten Gebiete als Druckmittel in Verhandlungen zu nutzen, sind wir süchtig nach Okkupation geworden. Wenn ein Volk so viel gelitten hat wie unseres, ist es kein schlechtes Gefühl, einmal die Macht zu haben. Und nach diesem Gefühl sind wir süchtig geworden, so wie nach Drogen. Jetzt können wir uns gar keine andere Realität mehr vorstellen. Man gewöhnt sich daran und glaubt, nur noch so leben zu können. Und auf diese Weise wird man wieder zum Opfer der Situation. Darin liegt das zentrale Paradoxon, denn das Ziel von Israel war es schließlich, uns nie wieder zu Opfern werden zu lassen. Doch stattdessen legen wir unser Schicksal in die Hände der Sicherheitskräfte und erlauben dem Militär, unser Land zu führen, weil wir keine politische Führungsklasse haben, der etwas Besseres einfällt. Der Überlebenskampf ist unsere einzige Realität. Wir leben, um zu überleben, und das ist kein Leben.«
 
Ich will endlich anfangen zu leben. Ich will Tore in der Mauer.
 
Quelle: Frankfurter Rundschau
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/1912954_Israel-Mauer.-Ein-Monolog.html vom 2. 9. 09; David Hare schreibt Theaterstücke und Drehbücher. Zu seinen Werken zählen die Stücke ­­­›Via Dolorosa, Stuff Happens, ­­­›Zeitfenster und ­­­›Gethsemane. Der vorliegende Text ist die Bearbeitung eines Monologs, der vom Autor am 12. März 2009 im Royal Court Theater in London uraufgeführt wurde. Übersetzung: Andrian Widmann; Hervorhebungen durch politonline