»Die Nato bräuchte eine Million Soldaten« - Gespräch mit dem Afghanistan-Experten Matin Baraki

Nach den Präsidentschaftswahlen in Afghanistan ist Amtsinhaber Hamid Karsai trotz massiver Fälschungsvorwürfe zum Sieger erklärt worden. Die Kämpfe gehen jedoch vielerorts ununterbrochen weiter

und die USA kündigte eine Aufstockung ihrer Truppen an. Charly Kneffel von der Berliner Umschau sprach mit dem Afghanistan-Experten Matin Baraki von der Universität Marburg über die Wahl, das Interesse der USA und des Westens in Afghanistan, sowie die Entwicklungen im Widerstand vor Ort.
 
Berliner Umschau.: Die afghanische Wahlkommission hat jetzt Hamid Karsai zum Wahlsieger erklärt. Ist Karsai jetzt irgendwie legitimiert oder besser legitimiert als vorher?
Matin Baraki: Er ist überhaupt nicht legitimiert. Karsais Amtszeit ist schon seit dem 22. Mai abgelaufen. Nach Artikel 61 der afghanischen Verfassung hätten 60 Tage, spätestens 30 Tage davor Wahlen stattfinden müssen. Diese Wahl war von Grund auf verfassungswidrig. Jetzt im Verlaufe der Wahlen haben wir erlebt, daß systematisch gefälscht wurde und von daher gesehen sind diese Wahlen nicht nur verfassungswidrig, sondern auch nicht legitim, Karsai ist daher kein legitimer Präsident für uns.
 
B.U.: Wie konnte denn Karsai diese verfassungswidrige Wahl durchsetzen?
M.B.: Karsai hatte durchaus schon Wahlen angekündigt, aber die USA haben das nicht gewollt. Begründet wurde das mit der Sicherheitslage. Diese Lage hat sich seither nicht verbessert, sondern eher verschlechtert, aber die Obama-Administration hatte sich noch nicht entschieden, wen sie als Statthalter installieren wollten, Karsai war ja ein Produkt der Neocons. Man hat bis Mitte August überlegt, aber dann hat man sich doch entschieden, weiter auf Karsai zu setzen und die Wahlen am 20. August durchzuführen. Obama hat ja weder in den USA noch woanders Probleme mit den Neocons. Doch die Wahlen waren von Anfang an durch Fälschungen und Manipulationen durch und durch geprägt.
 
B.U.: Auf wen kann sich denn Karsai, abgesehen von der US-Regierung, im Lande selbst stützen?
M.B.: Karsai wird nur von den Besatzungsmächten gestützt, aber die haben zur Zeit etwas Schwierigkeiten mit ihm, weil er weder verfassungsrechtlich noch wahlrechtlich legitimiert ist und im Moment wissen sie gar nicht genau, was sie mit ihm machen sollen. Sie haben ihn auch gewarnt, sich jetzt schon, bevor die Beschwerden geprüft sind, zum Wahlsieger erklären zu lassen. Es gibt rund 2.500 Beschwerden zur Wahlfälschung. Die EU- Beobachter, die anfänglich zufrieden waren, und auch die USA, haben dann gesehen, wie massiv die Beschwerden und offensichtlichen Fälschungen waren und haben ihn davor gewarnt, sich zum Wahlsieger erklären zu lassen. Er hat es aber trotzdem gemacht.
 
B.U.: Wäre Abdullah Abdullah eine Alternative gewesen?
M.B.: Abdullah Abdullah ist keine Alternative. Bei uns in Afghanistan sagt man: der gelbe Hund ist der Bruder vom Schakal. Karsai ist ein Agent der CIA, er stand auf deren Gehaltsliste und Abdullah ist ein - sagen wir es in Anführungsstrichen - national gefärbter Fundamentalist, ein Warlord und von daher ist er keine Alternative für Afghanistan.
 
B.U.: Wie ist denn jetzt eigentlich die strategische Lage in Afghanistan? Welche Rolle spielt die Bundeswehr? Es ist doch schon angedeutet, daß sie weiter verstärkt werden soll.
M.B.: Diese Wahlen sind doch auch zum Anlaß genommen worden, um zusätzliche Einheiten von allen NATO-Ländern und auch von der Bundeswehr dahin zu schicken. Als die Wahlen vorbei waren, hätten sie diese Militäreinheiten eigentlich wieder abziehen müssen,  das haben sie aber nicht gemacht. Das haben sie nur als Anlaß genommen, um das Militär in Afghanistan weiter zu stärken. Man hat sich dahingehend orientiert, nach der Übernahme der Regierung durch die Obama-Administration, Afghanistan zu irakisieren. Das bedeutet, man will zuerst richtig Krieg machen - auch die Bundeswehr – und das haben sie seit Mitte August auch gemacht. In Kundus hat man mit allen Waffengattungen, außer der Luftwaffe, einen richtigen Vernichtungskrieg geführt. Am 4. September haben wir ja auch gehört, daß sie zwei Lasttanker angegriffen haben. Sie zeigen also Stärke. Die Bundeswehr will sich, entsprechend den USA, Großbritannien und Kanada, auch im Süden engagieren. Das Ziel dabei ist, den Krieg zu irakisieren und dann sollen die Regionen, die gesäubert sind, durch Militäreinheiten besetzt werden. Man muß bedenken, Afghanistan ist zwei Mal so groß wie die neue Bundesrepublik und zweieinhalb Mal so groß wie die alte Bundesrepublik. Um so ein Land komplett militärisch besetzt zu halten, braucht man mindestens eine Million Soldaten. Heute kostet der Krieg jede Woche eine Million US-Dollar. Man kann also hochrechnen, was dieser Krieg im Jahr kostet. Für die Hälfte der Summe könnte man Afghanistan wieder komplett aufbauen. Man müßte mit dem Krieg aufhören, aber die NATO will das nicht. Afghanistan ist für die NATO, und auch für die USA und die Bundesrepublik ein unsinkbarer Flugzeugträger und die werden da bleiben, egal wie sich die Entwicklung in Afghanistan vollzieht. Selbst wenn wirklich friedliche Verhältnisse herrschen würden, blieben die in ihren Stützpunkten, um für weitere Operationen in der Region am Ort zu sein.
 
B.U.: Spielt eigentlich die afghanische Armee - inclusive der Polizei - irgendeine wichtige Rolle?
M.B.: Die afghanische Armee ist inzwischen ein bißchen kampffähiger geworden, die Polizei weniger. Die Polizei ist von den US-Ausbildern in vier Wochen in Schnellkursen ausgebildet worden. Sie sollen als paramilitärische Kräfte eingesetzt werden. Die afghanische Armee soll da eingesetzt werden, wo Gefahr besteht, vor allen Dingen hat das die Bundeswehr in letzter Zeit so praktiziert. Wenn es zu militärischen Auseinandersetzungen kommt, halten sie den afghanischen Widerstand in Schach, holen die afghanische Armee und schicken sie nach vorn, damit es bei der Bundeswehr nicht zu Verlusten kommt. Man will so weit wie möglich afghanische Verluste, weil Verluste der Bundeswehr in Deutschland keine gute Reaktion verursachen. Man wird also die afghanische Armee weiter ausbilden und ausrüsten. Die spielt jetzt also bei den Kämpfen ein bißchen mehr eine militärische Rolle. Aber nicht so, daß sie ohne die Bundeswehr oder andere Truppen in der Lage wäre, sich gegen den afghanischen Widerstand zu halten.
 
B.U.: Was ist das eigentlich, dieser afghanische Widerstand? In Deutschland stellt man sich darunter islamistische Taliban mit schwarzem Turban vor, die Mädchen nicht zur Schule gehen lassen.
M.B.: So ist es und das ist eigentlich ein Betrug. Selbst die Vereinten Nationen haben Angaben veröffentlicht, daß in Afghanistan 2.200 verschiedenste Gruppen gegen die Besatzer kämpfen. Man kann sagen, in Afghanistan gibt es heute einen nationalen Widerstand, aber die NATO will damit ihren Krieg legitimieren. Sie behauptet - auch die Bundesregierung behauptet das - wir kämpfen gegen Terroristen, wir kämpfen gegen die Taliban: die eine so verbrecherische Regierung hatten - daß man diese überhaupt selbst erst an die Regierung gebracht hat, wird gar nicht diskutiert - und wir kämpfen gegen al-Quaida-Terroristen. Das ist eigentlich ein Betrug, um der Bevölkerung hier und auch in Afghanistan Angst zu machen, mit der Behauptung, wenn wir abziehen, dann kommen die wieder an die Regierung. Das ist eine betrügerische Argumentation zur Legitimation des Krieges und der Besetzung  Afghanistans.
 
B.U.: Was würde denn passieren, wenn die Interventionstruppen jetzt abziehen?
M.B.: Wenn das geschähe, würde zumindest der islamisch-geprägte Widerstand auf einen Schlag die Waffen niederlegen; das haben sie auch verkündet. Zweitens - das wäre mein Vorschlag - sollten Militäreinheiten aus den Staaten der islamischen Konferenz kommen und auch von den blockfreien Staaten. Die sollten die Ordnung aufrecht erhalten, bis die Afghanen selbst ihre Institutionen übernehmen könnten.
 
B.U.: Was wäre denn jetzt das Beste für Afghanistan?
M.B.: Das Beste für Afghanistan wäre, wenn die Besatzer abgezogen würden. Afghanistan, das möchte ich noch ergänzen, ist neben der Bundesrepublik Jugoslawien, das die NATO zerstört hat, neben Ägypten, Indien, Indonesien usw. Gründungsmitglied der nichtpaktgebundenen Staaten. Wir könnten darum bitten, daß aus diesen Ländern Militäreinheiten nach Afghanistan kommen, um für die Sicherheit Afghanistans zu sorgen. Derweil könnten auf einer Dschirga, einer Ratsversammlung, neue politische Strukturen geschaffen werden 1.
 
Darüber hinaus vermerkt Kneffel in der Berliner Umschau 2: »Wenn man sich dann in Erinnerung führt, mit welcher Naivität hierzulande offenbar Entscheidungen getroffen werden, kommt man aus dem Staunen nicht wieder heraus: Der frühere  Verteidigungsminister Peter Struck bekannte unlängst, man habe geglaubt, in zwei bis drei Jahren wieder draußen zu sein. Jetzt kommt das dicke Ende, denn wenn McChrytsal, der immerhin als einer der besonneneren seiner Zunft gilt, weitere 42.000 US-Soldaten fordert und gleichzeitig die mangelnde Aggressivität der ISAF-Truppen moniert, kann man sich den Rest zusammenreimen. Genau so ist es gemeint. Doch Afghanistan ist nicht zu beherrschen. Die Aufständischen mögen zwar alle mehr oder weniger islamistisch sein, aber das ist dort eben überall der Fall. Hier die westliche Demokratie durchsetzen zu wollen oder - wie es die unnachahmliche Renate Künast [die Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen] formulierte: die Menschenrechte, ist schlicht Narretei und, was schlimmer ist, gemeingefährlich. Mit der Einsicht bundesdeutscher Politiker, die vor allem ihre internationale Reputation verbessern wollen, ist nicht zu rechnen. Der letzte Schutz ist noch die Haltung des US-Präsidenten, der mit weiteren Entsendungen zögert. Ihm ist das Risiko offenbar bewußt. Auch finanziell ist der Krieg ruinös. Mal ganz abgesehen davon, daß mit dem mitgebrachten Regierungspersonal im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen ist. So war es nämlich: die afghanische Regierung wurde auf dem Bonner Petersberg gebildet. [Daher:] Interventionstruppen raus aus Afghanistan - und zwar sofort - vielleicht übergangsweise Truppen aus dem islamisch-arabischen Bereich rein bis die Loga Dschirga eine neue Verfassung geschaffen hat. Dann neue Institutionen schaffen. Noch ist es Zeit.«
 
Auch der italienische Generalleutnant a.D. Fabio Mini, der von 1996 bis 98 Direktor der Führungsakademie des italienischen Heeres und 2002/2003 Kommandeur der KFOR im Kosovo war und heute als Autor und Militärexperte für renommierte Zeitschriften wie LiMes,  Rivista Militare etc. arbeitet, ist der Auffassung 3, daß der Afghanistan-Krieg gegen den »islamischen Terrorismus« nicht zu gewinnen ist und fordert daher dessen Beendigung. [….] Die Strategie, das Land mit Hilfe militärischer Stärke zu stabilisieren, ist gescheitert. Die pakistanischen und iranischen Einmischungsversuche sind nur deshalb erfolgreich, weil sie Front gegen das Engagement des Westens machen. Das sollte der Anlaß dazu sein, darüber nachzudenken, welche Zustimmung das Vorgehen der USA und der NATO in der Bevölkerung hat«, führt Fabio Mini in einem Interview mit der jungen Welt aus. »Der Patent-Sündenbock für alles, was in Afghanistan geschieht, ist in der Regel Al-Qaida. Auch das ist eine mystifizierende Vereinfachung. In Wirklichkeit ist es so, daß die bisherige Besatzungspolitik einen neuen Bürgerkrieg herbeiführt.« Was die jetzt durchgeführten Wahlen betrifft, so erklärt Mini u.a.: » Diese Wahl ist eine der größten Mystifikationen der Demokratie: Sie diente nicht dazu, den Volkswillen zu registrieren, sondern dazu, ein bestehendes Regierungssystem zu bestätigen. …. Die italienische Regierung brüstet sich damit, daß sie weiter an diesem Krieg teilnimmt, während die USA über eine Exit Strategy nachdenken. Allerdings hat US-Präsident Barack Obama der Entsendung einer großen Zahl weiterer Marines zugestimmt. Obama kämpft jetzt darum, einem in taktischer Hinsicht verlorenen Krieg einen politischen und strategischen Sinn zu verleihen. Für die NATO sieht die Sache jedoch anders aus: Sie kämpft darum, diese müde Allianz zusammenzuhalten. Sieg oder Niederlage und sogar menschliche Opfer sind ihr dabei egal. Ich weiß nicht, ob dieses Spiel der Mühe wert ist. Die italienische Position ist genauso widersprüchlich wie die derjenigen Länder, die an der »Bonner Initiative« beteiligt sind. Die glaubten, Afghanistan stabilisieren zu müssen. Und irgendwann stellten sie fest, daß sie in einen Krieg verwickelt sind, von dem sie genau wissen, daß er nur mit Kanonen und Tornados nicht zu gewinnen ist. Auf der politischen Ebene brauchen wir eine internationale Konferenz über die Probleme, aber über die wirklichen Probleme! Mit allen Beteiligten, also auch mit den Taliban. Wie sollten wir denn sonst aus dieser verfahrenen Lage herauskommen, wenn wir nicht einmal mit ihnen reden wollen? Man sollte sich also anhören, was sie zu sagen haben. Wenn man dann nicht auf einen Nenner kommt, kann man sich immer noch anders entscheiden.«
 
Anmerkung politonline d.a.: Wie BBC online und andere am 25. 9. bekanntgaben, hat sich Osama Bin Laden angeblich erneut zu Wort gemeldet 4 und die Europäer dazu gedrängt, ihre Truppen aus Afghanistan zurückzuziehen, was angesichts des Wahnsinns des dort fast täglich vernichteten Lebens, für immer verstümmelten Kriegsopfern und körperlich und seelisch gebrochenen Folteropfern das einzig richtige wäre. »Ein intelligenter Mensch«, so Bin Laden, »vergeudet sein Geld und seine Söhne nicht für eine Bande Krimineller in Washington.« Worte wie diese fallen unbegreiflicherweise bei der Mehrheit der Entscheidungsträger in der EU und der USA auf steinigen Grund. Bin Laden stellt eine Verbindung zwischen den blutigen Angriffen auf die Talibankämpfer in Afghanistan und Pakistan und den Anschlägen in Madrid (2004) und London (2005) her - auch wenn hier ein Zusammenhang bislang nicht wirklich nachzuweisen war. In der BRD, so wird gemeldet, waren in den letzten Wochen drei Drohungen ergangen, die Anschläge ankündigten, falls Deutschland seine 4.200 Mann nicht aus Afghanistan abziehen sollte. Auch eine erst vor kurzem durchgeführte Umfrage ergab erneut dasselbe Resultat: die überwiegende Mehrheit der Deutschen verlangt einen Truppenabzug.
 
 
 
Dr. Matin Baraki lehrt internationale Politik an den Universitäten Marburg, Kassel und Gießen
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1214  9.5.09
Karsais Sonne geht unter - Von Matin Baraki
und Widersprüche auf http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=767  
Quellen:
1http://www.berlinerumschau.com/index.php?set_language=de&cccpage=18092009InterviewBaraki1  18.9.09
2http://www.berlinerumschau.com/index.php?set_language=de&cccpage=21092009ArtikelKommentarKneffel1  21. 9. 09 Das Vietnam Szenario – Das US-Militär will immer noch mehr -Von Charly Kneffel - auszugsweise
3 http://www.jungewelt.de/2009/09-22/053.php »Keine Mission, sondern ein himmlisches Ziel«
Afghanistan-Krieg gegen »islamischen Terrorismus« ist nicht zu gewinnen. Schluß damit, fordert ein hoher italienischer General. Ein Gespräch mit Fabio Mini; Interview: Tommaso Di Francesco/ Simonetta Cossu; Aus Il manifesto sowie Liberazione vom 18. September 2009. Übersetzung: Andreas Schuchardt
4 http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/8275746.stm  25. 9. 09