Eskalation im Mittelmeer - Entschuldigung nicht vorgesehen - Von Wolfgang Effenberger

Am frühen Morgen des 31. 5. 2010 stürmten israelische Kommandosoldaten die aus sechs Schiffen bestehende Flottille der Organisation »Free Gaza«.

Beim nächtlichen Entern der Schiffe, welche die Blockade des Gaza-Streifens durchbrechen wollten, starben mindestens neun Aktivisten und weitere 45 wurden verletzt. Die Schiffe sollten 10.000 Tonnen an Medikamenten, Baumaterialien und andere Hilfsgüter in den Gaza-Streifen bringen, der seit fast vier Jahren von Israel blockiert wird, um die dort regierende Hamas in die Knie zu zwingen [1]. Vor ihrem Ablegen in Nordzypern wurden die Schiffe nach Aussage des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan sorgfältig kontrolliert. Es seien keine Terroristen oder Waffen an Bord vorgefunden worden. »Ich möchte der Welt sagen«, so Erdogan, »daß diese Boote, die aus der Türkei und anderen Ländern kamen, in einer strengen Weise im Rahmen der Regeln der internationalen Schifffahrt überprüft wurden, sie waren nur mit humanitären Hilfsgütern beladen.« [2]  Schmerzlich bedauerte Paul Craig Roberts, ehemaliger stellvertretender Finanzminister unter Reagan, daß die US-Medien diesen Hinweis unterschlugen. An Bord waren über 700 Menschenrechtler  aus mehr als 40 Ländern. Unter ihnen Hanin Zoabi, eine arabisch-palästinensische Abgeordnete der Knesset und auch eine Holocaust-Überlebende. Dazu der ehemalige US-Botschafter Edward Peck (81) sowie  der schwedische Erfolgsautor Henning Mankell. Auch sechs Deutsche befanden sich im Hilfskonvoi. Darunter der prominente Hamburger Völkerrechtler Norman Paech (72). Er hatte  nach 32 Jahren Mitgliedschaft wegen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr der SPD sein Parteibuch zurückgegeben und saß dann für die LINKE von 2005 bis 2009 im Bundestag. In Paechs Begleitung befanden sich auch Inge Höger (MdB) und Annette Groth (MdB). Außerdem waren Matthias Jochheim von der deutschen Sektion der Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW) und Nader el Sakka von der Palästinensischen Gemeinde Deutschland an Bord. Auf Druck der Weltöffentlichkeit teilte ein israelischer Regierungssprecher am Abend des 1. 6. mit, daß die Ausweisung der Verhafteten binnen 48 Stunden erfolgen solle. Israel hatte 679 Aktivisten festgenommen und die meisten zum Verhör in das Gefängnis der Wüstenstadt Beerscheba gebracht. Inzwischen räumte der Chef der israelischen Streitkräfte, Gabi Ashkenazi, Fehler ein: »Es ist klar, daß die Ausrüstung zum Auseinandertreiben der Menge mangelhaft war.« Auch die Planung läßt Professionalität vermissen. So »sei ein solcher Widerstand der Aktivisten nicht erwartet worden«, sagte ein ungenannter Leutnant dem Armeeradio. Dagegen führte die Knesset-Abgeordnete Zoabi aus, daß die internationale Flotille nach Gaza keine gewalttätigen Absichten hatte: »Unser Ziel war, die Belagerung zu stoppen. Wir hatten keine Pläne für eine Konfrontation. Israel beging mit dieser Militäraktion eine Provokation. Israel ist es gewohnt, mit den Palästinensern umzugehen, wie es ihm beliebt. Das Hauptproblem ist nicht das Schiff, sondern die Belagerung.« 3 Ähnlich äußerte sich der schwedische Schriftsteller Henning Mankell am Dienstag unmittelbar nach seiner Rückkehr aus israelischer Gefangenschaft. Er kritisierte die Erstürmung der Gaza-Hilfsflotte durch die israelische Marine als Seeräuberei und Kidnapping und fragt besorgt: »Was wird passieren, wenn wir nächstes Jahr mit Hundert Schiffen kommen - werden sie dann eine Atombombe abwerfen? « 4
 
Nach der Kommandoaktion sieht sich Israel einer Welle internationaler Kritik ausgesetzt. Der türkische Ministerpräsident Erdogan bezeichnete das Vorgehen der israelischen Marine als Massaker und forderte eine Bestrafung Israels. Der UNO-Sicherheitsrat verurteilte die Militäraktion und forderte eine sofortige unabhängige, glaubwürdige und transparente Untersuchung5 des Vorfalls. Dies forderte auch die NATO nach einer Sondersitzung. Dagegen sieht der israelische Vizeaußenminister Danny Ajalon keinerlei Grund für eine Entschuldigung. »Wir müssen uns nicht dafür entschuldigen, daß wir uns selbst verteidigt haben.« 6 Die Gaza- Solidaritätsflotte bezeichnete er als Armada des Hasses und der Gewalt.  
 
An dieser Stelle muß an zurückliegende Aktionen zur See der israelischen Armee erinnert werden:
 
Angriff auf den amerikanischen Funkaufklärer Liberty am 8. Juni 1967
Am Donnerstag, dem 8. 6. 1967, kreuzte das Funkaufklärungsschiff der National Security Agency (NSA) 7, die USS Liberty, ein mit modernster Abhör-Elektronik vollgestopfter Frachter des Zweiten Weltkrieges, in einem Abstand von 40 Kilometern vor der Wüstenstadt Al Arish mit Kurs auf den Gaza-Streifen. Es sollte im 3. Nahostkrieg den Funkverkehr zwischen Israel und seinen Feinden, Ägypten, Syrien und Jordanien, belauschen und darauf achten, ob im Cockpit der ägyptischen Maschinen russische Laute nachgewiesen werden konnte. Von 5 Uhr morgens bis 1 Uhr mittags war das antennengespickte und nur mit 4  Maschinengewehren armierte Spionageschiff bei bester Sicht dreizehnmal von israelischen Aufklärern überflogen worden. Das Kennzeichen der Liberty, GRT-5, war von den Aufklärern an die israelische Bodenstation weitergegeben worden.
 
Um 14 Uhr brauste im Tiefflug zunächst eine Rotte israelischer Düsenjäger vom Typ Mirage IIIC auf das Schiff zu und nahm die Antennen mit ihren Waffen, Maschinenkanonen, Raketen und Napalm-Bomben schwerpunktmäßig unter Beschuß. Ihr folgte unmittelbar eine Rotte israelischer Super-Mystère, die das Zerstörungswerk fortsetzten. Nach 20 Minuten Angriff wies die Liberty bereits schwere Schäden auf, 8 Besatzungsmitglieder waren gefallen und Hundert schwer verwundet, einschließlich des Kapitäns, William McGonagle. Obwohl schwer verletzt, führte Gonagle das Kommando umsichtig weiter. Viel Zeit zur Besinnung blieb nicht. Nur Minuten später waren drei israelische Torpedoboote herangeprescht. »Wie ein  Erschießungskommando aufgereiht«. sagte Commander McGonagle am 10. 6. 1967 aus, »richteten sie ihre Kanonen- und Torpedorohre auf die Steuerbordseite des Schiffsrumpfes« 8. Vom schwer getroffenen Schiff sollten die Rettungsfloße klargemacht werden. Doch die Rettungsmittel wurden von den Israelis gezielt zerstört. Anscheinend sollte niemand bei diesem Angriff mit dem Leben davonkommen.
 
Die Boote umkreisten weiter die waidwunde Liberty und schossen auf die verbliebenen, mit dem Feuer ringenden  Brandbekämpfungstrupps. Seit zwei Stunden hatte die Liberty verzweifelt um Hilfe gerufen. Das konnte den Israelis auch nicht entgangen sein. Sie zogen ihre Torpedoboote zurück. Fast zur gleichen Zeit bestellte man den US-Militärattaché, Commander Ernest C. Castle, in das Hauptquartier der israelischen Verteidigungsstreitkräfte ein und setzte ihn über den irrtümlichen Angriff auf die Liberty in Kenntnis. Am nächsten Tag wurde der Blick des Lesers der Süddeutschen Zeitung auf zwei fett hervorgehobene Überschriften gelenkt: Weg zum Suezkanal freigekämpft und Israel hat seine Kriegsziele erreicht9. Noch auf der Titelseite, aber in einer kleinen Randrubrik, wurde berichtet, »daß  bei einem irrtümlichen Angriff israelischer Flugzeuge und Torpedoboote auf das amerikanische Schiff Liberty etwa 24 km nördlich der Sinai-Halbinsel im Mittelmeer 10  Amerikaner ums Leben gekommen sind. Außerdem wurden 75 Besatzungsmitglieder des Schiffes verletzt.« Von der 297 starken Crew waren jedoch 34 getötet und 171 verwundet worden, der schwerste Verlust von US-Marinepersonal durch feindliche Aktionen seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Während aus dem durchlöcherten und aufgerissenen Rumpf der Liberty noch schwarzer Rauch quoll, und die Verletzten noch unversorgt im Schiff lagen, wurde in Washington schon an der Vertuschung gearbeitet. Das Weiße Haus und der Kongreß akzeptierten sofort Israels Erklärungen und die in Aussicht gestellte Entschädigung von 6 Millionen US-$. Nur der US-Staatsekretär Dean Rusk und der Chef des Vereinigten Generalstabes, Admiral Thomas Moorer, bestanden darauf, daß der israelische Angriff bewußt mit dem Ziel herbeigeführt worden sei, die Liberty zu versenken.
 
Aber warum? Bei einer Versenkung ohne Zeugen hätte die Schuld den Ägyptern angelastet werden können. Ein Kriegseintritt der USA auf Seiten Israels wäre unmittelbar erfolgt. Die Version des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Bamfords scheint noch stichhaltiger zu sein: »Als die Liberty in Sichtweite vor Al Arish lag und den Sprechfunkverkehr abhörte, verwandelten israelische Soldaten die Stadt in ein Schlachthaus, in dem sie ihre Gefangenen kaltblütig  niedermetzelten10 Nach den Angaben des israelischen Militärhistorikers Aryeh Yitzhaki erschossen die israelischen Truppen etwa 1.000 ägyptische Gefangene auf dem Sinai, darunter ungefähr 400 in den Sanddünen von Al Arish, dem Kommandobereich von Ariel Sharon. Diese Verbrechen galt es zu vertuschen. Die toten Marinesoldaten und Funkaufklärer ruhen auf dem Nationalfriedhof Arlington. Auf ihren Grabsteinen ist eingemeißelt: Died in the Eastern Mediterranean.
 
Am 24. Oktober 2006 befand sich das deutsche Aufklärungsschiff im Rahmen der UNO-Mission Unifil 11 50 Seemeilen (gut 90 km) vor der israelischen Küste in internationalen Gewässern, als es von einer Rotte von 6 israelischen F-16-Maschinen überflogen wurde. Dabei seien zwei Schüsse aus einer Bordwaffe abgegeben worden, die jedoch am Schiff vorbeigingen. Außerdem hätten die israelischen Flieger Anti-Raketen-Täuschkörper abgeworfen. Ein Beweisvideo wurde nach Aussage von Vizeadmiral Hans Joachim Stricker, der den Vorfall als unfreundlichen Akt12 bezeichnete, nach Berlin geschickt. Dort lehnte das Verteidigungsministerium eine Veröffentlichung der Bilder ab. Der damalige FDP-Generalsekretär Dirk Niebel warnte die Regierung davor, nur aus diplomatischer Rücksicht auf Israel von einer Veröffentlichung abzusehen: »Es hilft niemandem, einen nicht ungefährlichen Konflikt abzuwiegeln.« Der Vorgang zeige »eindeutig, daß eine direkte Konfrontation deutscher und israelischer Streitkräfte auch bei einem maritimen Einsatz jederzeit möglich ist.« Der Versuch der Bundesregierung, »so zu tun, als handle es sich um eine Art Kieler Woche vor Beirut, ist auf gefährliche Weise kläglich gescheitert.« 13 Am 27. Oktober räumte ein Sprecher des israelischen Militärs ein, daß sich die bedrohte Alster zum Zeitpunkt des Zwischenfalls in internationalen Gewässern befand. Damit korrigierte er frühere Angaben, wonach sich das Schiff unmittelbar an der libanesisch-israelischen Seegrenze befunden habe. Für die Bundesregierung sei der Zwischenfall nun geklärt und wird nicht als Provokation betrachtet.« Nur ein Dummer-Jungen-Streich? »Wir sind  zuversichtlich, daß sich ein solcher Fall in Zukunft nicht wiederholen wird«, ließ die Bundesregierung durch den Sprecher des Verteidigungsministeriums Thomas Raabe verlauten. Doch bereits in der Nacht zum 27. Oktober war der deutsche Kommandeur des Unifil-Marineverbandes, Flottillenadmiral Andreas Krause, in Gefahr geraten, als sein Hubschrauber von israelischen Jets angeblich mit ihrem Feuerleit-Radar angepeilt wurde: mit diesem Vorgang wird ein zu bekämpfendes Ziel erfaßt. 14
 
Israel wäre nun gut beraten, zukünftig maßvoll und den Verhältnissen angepaßt zu handeln. Es sollte auf derartige destruktive Provokationen verzichten und geschickt und verantwortlich die Zwischenstufen der Deeskalation nutzen. Es sollte auch die Größe finden, Fehler einzusehen und den Mut zur Entschuldigung aufbringen. Denn die Kriegsgefahr in dieser Region ist einfach zu groß.
 
 
1 Münch, Peter: Weltweite Empörung über Israel. Militär entert Schiffe mit Waren für Palästinenser und tötet neun Menschen. 1. Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats, in Süddeutsche Zeitung vom 1. Juni 2010, S. 1
2 Roberts, Paul Craig: America's Complicity in Evil, in Counter Punch vom 1. Juni 2010
3 Watson, Steve: Marine-Kommandant: Das nächste Mal werden wir mehr Gewalt anwenden, in Prisonplanet.com vom 1. Juni 2010
4 Mankell: Es war Seeräuberei und Kidnapping, in Expressen (Mittwochausgabe2.6.10), zitiert in Kleine Zeitung vom 02. Juni 2010
5 Münch, Peter: UN verurteilen Israel, Süddeutsche Zeitung vom 2./3. Juni 2010, S. 1
6 Israel sieht keinen Grund für Entschuldigung, in news.ch vom 31. Mai 2010
7 NSA (Nationale Sicherheitsbehörde): größter und finanziell am besten ausgestatteter Nachrichtendienst der Vereinigten Staaten. Die NSA überwacht und entschlüsselt weltweit die elektronischer Kommunikation
8 Protokoll der Untersuchungskommission der US-Marine, Aussage von Commander McConagle, 10. Juni 1967, S. 31
9 Süddeutsche Zeitung, Freitag, 9. Juni 1967
10 Bamford, James: NSA. Die Anatomie des mächtigsten Geheimdienstes der Welt, München 2001, S. 207
11 Der Einsatz der Alster war bei dem Beschluß der deutschen Unifil-Beteiligung nicht öffentlich gemacht worden
12 Schüsse auf deutsche Marine - Video-Beweis soll Israel der Lüge überführen in Spiegel online vom 27. 10. 2006
13 Zwischenfall mit deutscher Marine - Opposition verlangt Freigabe des Video-Beweises gegen Israel – Spiegel online - 28. 10. 006
14 Der Zwischenfall vor Libanon - Israelischer Jagdbomber bedrängt erneut deutschen Hubschrauber Spiegel online - 29. 10. 2006