Gezieltes Töten in großem Stil 02.10.2011 21:59
d.a. Wie pervers sich die militärische Gedankenwelt entwickelt, geht aus dem nachfolgendem Bericht hervor:
Berliner
Regierungsberater rechnen für den Krieg in Afghanistan mit dem Übergang zu
einer »Counterterrorism«-Strategie inklusive »gezieltem Töten in großem Stil«.
Wie es in einer aktuellen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
heißt, setze sich in Washington immer mehr die Ansicht durch, die gegenwärtig
praktizierte Strategie der »Aufstandsbekämpfung« [»COIN« -Counterinsurgency] könne
nicht zum Erfolg führen. Experten hätten sie schon 2009 als »Glücksspiel« bezeichnet. Daher sei
der Übergang zu einer alternativen Strategie unumgänglich. Der SWP zufolge
spielt dabei der Kostenfaktor eine entscheidende Rolle: Die USA stellten 2011
insgesamt 113 Milliarden US-$ für den Krieg am Hindukusch in ihrem Staatsetat
bereit; angesichts der vielfältigen aktuellen Krisen sei das zu viel. »Counterterrorism« benötige deutlich weniger Truppen
als »Counterinsurgency«
und sei deshalb billiger. Unklar ist, welche Rolle die Bundeswehr in einem
Counterterrorism-Szenario in Afghanistan spielen wird. Äußerungen des
ehemaligen Verteidigungsministers Guttenberg deuten auf eine deutsche Beteiligung
hin.
Ein Glücksspiel
In den USA
zeichnet sich eine Abkehr von der bisherigen Strategie der Aufstandsbekämpfung
in Afghanistan ab. Dies berichtet die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
in einer aktuellen Analyse. Zwar hielten die NATO - und damit auch Deutschland
- sowie US-Militärs weiter an der COIN-Strategie fest. Maßgebliche Kräfte im
Weißen Haus bereiteten aber den Übergang zu einer Anti-Terror-Strategie (»CT« - Counterterrorism) vor.
Hintergrund sei, daß COIN schlicht nicht funktioniere. COIN zielt darauf ab,
zunächst Aufständische aus dem Kriegsgebiet zu vertreiben, anschließend
zuverlässige Kontrollmechanismen zu errichten und unmittelbar mit dem Aufbau
staatlicher Strukturen zu beginnen [clear, hold and build]. Die Strategie
beruhe »auf
der Annahme«, erläutert die SWP [1], »daß die Fortschritte in den einzelnen Bereichen -
militärische Schwächung der Aufstandsbewegung, bessere Regierungsleistungen und
größere politische Legitimität, wirtschaftlicher Aufbau, pakistanische
Kooperation - sich gegenseitig verstärken«. Um Erfolge zu erreichen, müßten
alle Elemente gleichermaßen verwirklicht werden, »wider alle Wahrscheinlichkeit«,
heißt es mit Blick auf die reale Situation in Afghanistan. Experten im Weißen
Haus hätten deshalb schon 2009, als COIN offiziell gestartet wurde, vor der
Strategie gewarnt. Das Counterinsurgency-Konzept, das auch von der Bundeswehr
und von vielen deutschen Medien nach wie vor gelobt wird, beurteilten Fachleute
der SWP zufolge bereits damals als »Glücksspiel«.
Erinnerungen an
Vietnam
Die SWP
nennt konkrete Kritikpunkte, die in Washington diskutiert werden. Demnach sei
es zwar gelungen, mit der zusätzlichen Entsendung Zehntausender Soldaten und
vor allem mit zahlreichen »Spezialoperationen zur Ausschaltung der Taliban« die
Sicherheitslage an den Einsatzorten der westlichen Streitkräfte zu verbessern.
Allerdings werde der Fortschritt, den man in öffentlichen Stellungnahmen stets
preise, in internen Berichten weithin als »fragil und umkehrbar« beschrieben.
Hintergrund seien die höchst mangelhaften Leistungen beim Aufbau staatlicher
und ökonomischer Strukturen. Über den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses
im US-Senat, John Kerry, wird berichtet, er hege massive »Zweifel an einer
Counterinsurgency-Politik, deren fragwürdige Annahmen und Aussichten bei ihm
allzu deutlich die Erinnerung an Vietnam wecken, als die USA vergeblich ein
diskreditiertes korruptes Regime stützten«.[2] Das Ansehen des Karzai-Regimes
ist in Afghanistan kaum besser. Angesichts ausbleibender Fortschritte
politischer und wirtschaftlicher Art untermauerten Militärs ihre positivere
Einschätzung von COIN »mit der schon routinemäßigen Bekanntgabe der Zahl getöteter und
gefangen genommener Taliban«, berichtet die SWP - »eine Art ›body count‹, die bei manchen ebenfalls »die Erinnerung an Vietnam« wecke.
Kill or capture
Der Autor
der SWP-Analyse geht davon aus, daß in Washington ein Strategiewechsel
bevorstehe, von COIN zu CT. Dies belege der beginnende westliche
Truppenrückzug, der nicht mehr genügend Spielraum für personalintensive
COIN-Maßnahmen lasse. Ursache ist dem Autor zufolge vor allem ›Kriegsmüdigkeit‹ in den Vereinigten Staaten. Der Krieg koste immense
Summen - pro Soldat und Jahr angeblich 1 Million US-$, im US-Etat seien für
2011 alles in allem 113 Milliarden US-$ für die Militäroperationen am
Hindukusch eingestellt. Washington sei auch mit Blick auf die aktuellen Krisen
nicht bereit, dauerhaft diese Beträge zu zahlen. Wie es in der SWP-Analyse
heißt, bemühe sich Washington gegenwärtig um Verhandlungen mit den Taliban, um
- den zur Zeit mit COIN erzeugten Druck nutzend - aus einer Position der Stärke
heraus bestmögliche Resultate zu erreichen. Auch habe man mit demselben Ziel
das ›targeting‹ (›kill or capture‹) ausgeweitet, um den Druck auf die
Taliban noch weiter zu erhöhen.[3] ›Kill
or capture‹ bedeutet das Abarbeiten
von Listen, die Aufständische verzeichnen und ihre Namen mit einem
Hinweis versehen, ob sie nur gefangengenommen oder unter Umständen auch getötet
werden sollen. In diese Listen fließen auch Informationen deutscher
Militärs ein; die Bundeswehr stellt die unbewiesene Behauptung auf, deutsche
Soldaten seien ausschließlich in Aktionen zur Gefangennahme involviert.
Tatsächlich kam es im Mai zu Massenprotesten im deutschen Besatzungsgebiet, bei
denen zahlreiche Demonstranten erschossen wurden. Die Proteste hatten sich
gegen eine mutmaßliche ›kill or
capture‹ Aktion gerichtet. [4]
Die letzte Hoffnung
Über den
erwarteten Wechsel zu einer Counterterrorism-Strategie schreibt die SWP, die
westlichen Truppen würden sich künftig wohl noch stärker auf ›kill or capture‹-targeting konzentrieren. Dabei gehe es nicht mehr darum, die »strukturellen Bedingungen« zu verändern, »die den Aufstand nähren«. Ziel werde es nur noch sein,
diejenigen terroristischen Strukturen zu zerschlagen, die sich gegen den Westen
wendeten. »Das ›gezielte Töten‹ in großem Stil«, urteilt die SWP, »ist, so scheint es, zur letzten Hoffnung in
Afghanistan geworden.« [5] Der Westen werde langfristig »beträchtliche Teile des afghanischen Territoriums« der »Kontrolle durch die Aufständischen
überlassen« und sich nur
noch auf wenigen Stützpunkten im Norden, Osten und Süden des Landes festsetzen.
Für die Umsetzung der Counterterrorism-Strategie (CT) genügten laut Auffassung
von Fachleuten 13.000 Militärs vollauf. In diesem Rahmen würden die USA
vermutlich auf Dauer in Afghanistan präsent bleiben.
Ein wertloses Stück
Dreck
Die SWP
gibt sich bezüglich der Erfolgsaussichten von CT recht skeptisch. Man wisse,
heißt es in der Analyse, daß »unter den Bedingungen der paschtunischen
Stammesgesellschaft und des traditionellen Moralkodex« das »intensivierte Tötungsprogramm« aller Voraussicht nach »geradezu eine mobilisierende,
sprich rekrutierungsfördernde und damit gewaltsteigernde Wirkung entfalten« werde. [6] Schon jetzt zeige sich,
daß trotz - oder wegen - zahlreicher ›Erfolgsmeldungen‹ über ›targeted killing‹ die
Zahl der Aufständischen keineswegs abnehme. Ob dies die
Counterterrorism-Strategen beeinflußt, das muß zumindest als unklar gelten.
Bereits vor zwei Jahren hatte ein CT-Hardliner die zukünftigen Operationen
folgendermaßen beschrieben: »Anstatt zu versuchen, die Regierungsgewalt zu fördern,
konzentriert euch darauf, die Provinzen für die extremsten Kräfte unter den
Taliban unregierbar zu machen. Laßt Afghanistan weiter zerfallen, wenn das sein
Schicksal ist. Wir sollten
ausschließlich darauf zielen, den Feind zu vernichten.« Der Mann hatte seine Erwägungen,
die in einer renommierten US-Militärzeitschrift publiziert wurden, mit der
Aussage eingeleitet: »Afghanistan ist nur ein wertloses Stück Dreck.« [7]
Nachsorgeelemente
Unklar
ist, welche Rolle die Bundeswehr zukünftig in Afghanistan spielen wird. Der
SWP-Autor gibt seine Skepsis gegenüber CT und dem ›targeted killing‹ deutlich
zu erkennen. Letzten Sommer hat
sich der
damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zu der Frage
geäußert, ob nach dem Abzug der regulären Truppen der Krieg in Afghanistan
beendet sei. Man müsse durchaus über ›Nachsorgeelemente‹ diskutieren, erklärte Guttenberg: »Wesentlich« sei, daß von Afghanistan »keine Gefährdung der
internationalen Gemeinschaft mehr ausgehe«. Von ›Traumbildern‹ hingegen müsse man Abschied nehmen.
Afghanistan werde sich gewiß »nie nach unseren Maßstäben absolut stabilisieren lassen«. Man müsse daher ›Terrorelementen‹, die sich einen ›ständigen
Rückzugsort‹ am Hindukusch schüfen, »begegnen«. Dafür sei eine »internationale Koordination des
Einsatzes von Nachrichtendiensten und Spezialkräften« erforderlich. [8] Guttenbergs
Szenario ist mit den US-Plänen für eine Counterterrorism-Strategie kompatibel.
Quelle: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58159 28.09.2011
KABUL/WASHINGTON/BERLIN Eigener
Bericht
[1], [2], [3] Peter Rudolf: Kriegsmüdigkeit und
Strategiewandel in der amerikanischen Afghanistanpolitik; SWP-Aktuell 43,
September 2011
[4] s. dazu Eskalation nicht ausgeschlossen
[5], [6] Peter Rudolf: Kriegsmüdigkeit
und Strategiewandel in der amerikanischen Afghanistanpolitik; SWP-Aktuell 43,
September 2011
[7] Ralph Peters: Trapping Ourselves in
Afghanistan and Losing Focus on the Essential Mission; Joint Force Quarterly
3/2009. S. auch Killerteams
[8] s. dazu Nachsorgeelemente
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