Die Schweiz im europäischen Umfeld

Gedenktagsrede von Bundesrat Christoph Blocher zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2005 in Rafz ZH. Eine Rede, welche in Bern hohe Wogen verursacht hat, denn Bundesrat Blocher hat im Vorfeld zur Abstimmung über Schengen das gesagt, was die Classe Politique den Bürgerinnen und Bürgern gezielt verschweigt: Es geht bei der Schengen Vorlage um die weitere Demontage unseres Landes, seiner Grenzen, der Selbstbestimmung und letztlich seiner Existenz.

Es gilt das gesprochene Wort Die Schweiz im europäischen Umfeld Gedenktagsrede zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2005 in Rafz ZH
 
Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
Liebe Eidgenossen,
Liebe Festbesucher,

I. 8. Mai 1945 - Tag der Erlösung

Am 8. Mai 1945 endete ein sechs Jahre dauernder blutiger Krieg um die Freiheit Europas, ein Kampf für die Demokratie und wider die Diktatur, ein Ringen für Unabhängigkeit und gegen das Hegemonialstreben fremder Mächte, eine Schlacht um das Respektieren souveräner Staaten und ihrer Grenzen. Zumindest für den Westen Europas bedeutete der 8. Mai die Erlösung von der Diktatur.

Die Feier zum Kriegsende findet hier an der Grenze statt. Die Grenze hat uns damals geschützt. Andere Länder erlitten ein schwereres Schicksal: Ihre Grenzen wurden missachtet und niedergerissen im Machtrausch der Aggressoren, wo sie den Agressoren nicht schon von Anfang an preisgegeben worden waren.

Als Schweizer denken wir mit Hochachtung an all jene, die damals unerschütterlich für die Eigenständigkeit unseres Landes eingetreten sind.

Im Wissen darum, dass menschliche Kraft beschränkt ist, danken wir Gott, dass er unser Land unversehrt diesen Krieg hat überstehen lassen.

An diesem Gedenktag danken wir all jenen, die sich mit Mut, Kraft und Entschlossenheit für die Freiheit in Europa eingesetzt haben. Besonders wollen wir der vielen Soldaten gedenken, die auf den Schlachtfeldern Europas für die Freiheit gestorben sind und all jener, die Opfer dieses mörderischen Krieges geworden sind.

Ihnen allen erweisen wir die Ehre in einer Schweigeminute, indem wir - stellvertretend für sie alle - der Familie Sigrist-Schweizer mit Ihren 5 Kindern gedenken, die hier in Rafz - wenige Wochen vor Kriegsende - durch fehlgeleitete Bomben ihr Leben lassen mussten.

Wir gedenken Ihrer. (Schweigeminute).

II. Wie konnte die Schweiz den 2. Weltkrieg überstehen?

Wie - so wollen wir heute fragen - war es für die Schweiz möglich, den Zweiten Weltkrieg in Freiheit und Demokratie zu überstehen?

Der wichtigste Grund lag in der inneren Haltung der Schweizerinnen und Schweizer: Der unbedingte Wille zur Eigenständigkeit, der nur aus der langen Geschichte der Eidgenossenschaft erklärbar ist und der Wille, mit der Armee die Grenzen des Landes und mit ihnen die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung des Landes zu verteidigen.

Vergegenwärtigen wir uns, unter welchem Druck die Bevölkerung und die politische Führung in den Kriegsjahren standen. 1941 bildete die Schweiz den letzten freien Flecken in einem sonst totalitären Regime in West- und Mitteleuropa. Die Schweiz harrte allein, eigenständig in Europa aus.

Zum Zeitpunkt der höchsten Bedrohung, 1940/41, schrieb der damalige Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung: "Wahrung der Neutralität und Unabhängigkeit der Schweiz ist eine selbstverständliche Aufgabe, in deren Erfüllung Regierung, Volk und Armee einträchtig zusammenwirken müssen."

Unter diesem Blickwinkel ist die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zu sehen und zu würdigen. So dürfen wir zum 60. Jahrestag des Kriegsendes dankbar festhalten:

1. Das Schweizervolk erwies sich zwischen 1933 und 1945 als resistent gegenüber dem nationalistischen Gedankengut. Die Schweiz ist ein demokratischer Rechtsstaat geblieben.

2. Niemand wurde in diesem Land mit staatlicher Billigung misshandelt, gefoltert, ermordet. Bundesrat Obrecht verkündete 1939 an die Adresse Hitlers unmissverständlich, dass wir Schweizer nicht ins Ausland wallfahrten würden. Jeden Angreifer, wer es auch sei, erwarte der Krieg.

3. 800'000 Mann (im 4-Millionen Land 20% der Bevölkerung) bewachten von 1939 bis 1945 unser Land und verschafften der bewaffneten Neutralität Nachdruck. Die Soldaten waren bereit, ihr Leben für das Land hinzugeben.

4. Die Schweiz zeigte unter grossen Opfern einen Widerstandswillen, der seinesgleichen sucht: Erwähnt seien die Anbauschlacht unter Leitung des späteren SVP-Bundesrates Wahlen, die Rationierung der Lebensmittel, die Kriegsvorsorge, die Erwerbsersatzordnung, zusätzliche Steuerabgaben.

5. Wer mit Bürgerinnen und Bürgern spricht, die diese Zeit bewusst durchlebt haben, spürt: Die Schweizer standen zusammen, Familien von Angestellten, Industrie-Arbeitern, Bauern, Handwerker - sie alle verband in dieser schweren Zeit ein starkes Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsgefühl, wie vorher und später nie wieder.

6. Während der Kriegszeit lebten für kürzere oder längere Zeit 295'381 registrierte Flüchtlinge und Internierte auf dem schützenden Schweizerboden. Die Schweiz hat damals rund 29'000 jüdische Flüchtlinge aufgenommen. Unser Land hat mehr Juden aufgenommen als Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika zusammen. Aber leider hat auch die Schweiz mehrere Tausend Flüchtlinge an der Grenze zurückgewiesen. Auch ihnen gehört heute unser stilles Gedenken.

7. Auch wenn einzelne Entscheide falsch, das Verhalten einzelner Personen fragwürdig und anpasserisch waren - im Gesamten verdient die damalige Schweiz Respekt, Hochachtung und Bewunderung für ihre Politik.

III. Und heute?

Die Schweiz harrte allein inmitten des Kriegsgeschehens in Europa aus. Und trotzdem stand nicht dauernd die bange Frage im Raum: Sind wir allein stark genug, sind wir allein gross genug, sind wir allein fähig zum Überleben? Warum glauben heute kleinmütige Politiker und Wirtschaftsleute in viel besserer Situation, die Schweiz sei allein nicht überlebensfähig?

Gelten Neutralität, Unabhängigkeit, Freiheit und Demokratie heute nichts mehr? Wir fragen uns besorgt: Wo sind diese unverrückbaren Werte geblieben?

Es ist eigenartig, dass diese Maximen, welche die Schweiz in der Vergangenheit so geprägt und in höchster Bedrohung vor dem Untergang bewahrt haben, in den heutigen guten Zeiten vernachlässigt, ja sogar leichtfertig preisgegeben werden. Warum?

Um Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit hochzuhalten braucht es unabhängige, selbstbewusste und tatkräftige Menschen. Es braucht Kraft und Standhaftigkeit diese Werte zu verteidigen. Schwache Menschen sind damit schnell überfordert. Schwache Menschen rufen nach Anpassung.

Heute wird Freiheit zwar als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, aber gleichzeitig vernachlässigt, Grenzen gelten als lästig, die Unabhängigkeit als antiquiert. Eigene Wege zu gehen ist für viele zu mühsam. Man bespöttelt den Sonderfall Schweiz und warnt vor dem Alleingang - aber im Grunde genommen lediglich aus Schwäche. Mit den Wölfen heulen und mit den Schafen blöken gilt als chic - weil es eben so schön bequem ist. Wir sollten alle eines bedenken: Bei der Preisgabe von Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit gibt man sich selbst als Staat und Bürger auf.

Gewiss, auch damals - während des 2. Weltkrieges - war diese Kraft und Einträchtigkeit im Willen zur Unabhängigkeit keineswegs von Anfang an und in allen Schichten gleichermassen erkennbar. Auch damals schwankten die Eliten, man fürchtete den Alleingang, man erhob Bedenken und verfiel einer anpasserischen Haltung. Dann aber setzte eine Rückbesinnung auf die Stärken der Schweiz ein. Und sie brachte Erfolg.

Wer sich seiner Stärken bewusst ist, findet immer seinen Weg. Die Stärke der Schweiz ist nicht ihre Grösse, aber ihre freiheitliche Rechtsordnung, ihre Unabhängigkeit, die direkte Demokratie, die souveräne Neutralität und ihr Föderalismus. Darauf darf man sich verlassen.

IV. Freiheit

Eine der grössten Leistungen der Schweiz ist, dass sie dem Sog des Totalitarismus zu jeder Zeit, auch in den 30-er Jahren, widerstanden hat. Es ist ihr gelungen, weil das Land nicht nur militärisch, sondern vor allem auch geistig gerüstet war. Die Stimmung bei den Menschen war besorgt und ernsthaft, aber auch wehrbereit, entschlossen und patriotisch. Die Schweiz ruhte in einer starken Selbstgewissheit. Weil es selbstverständliche nationale Eigenarten gab. Weil Bürgerinnen und Bürger darauf stolz waren. Weil man um die Bedeutsamkeit einer eigenständigen Politik wusste.

Lassen wir hier den englischen Kriegspremier Winston S. Churchill, dem in der Befreiung Europas das Hauptverdienst zukommt, zu Wort kommen. Er brachte bereits 1944 mehr historisches Verständnis für die schwierige Lage der Schweiz auf als heute viele führende Schweizer.

Am 13. Dezember 1944 - also fünf Monate vor Kriegsende - hielt Churchill fest:

"Von allen Neutralen hat die Schweiz das grösste Anrecht auf bevorzugte Behandlung. Sie war der einzige internationale Faktor, der uns mit den uns schrecklich Entfremdeten noch verband. Was bedeutet es schon, ob sie in der Lage war, uns die gewünschten Handelsvorteile zu gewähren, oder dass sie, um sich am Leben zu erhalten, den Deutschen zuviel gewährt hat? Sie war ein demokratischer Staat, der von seinen Bergen aus seine Freiheit verteidigt hat, und trotz ihrer (ethnischen) Zugehörigkeit hat die Schweiz gesinnungsmässig grösstenteils unsere Partei ergriffen".

Den Wert der Freiheit und der integralen Neutralität kann man höher nicht einschätzen.

V. Neutralität

Eine der wichtigsten aussenpolitischen Massnahmen der Schweiz bildet die immerwährende Neutralität. Ist sie heute nicht weitgehend zum Lippenbekenntnis verkommen? Doch ich bin überzeugt: Die dauernde Neutralität wird wieder an Bedeutung gewinnen: Neutralität schützt uns vor Kriegsbegeisterung, vor Medien-Manipulation, vor eilfertigem Nachgeben unter Druck. Sie erlaubt uns unparteiische Hilfe, wo sie wirklich gebraucht wird. Sie errichtet, zusammen mit dem Milizsystem, eine hohe Schwelle für den Einsatz der Schweizer Armee. Aber sie ist nicht gratis. Sie braucht standfeste, selbstbewusste Politiker, Diplomaten und Soldaten. Die Neutralität schützt uns - und das ist nicht ihr geringster Verdienst - vor den Wünschen der Eliten nach Grösse, Medienauftritten, Applaus und Ruhm, was ja meistens nicht mit den Interessen der breiten Bevölkerung deckungsgleich ist.

Was heisst eigentlich Neutralität und was bringt sie uns? Nicht nur Vorteile. Neutral sein heisst oft - und vor allem im Ernstfall - alleine sein, einsam sein. Es ist die Einsamkeit, von der verantwortungsbewusste Regierungsleute und gute Führungskräfte wissen, dass sie unvermeidlich ist. Sie wird aber von schwachen Leuten, welche die Verantwortung meiden, gefürchtet. In jedem Ernstfall jedoch wird das Alleinsein ohnehin zur wahrscheinlicheren Variante, wahrscheinlicher jedenfalls als die uneingeschränkte Hilfe von anderen. Wäre es deshalb nicht klüger, dieser wahrscheinlichsten Eventualität von Anfang an Rechnung zu tragen? Denn wer sich an einen Stärkeren anlehnt, ist diesem ausgeliefert. Es liegt einzig am Starken, ob er im Ernstfall auch gewillt ist, dem Schwächeren beizustehen. Er wird es jedenfalls nur tun, falls es auch im eigenen Interessen liegt.

Weit realer ist jedoch die Gefahr, an der Seite eines grösseren Partners unfreiwillig in einen Konflikt hineingezogen zu werden.

Gerade die jüngsten, bis nach Europa hineingetragenen Terroranschläge zeigen, dass die Neutralität auch in Zeiten überstaatlicher Auseinandersetzungen einen besseren Schutz bietet als voreilige Parteinahme. Neutralität darf deshalb nicht heissen, sich aktivistisch überall einzumischen und vorlaut und voreilig Stellung zu beziehen. Es ist Mode geworden, dauernd in der Theorie über die Neutralität zu dozieren, sie aber gleichzeitig in der Aussenpolitik faktisch zu missachten. Dabei wäre die Neutralität Garant für den wichtigsten aussenpolitischen Trumpf im internationalen Kräftespiel: die Berechenbarkeit.

Wir berufen uns als Kleinstaat neben unserer Unabhängigkeit auf unsere Neutralität. Wir sind neutral, weil es die klügste Form und, wie die Geschichte gezeigt hat, auch das erfolgreichste Instrument unserer Aussenpolitik darstellt.

VI. Grenzen

Am heutigen Gedenktag gilt es auch über den Sinn und Wert von Grenzen nachzudenken. Grenzorte laden dazu in besonderer Weise ein.

Wir leben in einer Zeit, in der Grenzen nicht mehr geachtet werden. Ich spreche dabei nicht nur von Landesgrenzen. Gerade in gesellschaftlichen Fragen sind viele Grenzen niedergerissen worden. Das Schrankenlose und Grenzenlose wird in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als modern und zeitgemäss beklatscht. Dieses Vorgehen hat etwas Pubertäres an sich, das heisst etwas Unreifes!

Grenzen definieren den Raum, in dem ein Volk selbst bestimmen kann. Darum geht es bei der Wahrung der Selbstbestimmung immer auch um die Wahrung der Grenzen. Grenzen definieren den Verantwortungsbereich, in welchem die verantwortlichen Politiker ihre Arbeit zu tun haben. Verantwortung tragen ist schwer, belastend, mühsam. Der heutige Drang der Politiker in internationale Gebilde ist deshalb allzu oft bloss die Flucht aus der "Enge" der eigenen Grenzen, mit ihren klar umschriebenen Verantwortungsbereichen. Sie drängen hinaus an die Orte, wo sich alle Politiker, Regierungsleute und Mediengrössen tummeln. Dorthin, wo alle für alles verantwortlich sind, aber niemand für etwas Konkretes.

So lässt sich Verantwortung nicht mehr zuweisen. Benachteiligt werden die, für die die Verantwortlichen Verantwortung zu tragen hätten.

Grenzen haben es an sich: Sie tragen die Wohltat des Schutzes, aber auch die Gefahr der Abkapselung in sich. Sie können sowohl Befreiung wie Einschränkung bedeuten. Diese Spannung zu ertragen ist nicht leicht. Auch sie braucht Kraft. Die heutige Zeit - geprägt von Übermut und Bequemlichkeit - neigt zur Grenzenlosigkeit.

Die Wirtschaft bezahlt bereits für die Folgen dieses Übermuts der 90-er Jahre. Der damalige Übermut hat Milliarden gekostet, Firmenzusammenbrüche und volkswirtschaftliche Schäden verursacht. Darum heisst neu die Devise: Zurück zu den Schranken, zur  "Fokussierung, zur Überblickbarkeit" wenigstens in der Wirtschaft.

In grenzenlosen Gesellschaften lebt auch die Politik über Ihre Verhältnisse. Unsere Kinder werden unsere grenzenlose Schuldenpolitik mit inzwischen gut 253 Milliarden Franken büssen. Wir sind aufgerufen, wieder Grenzen zu setzen, Grenzen zu respektieren und den Respekt vor Grenzen mit Nachdruck einzufordern. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten eines souveränen Staates, dass er Grenzen aufweist. Jedes eigenständige Land definiert sich über seine Geschichte, über den gemeinsamen nationalen Willen, über seine Kultur, alles innerhalb seiner Grenzen. Die Schweiz weiss seit Hunderten von Jahren genau, wo ihre Grenzen liegen. Seit 500 Jahren hat sie nicht mehr über ihre Grenzen hinaus expandiert und seit 200 Jahren nicht mehr zugelassen, dass ein anderer Staat unsere Landesgrenzen missachtet und sich in unsere Angelegenheiten gemischt hätte. Es wäre den Regierenden nie in den Sinn gekommen, Grenzen plötzlich für überflüssig zu erklären.

Wer alle Grenzen auflösen will, muss sich nicht wundern, wenn damit nicht nur Grenzen, sondern der ganze Staat aufgelöst wird, mitsamt seiner Identität, seiner Geschichte, seiner Eigenart. Die Grenzen sind der Garant für das, was den Staat ausmacht.

VII. Demokratie

Am heutigen Gedenktag gilt es auch die direkte Demokratie zu würdigen. Selbst in schwersten Zeiten blieb die Schweiz eine Demokratie, was Churchill unserem Land besonders hoch anrechnete. Aber auch die Demokratie muss immer wieder neu errungen werden. Demokratie ist nicht nur ein formelles Abstimmungsverfahren, sondern setzt Gedanken-, Rede- und Meinungsfreiheit voraus. Ohne diese gibt es keine Demokratie.

Interessanterweise kommen heute die Bedrohungen und Einschränkungen unserer Demokratie weniger von aussen als vielmehr von innen.

In undemokratischer Weise wird zunehmend von denen, die etwas zu sagen haben, versucht, Meinungen zu verbieten, zu unterdrücken oder gar zu verfälschen, statt dass man andere Meinungen zulässt und - wenn nötig - widerlegt. Ich staune, wie in vielen Fragen nur eine einzige Meinung zugelassen wird. Eine Demokratie muss jedoch in Alternativen denken, handeln und regieren, sonst macht sie keinen Sinn!

Ist es etwa demokratisch, wenn Regierungsrätinnen durch kollegialen Beschluss gezwungen werden, ihre Meinungen nicht mehr öffentlich zu sagen? Nur weil ihre Ansichten nicht der Mehrheitsmeinung des Bundesrates entsprechen?

Auch darf das Kollegialitätsprinzip nicht undemokratisch und wahrheitswidrig missbraucht werden. Ich habe Verständnis, dass man das Stimmenverhältnis bei Regierungsentscheiden nicht veröffentlicht - solange die Regierungssitzungen vertraulich sind - was meines Erachtens nicht sein müsste. Ich habe auch Verständnis, dass sich eine unterlegene Minderheit der Mehrheit fügt, und dass man nicht öffentlich gegen die Mehrheitsmeinung antritt.

Aber ich habe keinerlei Verständnis, wenn ein Bundesrat erklärt, die Regierung stehe "geschlossen" hinter einem Entscheid, wenn ein Entscheid nicht einstimmig gefällt worden ist, wie dies an der Pressekonferenz zu Schengen erklärt wurde. So wird das kollegiale Schweigen der Unterlegenen von der Mehrheit missbraucht und führt zur Irreführung der Öffentlichkeit, was für die direkte Demokratie Gift bedeutet.

Deshalb nehme ich mir hier in aller Form die Freiheit zu sagen: Die Abstimmung im Bundesrat zum Schengen-Beitritt war weder einstimmig, noch steht der Bundesrat heute geschlossen hinter diesem Projekt. Alles andere ist wahrheitswidrig.

Solche Irreführungen des Volkes darf es nicht geben! Eine wahrhaft demokratische Gesinnung liesse ein solches Vorgehen nicht zu. Kollegialität ist ein ernsthaftes Prinzip, es darf nicht als Alibi für Meinungsverfälschungen dienen. Es gibt auch eine Kollegialität gegenüber Land und Volk und die ist höher zu werten als vorgeschobene Regierungskollegialität.

Manche meinen, Regierungen könnten beschliessen, die Erde sei eine Scheibe, und das Kollegialitätsprinzip verböte einem unterlegenen Mitglied zu sagen, die Erde sei rund!

Auch ist es zutiefst undemokratisch, wenn Verbände, Vereine, Parteien vom Vorstand aus bestimmte Parolen verordnen, um nach aussen den Eindruck zu erwecken, es seien alle Mitglieder der gleichen Meinung. Noch schlimmer ist, wenn abweichenden Meinungsträgern berufliche und wirtschaftliche Konsequenzen angedroht werden.

Solchen Tendenzen müssen wir entschieden entgegentreten. Eine Erneuerung der demokratischen Kultur tut Not! Diese hätte befreienden Charakter. Wir dürfen unsere Demokratie nicht unterwandern lassen!

VIII. Schlusswort

Meine Damen und Herren, Das Schweizer Volk wird in den nächsten Jahren zu wichtigen Vorlagen an die Urne gerufen. Besonders bei allen aussenpolitischen Themen stellt sich die entscheidende Frage: "Lässt sich dies mit der Selbstbestimmung vereinbaren? Lässt sich dies mit der direkten Demokratie vereinbaren?" Bleiben Sie wachsam und seien Sie auf der Hut!

Eine Schweiz, die ihre Werte im Krieg gegen eine militärische Grossmacht verteidigen konnte, sollte auch in friedlicheren Zeiten danach trachten, diese Werte hoch zu halten. Auch wenn heute keine Armee unsere Unabhängigkeit, unsere Neutralität, die Selbstbestimmung und die Demokratie sichtbar bedroht; so sind diese Werte trotzdem gefährdet. Auch in Europa. Das Volk muss wachsam sein und sich gegen Bevormundungen wehren. Selbst wenn dies zu grossen Auseinandersetzungen führt.

Was die Schweiz im europäischen Umfeld betrifft, so gab der weitsichtige Winston Churchill schon 1945 zu bedenken: "In Europa müssen wir erst noch dafür sorgen, dass die einfachen und edlen Ziele, die uns in den Krieg führten, nicht vergessen oder beiseite gestossen werden, und dass Worte wie Freiheit, Befreiung und Demokratie nicht die Bedeutung verlieren, die wir ihnen zumessen."

Möge die Schweiz innerhalb Europa Fackelträger für diese hohen Werte sein und bleiben!