Pakistan - »Die Besatzer sind Teil des Problems«

Nüchterne Bestandsaufnahme in Pakistan: Erst wenn die Taliban stark genug sind, werden die fremden Truppen aus Afghanistan abziehen. Ein Gespräch mit Asad M. Durrani.

Asad M. Durrani (69) war Generalleutnant der pakistanischen Streitkräfte, von 1980-1984 Verteidigungsattaché in Bonn, von 1989-1992 Chef des pakistanischen Geheimdienstes ISI (»Inter Services Intelligence«), von 1994-1997 Botschafter seines Landes in der BRD und in Saudi-Arabien von 2000 bis 2002. Ursprünglich Artillerieoffizier, absolvierte er im Verlauf seiner militärischen Karriere unter anderem einen Generalstabslehrgang an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Das Interview führte Jürgen Rose.
 
Was empfinden Sie als ehemals einer der ranghöchsten Offiziere der pakistanischen Streitkräfte, wenn heute Ihr Heimatland fast tagtäglich von einer fremden Macht bombardiert wird und Hunderte Ihrer Landsleute - fast alle Zivilisten - getötet werden?
Ich bin darüber sehr besorgt. In erster Linie auch deshalb, weil das alles einer Politik geschuldet ist, die vom Militär betrieben wurde, namentlich von Pervez Musharraf. Nach dem 11. September 2001 war die Hilfe Pakistans, um die es von den USA gebeten wurde, wichtig. Das Problem bestand darin, daß Musharraf nicht hart genug über die Bedingungen für die pakistanische Hilfeleistung verhandelt hat. Es war nicht klar, was Pakistan tun sollte und wollte und was es nicht bereit war zu tun: das hat er mit den Amerikanern nicht abgemacht. Als wichtiger Partner im sogenannten Krieg gegen den Terror hätte er einige »rote Linien« festlegen müssen, aber das hat er unterlassen. Manchmal hat er sogar Dinge getan, die von ihm gar nicht verlangt waren. So hat er 500 bis 600 eigene Landsleute schnappen lassen und den Amerikanern übergeben, die dann nach Guantánamo Bay verschleppt wurden. Die meisten von ihnen waren, wie sich herausstellte, unschuldig. Später traf Musharraf eine weitere fatale Entscheidung. Viele der vor der US-Invasion nach Pakistan geflohenen Afghanen haben aus den Grenzgebieten heraus gegen die Besatzer weitergekämpft. Daraufhin haben die Amerikaner von Musharraf verlangt, militärisch gegen die Kämpfer in den Stammesgebieten, den berühmten »tribal areas« - wo bereits die Briten 90 Jahre erfolglos gekämpft hatten - vorzugehen. Und das tat er, indem die pakistanische Armee ab 2004 zu Operationen in den Stammesgebieten eingesetzt wurde. Die Leute dort haben natürlich ganz normal reagiert: Sie haben sich zur Wehr gesetzt. Damit wurde die Eskalationsdynamik in Gang gesetzt. So bildeten sich immer mehr Widerstandsgruppen gegen die Sicherheitskräfte. Zu deren Unterwanderung - an dieser Stelle kommt meine Expertise als Geheimdienstchef ins Spiel - wurden sogenannte rogue groups eingesetzt. Diese bilden ein sehr effektives Mittel gegen die sogenannten Insurgenten. 
 
Was verstehen Sie konkret unter den erwähnten rogue groups?
Wenn man in einen »asymmetrischen Krieg« verwickelt ist, bilden diese ein sehr gutes Mittel gegen Aufstände. Beispiele hierfür sind Vietnam, Kaschmir, Palästina, wo Israel anfänglich die Hamas unterstützte, oder die von Indien geförderten LTTE in Sri Lanka. Auch wir haben solche Gruppen in Ostpakistan unterstützt, die dann gegen die Widerstandskämpfer vorgingen. Das ist sehr effektiv, denn solche Kräfte können sich mit den echten Widerstandskämpfern vermischen und nützliche Informationen beschaffen; sie können auch ganz gezielt deren Führung enthaupten, also sogenannte targeted killings durchführen, und, was auch sehr wichtig ist, sie können - wie beispielsweise im Swat-Tal geschehen - unschuldige Zivilisten ermorden, um den Widerstand in Mißkredit zu bringen. Die Bevölkerung wird dann nämlich sagen: Wenn diese Leute, die sogenannten Mudschaheddin, Taliban oder Widerstandskämpfer so brutal sind, dann hegen wir, auch wenn wir ihnen anfänglich wohlwollend gegenüberstanden, nun keinerlei Sympathie mehr für sie.
 
Es wird immer wieder behauptet, daß die US-amerikanischen Drohnenangriffe auf die Dörfer in den pakistanischen Stammesgebieten mit heimlicher Zustimmung der pakistanischen Regierung und der Streitkräfte stattfinden. Stimmt das?
Ja, inzwischen glaube ich, daß Pakistan, wenn nicht an allen, so doch an vielen dieser Angriffe ein Interesse gehabt hat, nicht nur im Falle von Beitullah Massud. Anfänglich haben die Amerikaner diese Angriffe ohne Zustimmung Pakistans durchgeführt, und die pakistanische Regierung hat hinterher ab und zu formal protestiert. Außerdem ist man, wenn man für die Zustimmung zu solchen Operationen vorher Geld bekommen hat, so wie Pervez Musharraff, nämlich mehrere Milliarden Dollar, in überhaupt keiner guten Position, um zu sagen: Hört auf damit. Man kann das sagen, aber dafür bräuchte man sehr viel Mut.
 
Afghanistan-Kenner Christoph R. Hörstel sagt: »Die CIA weiß nicht nur, daß der ISI die Taliban unterstützt. Sondern sie fördert das. Das glauben übrigens auch die meisten Afghanen: daß die USA ihre Feinde nähren, damit sie nicht abziehen müssen.« Was halten Sie davon?
Ich bin nicht ganz sicher, ob die USA oder die CIA ein Interesse daran haben, den afghanischen Widerstand zu unterstützen. Der Grund hierfür liegt meines Erachtens darin, daß die USA verloren hätten, wenn der Widerstand hierdurch so erstarken würde, daß sie ihn nicht binnen kurzem zerschlagen könnten. Dann drohte ihnen ein neuerliches Vietnam, und daran können sie kein Interesse haben. Darüber, inwieweit der ISI die Taliban, den afghanischen Widerstand oder Teile davon unterstützt, liegen mir keine konkreten Informationen vor. Aber ich verstehe den Zweck der Operation. Natürlich versucht man, mit allen Kräften des Widerstandes - insbesondere mit den Taliban, seit diese 1995 in Afghanistan an die Macht gekommen waren - Kontakt zu halten. Zweitens aber wäre ich persönlich sehr dankbar dafür, wenn der ISI den afghanischen Widerstand unterstützen würde. Denn nur, wenn der afghanische Widerstand - die sogenannten Neuen Taliban, das sind nicht die »Mullah-Omar-Taliban« - stark genug bleibt, nur dann existiert eine Möglichkeit, daß sich die fremden Truppen aus Afghanistan zurückziehen; anderenfalls bleiben sie dort.
 
Wie schätzen Sie heute die Rolle und Funktion der Taliban ein?
Auch wenn das seit 2001 nicht mehr der offiziellen Haltung der pakistanische Regierung entspricht, so führen die Taliban in Afghanistan, die gegen die Besatzung Selbstverteidigung üben, meiner Meinung nach unseren Krieg, und zwar in dem Sinne, daß, wenn sie Erfolg haben, die fremden Truppen abziehen. Wenn sie aber scheitern und wenn Afghanistan unter Fremdherrschaft bleibt, werden wir weiter Probleme haben. Zweitens: Wenn sich die NATO, die stärkste Militärmacht der Welt, wegen ökonomischer und geopolitischer Interessen - denken Sie an das sogenannte New Great Game -– praktisch an der pakistanischen Grenze festsetzt, dann erzeugt das in Pakistan enormes Unbehagen. Bei uns lautet ein altes Sprichwort: Sei vorsichtig, wenn du neben einem Elefanten schläfst, denn er könnte sich umdrehen.
 
Nach acht Jahren Krieg und Besatzung wird die Lage in Afghanistan immer desaströser. Es sterben immer mehr Zivilisten und Besatzungssoldaten. In dieser Situation hat der neue US-Präsident Barack Obama eine Eskalation und Ausweitung des Krieges auf Pakistan angeordnet. Glauben Sie, daß die Politik der kriegerischen Eskalation Aussicht auf Erfolg besitzt?
Die sogenannte Surge-Politik könnte auf zweierlei abzielen. Die optimistische Möglichkeit liegt darin, daß sie im Rahmen einer Exitstrategie dazu dienen soll, trotz der fast hoffnungslosen Lage, in der man sich befindet, einen Rückzug unter Wahrung des Gesichts zu ermöglichen. Hierfür erhöht man die Truppenstärke und intensiviert die militärischen Operationen, beispielsweise in Helmand. Parallel dazu werden mit Teilen der Taliban Vereinbarungen hinsichtlich eines Truppenabzugs innerhalb bestimmter Fristen getroffen. An einem gewissen Punkt kann die NATO dann erklären, daß sie ihre Ziele erreicht und das Land soweit stabilisiert hat, daß sie abziehen kann - »declare victory and go«, und das war’s. Die weniger schöne Variante könnte darin bestehen, daß die Amerikaner, nachdem sie militärisch und auch politisch soviel in den Krieg investiert haben, den Glauben an einen Sieg doch noch nicht gänzlich aufgeben wollen. Bei uns zu Hause wird das mit dem berühmten Spruch Winston Churchills kommentiert, der einst angemerkt hatte: »You can count on the Americans to ultimately do the right thing, but before that they must exhaust all other options.« Er, der ja ein Freund der Amerikaner war, meinte damit, daß die USA stets versuchen, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, bevor sie bereit sind, sich der Einsicht zu beugen, daß die Niederlage unvermeidlich ist.
 
Sind die Besatzungstruppen Ihrer Meinung nach eher Teil des Problems oder Teil der Lösung?
Teil des Problems. Sie könnten nur dann Teil der Lösung sein, wenn ihr Daseinszweck einzig und allein darauf beschränkt würde, dazu beizutragen, daß die verschiedenen Fraktionen der Afghanen selbst eine gemeinsame Lösung für die Probleme ihres Landes finden können. Keinesfalls aber, um dort militärisch zu kämpfen. Natürlich hätte ein Abzug der fremden Truppen umgehend einen afghanischen Bürgerkrieg zur Folge. Trotzdem ließen sich die unbeliebten Kräfte der Amerikaner und Briten durch andere ersetzen, indonesische zum Beispiel. Und unter den richtigen Voraussetzungen, d.h. wenn die fremden Truppen ausschließlich für Entwicklung und Wiederaufbau da wären, könnte man das akzeptieren. Das Problem liegt allerdings darin, daß diese auch für einen militärischen Sieg kämpfen. Der Friede ist unmöglich zu erreichen, solange die »Operation Enduring Freedom« andauert.
 
Quelle: http://www.jungewelt.de/2009/09-10/021.php