Ethnische Geiselhaft. Wie soll sich Israel definieren? - Von Tony Judt

Für uns Juden lautet die alles entscheidende Frage: Wer sind »wir«? Hier in New York haben die meisten Juden, die sich mit der Geschichte des Judentums auseinandersetzen,

eine streng rassenbezogene und ethno-deterministische Auffassung. Sie glauben nicht, daß wir nur eine selbstdefinierte und herbeigedichtete Gemeinschaft unter vielen sind,  geschweige denn, daß sich unsere Selbstdefinitionen in Reaktion auf unsere Verfolger entwickelt haben könnten. Juden, so wurde ihnen beigebracht, sind einmalig. In meinen Augen ist das ein selbstgefälliges Überlegenheitsdenken, und ich halte es für angebracht, diese ethnische Unterscheidung in Frage zu stellen.
 
Die Grundvoraussetzung des Zionismus war, daß die Juden ein homogenes und einzigartiges Volk bilden; daß weder ihre Ausbreitung in der Welt, noch ihre Leiden über Jahrtausende hinweg ihre charakteristischen kollektiven Eigenschaften verwässern konnten; und daß sie als freie Juden nur in einem jüdischen Land leben konnten. In einer Zeit, als die ethno-nationalistischen Bewegungen in Zentral- und Osteuropa anfingen, Wurzeln zu schlagen, ließ sich diese Prämisse umso leichter akzeptieren, als die Juden den rumänischen oder lettischen Nationalismen einfach ihre eigene, ethnisch definierte Exklusivität entgegensetzten. In den Augen der Zionisten war also die jüdische Religion nicht mehr die elementare Maßgabe für eine jüdische Identität. Im späten 19. Jahrhundert emanzipierten sich die Juden rechtlich und kulturell. Der Zionismus erschien vielen als einzige Alternative zu Verfolgung, Assimilation und kultureller Entfremdung. So begünstigte paradoxerweise der Rückzug des religiösen Separatismus die Entwicklung einer säkularen Version eben dieses Separatismus.
 
Ich habe in den sechziger Jahren die antireligiöse Stimmung vieler linker Israelis miterlebt und als sehr unbehaglich empfunden. Religion, so wurde mir gesagt, sei was für die »Verrückten« von Jerusalem. Wir, so meine zionistischen Lehrer, seien modern, rational und westlich. Was sie mir nicht erzählten: ihr Israel, dem ich beitreten sollte, gründete auf einer radikal ethnischen Definition des Judentums. Doch es ging viel weiter als das. Die meisten der Gründungsväter Israels waren Mitglieder in einem Kibbuz. Auch der Kibbuz war ein demonstrativer Ausdruck ihrer ethnisch-ideologischen Vorstellungen. Bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels hatten sich die Juden als Bauern auf dem Gebiet des heutigen Israels und Palästinas angesiedelt. Dann wurden sie von den Römern ins Exil gezwungen. Es war das zweite Mal, daß die Juden heimatlos in der Welt umherziehen mußten (das erste Mal wurden sie von den Babyloniern vertrieben). Nun aber würden sie endlich »heimkehren« und das Land ihrer Vorfahren bestellen.
 
Was für eine haarsträubende Vorstellung: Stellen Sie sich vor, eine Gruppe Tiroler Ärzte und Rechtsanwälte würde mit dem Schiff nach Südengland übersetzen und verkünden, daß sie gekommen seien, um das Land ihrer sächsischen Vorfahren zu bestellen. In Israel hat niemand diese Vorstellung je in Frage gestellt. Dafür gibt es Gründe: Wenn wir uns damals gefragt hätten, ob die Juden aus dem heutigen Israel direkte Nachfahren der biblischen Hebräer seien und erfahren hätten, daß die Antwort wohl »nein« heißen müßte. Da es unendlich viele Mischehen, Bekehrungen, Assimilationen gegeben hat, wäre es genauso schwer, eine solche Verbindung nachzuweisen - wie etwa der Nachweis, wie Sarkozy mit Vercingetorix in Verbindung zu bringen ist - es hätte uns verwirrt. Doch wieso war dann die Rede von einem jüdischen Land? Warum unbedingt an einem so streitsüchtigen Ort wie Kanaan? Wieso nicht Kanada?
 
Der Ethno-Mythos einer direkten jüdischen Abstammungslinie war für die Legitimität des jüdischen Staates und somit für die institutionalisierte Vorzugsbehandlung der Juden gegenüber den Nicht-Juden essentiell. Natürlich gibt es auch andere Rechtfertigungsversuche. Die jüdische Leidens- und Opfergeschichte wurde seit dem Eichmann-Prozeß ganz zentral, wenn es darum ging, Israel gegen seine Kritiker zu verteidigen. Das richtige Argument, daß ein jüdischer Staat die beste Hoffnung für die Überlebenden des Holocaust sei, verkam allmählich zu einem Vorwand für Israel, im Namen des jüdischen Fortbestands tun und lassen zu können, was es wollte. Seit einiger Zeit können wir die tragische Umkehrung dieser argumentativen Verkürzung miterleben: Der iranische Präsident Ahmadinedschad macht sich einen Spaß daraus, den Holocaust zu leugnen und stellt so die israelische Propaganda auf den Kopf. Wenn Israels beste Verteidigung Auschwitz ist, dann braucht man nur noch zu sagen, es habe den Holocaust nie gegeben. Weltweit zeigen sich die Juden natürlich entsetzt, doch aus einer israelischen Perspektive wirkt es geradezu bestätigend und ist daher vielleicht nicht ganz unwillkommen. Wenn wir uns darauf einigen können, daß es das »Jüdische« nicht gibt, stellt sich die Frage: Wie sollen wir den israelischen Staat betrachten? Ganz einfach: Entweder ein Staat existiert oder er existiert nicht. Ägypten oder Guatemala existieren nicht auf Grund einer Theorie von »Ägyptischheit« oder »Guatemalismus«. Diese Länder werden international anerkannt, weil es dort ein Rechtssystem gibt und weil sie in der Lage sind, sich selbst zu versorgen und sich zu verteidigen. Israels Fortbestand hängt also nicht von der Glaubwürdigkeit der Geschichte ab, die es selber über seinen ethnischen Ursprung erzählt. Das Insistieren auf Exklusivität schadet dem Land. Erstens macht es aus allen Nicht-Juden, die in Israel leben, Menschen zweiter Klasse. Doch es gibt noch einen weiteren hohen Preis zu zahlen: Israel behauptet heute aggressiver denn je, nicht nur für einen jüdischen Staat zu sprechen und zu handeln, sondern für alle Juden. Das macht die Juden weltweit zu unfreiwilligen Komplizen der israelischen Politik. Kein Wunder, daß der Antisemitismus wieder wächst. Wobei er sich gewandelt hat: Konventionelle Neo-Faschisten wie Jean-Marie Le Pen schätzen Israel mittlerweile, schließlich hat man einen gemeinsamen Feind.
 
Die neuen Antisemiten sind in der Regel junge Männer, die in europäischen Vororten leben und nordafrikanischer, nahöstlicher oder südasiatischer Herkunft sind. Sie sehen im Fernsehen, wie Israelis im Gazastreifen die Palästinenser bombardieren. Ohnmächtig und wütend identifizieren sie sich mit den Ländern oder dem Glauben ihrer Eltern. Am folgenden Tag greifen sie eine Synagoge oder ein jüdisches Schulkind an. Juden in Frankreich oder Holland haben allen Grund, sich vor solch einem Zorn zu fürchten, doch sie haben ihn nicht provoziert. Solch eine Wut kann nicht in Paris oder Amsterdam gezähmt werden. Juden in Europa und in der USA sollten sich von Israel distanzieren.  Darauf zu beharren, »das Judentum« mit einem kleinen geographischen Territorium als eins zu setzen, ist pervers und schadet sowohl Israel als auch den Juden. Es ist der Hauptgrund dafür, daß das Problem zwischen Israel und Palästina nicht gelöst werden kann.
 
Der Grund dafür, daß das »Jüdischsein« Israels auf lange Sicht dem Wohlergehen Israels schadet, liegt in der USA. Dort hat jener Geist eine mächtige und reaktionäre Israel-Lobby geschaffen, die enorme Geldsummen eintreibt, um Kongreßabgeordnete dazu zu bewegen, angeblich »im Interesse Israels« zu stimmen. Diese Lobby zensiert und diskreditiert jegliche noch so milde Kritik an Israel. Das Geld wird beschafft, indem betont wird, wie wichtig die amerikanischen Juden für den Erhalt des jüdischen Staates seien, der, wie ihnen erklärt wird, ihnen im Falle eines neuen »extremistischen Antisemitismus« Hoffnung und Zuflucht gewährt. Ich habe viele Juden getroffen, die zwar noch nie in Israel waren, mir aber erklärten, daß sie die Israel-Lobby unterstützen, weil sie das gespendete Geld als eine Art Versicherungspolice gegen »die Rückkehr Hitlers« ansehen. 
 
Was also tun? Eins ist klar: wenn sich nicht bald etwas ändert, wird Israel aufhören, eine Demokratie zu sein, oder es hört auf, ein jüdischer Staat zu sein: Nicht-Juden werden schon bald in den Gebieten, die von Israel kontrolliert werden, die Mehrheit stellen. Diese tragische Aussicht könnte nur durch ethnische Säuberung in einer Größenordnung, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen haben, verhindert werden. Ich würde mir ja einen einheitlichen Staat wünschen. Doch sowohl Israelis als auch Palästinenser werden dagegen kämpfen. Die Zwei-Staaten-Lösung wäre vielleicht noch immer der beste Kompromiß, aber es fällt schwer, daran zu glauben, wenn man sich die Geschehnisse der letzten beiden Jahre ansieht. Ich neige daher dazu, den Fokus auf einen ganz anderen Aspekt zu richten. Wenn die Juden in Europa und in der USA sich von Israel distanzieren würden (viele tun das schon), dann würde die Behauptung, Israel sei »ihr Staat«, irgendwann so absurd klingen, als würde die französische Regierung behaupten, die Nachkommen der französischen Siedler im Mississippi Valley zu repräsentieren. Vielleicht wird sogar Washington irgendwann erkennen, wie sinnlos es ist, die amerikanische Außenpolitik und das eigene internationale Prestige an den Wahn eines kleinen nahöstlichen Ethno-Staats zu binden. Das wäre das Beste, was Israel geschehen könnte. Israel wäre gezwungen, seine Grenzen und seine Begrenztheit zu erkennen. Es müßte neue Freundschaften schließen, möglichst mit seinen Nachbarländern. Ohne seine blauäugigen Verteidiger aus der Diaspora müßte Israel klügere politische Entscheidungen treffen, anstatt seine Freunde moralisch unter Druck zu setzen.
 
Man könnte dann eine natürliche Unterscheidung zwischen Menschen, die »zufällig« jüdisch, aber Staatsbürger anderer Länder sind, und Menschen, die in Israel leben und »zufällig« jüdisch sind, treffen. Die griechische, armenische und irische Diaspora haben auf sehr ungute Art im Land ihrer jeweiligen Vorfahren nationalistische und ethnische Vorurteile bestärkt und perpetuiert. Doch der Bürgerkrieg in Nord-Irland wurde zum Teil dadurch beendet, daß ein amerikanischer Präsident seine eigene irisch-stämmige Gemeinschaft in der USA dazu aufforderte, die Aufwendung von Geld und Waffen für die IRA zu unterlassen. Wenn amerikanische Juden damit aufhören würden, ihr Schicksal (und vielleicht ihr Schuldgefühl) mit Israel in Verbindung zu setzen und ihre Spenden für bessere Zwecke verwenden würden, dann könnte etwas Ähnliches im Nahen Osten passieren.
 
Quelle:
Süddeutsche Zeitung, Nr. 287 vom Samstag/Sonntag, 12./13. Dezember 2009, Seite 15
Der Autor ist Historiker und leitet das Remarque-Institut der New York University.
Siehe auch
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=1264  4. 7. 09
Mein Heim im Land meines Feindes - Von Tony Judt
Amerika darf nicht mehr akzeptieren, daß Israel seinen Gründermythos auf die Siedlungen in den besetzten Gebieten überträgt. Ich bin alt genug, um mich an die Zeit zu erinnern, als israelische Kibbuzim noch wie Siedlungen aussahen.