Die Malwinen sind argentinisch - Ein (neo)kolonialistisches Lehrstück - Von Wolf Gauer 15.04.2012 22:50
Vor dreißig Jahren begann der Falklandkrieg. Ich erinnere mich sehr genau: 4. Mai 1982.
Ich saß
gegen Abend vor meinem Kurzwellen-Empfänger und hörte Radio BBC. Sondermeldung:
»Ihrer
Majestät Schiff Sheffield ging ..... «, der Sprecher verhielt und
schluckte hörbar, »heute verloren«. Es war auf einmal Krieg in unserem Südamerika, zum
ersten Mal seit 50 Jahren. Kein jahrelanger blutiger Hahnenkampf um fiktive
Erdölfelder zwischen etwa gleichstarken Nachbarn wie im längst vergessenen
Chaco-Krieg zwischen Paraguay und Bolivien (1932-1935), sondern eine völlig
unerwartete, anachronistische Keilerei. Auf der einen Seite die auf
NATO-Standard getrimmte, US-gestützte Nuklearmacht Großbritannien, auf der
anderen die uniformierten Schnurrbärte der damaligen Militärdiktatur
Argentinien. Ein kurzer ungleicher Kampf um Restposten britischen
Überseebesitzes, nach Lesart der Sieger vom 2. April bis 14. Juni 1982. Er
kostete 910 Menschenleben und jährt sich nun zum 30. Mal. Es ging um drei
Inselgruppen im Südatlantik: um die Südgeorgien-Insel (South Georgia Island),
die Südlichen Sandwichinseln (South Sandwich Islands) und um die Malwinen
(Falkland Islands), letztere rund 400 km querab Feuerland (Argentinien). Alle
in britischem Besitz nach kolonialistischer, also eigenmächtiger Aneignung im
19. Jahrhundert und von den Malwinen aus verwaltet. Nur auf diesen lebt eine
bodenständige Bevölkerung von 3100 Menschen. Seit dem 17. Jahrhundert sind die
Malwinen den europäischen Mächten bekannt (Amerigo Vespucci, Fernão Magalhães
und andere sollen sie schon vorher gesichtet haben). Alle, an erster Stelle die
Briten, betrachten sich als ihre Entdecker. Viele Korsaren, Walfänger und
Kauffahrer hatten ja schon mal bei schwerem Wetter oder aus Raubgier in den
kalten verregneten Buchten geankert, um jedoch baldmöglichst wieder zu
verschwinden.
Nach dem
verlorenen Siebenjährigen Krieg (1756-1763) beabsichtigte Frankreich, aus Kanada
vertriebene Landsleute auf den Malwinen unterzubringen. Paris erfaßte den
strategischen Wert eines eigenen, insularen Stützpunktes auf dem vielbefahrenen
Seeweg zum Pazifik und den Wal- und Robbengründen des Südatlantiks. Der
französische Weltumsegler Louis-Antoine de Bougainville gründete deshalb die
Compagnie Saint-Malo, die 1764 erste 27 Franzosen anlieferte, die Inseln für
Frankreich reklamierte, diese aber schon drei Jahre später, und nach
beiderseitiger Übereinkunft, an Spanien abtrat. Frankreich akzeptierte die
augenfällige Zugehörigkeit der Inseln zum nahen, damals noch spanischen
Kontinent. Dem Heimathafen der Franzosen, Saint-Malo, entstammt übrigens der
Name Îles Malouines, den die folgende spanische Herrschaft als Islas Malvinas
weiterführte. Erst 1828 gelang dem Festland ›gegenüber‹, dem seit
1816 von Spanien unabhängigen ›Vizekönigreich
des Rio de la Plata‹ - späterhin
Argentinien - ein bleibendes Besiedlungsunternehmen. Parlamentarisch
abgesegnet, bürokratisch verbrieft und damit grundverschieden von der damals
üblichen kolonialistischen Landnahme vom Typ Anlanden: »Ich
nehme in Besitz-Rufen, Fahne aufziehen, dreimal Bumm-Bumm und Ablegen«.
Der
rührige Hamburger Hugenotte Louis Vernet, in jenen Tagen Unternehmer und Bürger
von Buenos Aires, erhielt zur Erschließung und Nutzung der Malwinen eine
argentinische Vollmacht, die er unter legendären Strapazen zustande brachte. Er
schaffte Rinder und Schafe auf die Inseln, vor allem aber abgehärtete Gauchos,
denen zuweilen die Pferde unterm Sattel erfroren. 1829 wurde Vernet zum
Gouverneur der Malwinen ernannt. Und 1833, als er gerade mal in Buenos Aires zu
tun hatte, erklärte sich die Regierung Seiner britischen Majestät Williams IV
ganz nonchalant zum Besitzer der Eilande und der dort geschaffenen Infrastruktur.
Es trafen schottische und englische Einwanderer ein, auch einige Deutsche und
Skandinavier. Die französischen und hispanischen Anwohner machten ab 1860
gerade noch 30 % aus und vermischten sich allmählich mit den Neuankömmlingen. Buenos
Aires protestierte gegenüber der unbestrittenen Weltmacht des 19. Jahrhunderts.
Und es ist seither in Argentinien immer bei Protesten und jener etwas
kopflosen, ohnmächtigen Erbitterung geblieben, die auch der Kriegsführung des Landes von 1982 und der gegenwärtigen
Haltung gegenüber England anzumerken ist. Im kleinsten argentinischen Weiler
verkünden große Tafeln, was alle längst wissen: Las Malvinas son argentinas, die
Malwinen sind argentinisch. Ebenso wie der Affenfelsen von Gibraltar gelten die
Malwinen bis dato als britisches Überseegebiet. Die Regierung Cameron lehnt
jede Verhandlung über die argentinischen Ansprüche ab, solange die
ortsansässige Bevölkerung nicht gegen ihre Zugehörigkeit zum Vereinigten
Königreich votiert. Und das wird sie nicht; Cameron weiß es. Die Falkländer
stammen aus Nordengland und Schottland; nichts verbindet sie mit der
lateinamerikanischen Kultur des Festlands. Ihre Nationalhymne ist ›God save the Queen ‹. Auch die ultra-liberalistische britische Regierungschefin
Margret Thatcher (Amtszeit: 1979-1990) wußte das. Sie hatte um 1981 die soziale
Demontage und die Privatisierung des britischen Volkseigentums soweit
getrieben, daß sie ihre Wiederwahl davonschwimmen sah [Zustimmungsrate 28 %,
Arbeitslosigkeit über 13 %]. Ein medienwirksames, möglichst patriotisches
Ereignis mußte her und hochgespielt werden: die spektakuläre, kompromißlose
Verteidigung der Falkländer gegen böse argentinische Begehrlichkeiten.
Ein sehr
opportuner, nie völlig geklärter Zufall kam ihr da gerade recht. Die sogenannte
Davidoff-Affäre vom 19. März 1982 – für Buenos Aires der eigentliche
Kriegsbeginn. Der argentinische Schrotthändler Davidoff hatte 41 Arbeiter auf
der Südgeorgieninsel angelandet und dies im Einvernehmen mit der britischen Botschaft
in Buenos Aires. Alte verfallene Walfangbasen sollten abgebaut werden.
Angeblich wurde dabei ein Frachter der argentinischen Marine benutzt und die
blauweiße argentinische Fahne gehißt, was einerseits zum angestauten
argentinischen Ingrimm passen würde, andererseits als Invasion britischen
Territoriums hingestellt werden konnte. Eine erste Konfrontation von
Hubschraubern und die (irrtümliche) BBC-Nachricht vom Auslaufen englischer
Nuklear-U-Boote aus Gibraltar brachten die ohnehin gereizten Gemüter der Junta
in Buenos Aires zum Kochen. Wie in Uruguay, Chile und Brasilien regte sich
nämlich auch in Argentinien zunehmender Widerstand gegen den beispiellosen
Staatsterror der Militärregierung, der mindestens 30 000 Menschenleben
gefordert hatte. Auch hier mußte nun patriotischer Aktivismus her. Konzeptlos
und bar jeder politischen Perspektive sandten die Generäle U-Boote und ein paar
Landungstruppen nach Südgeorgia. Und am 2. April besetzten sie die Malwinen.
Thatcher
hatte ihren casus belli, gewann ihren Krieg dank US-amerikanischer Aufklärungs-
und Spionageassistenz mit Ach und Krach und wurde 1983 wiedergewählt – zum
Preis von 258 britischen, 3 falkländischen und 649 argentinischen Toten
nebst 1,19 Milliarden $ Kriegskosten allein auf britischer Seite. Die hohe
argentinische Verlustrate ist Resultat der Torpedierung des Kreuzers General
Belgrano (Bj.1946), der mit 323 Mann unterging. Er wurde übrigens außerhalb der
von der englischen Admiralität festgelegten Konfliktzone angegriffen und
versenkt – right or wrong, my country ….. es geht um mein Land. Und der Krieg
tat Thatcher einen weiteren Gefallen. Er übertünchte einen Skandal von seltener
Güte: Verschwiegen und vergessen ist nämlich, daß
die ›eiserne Lady‹ noch 1980 entschlossen war, die
kostspieligen malwinischen Untertanen ihrer Majestät der weltweit verhaßten argentinischen Junta zu überlassen. Nicholas
Ridley, der neoliberale Commonwealth-Minister sollte Thatchers Plan den Falkländern
mundgerecht machen: die Inseln unter argentinische Souveränität mit anfangs
noch englischer Verwaltung zu stellen, die aber späterhin ganz von Buenos Aires
übernommen werden sollte. Thatcher erhoffte sich dabei sogar eine Entschädigung
von Argentinien – psychologisch gesehen so daneben wie finanziell
unrealistisch. Die Insulaner waren empört, die Argentinier beleidigt. Die einen
wollten sich nicht verkaufen lassen, die anderen nicht kaufen, was ihnen
ohnehin gehört.
Vergeben, aber seitens der Falkländernicht
vergessen Sie leben
weiterhin hauptsächlich von Schafzucht, Fischerei und der finanziellen und
technischen Unterstützung durch das Mutterland [etwa 500 Mio. £ pro Jahr
einschl. Militärausgaben]. Dazu gehört z.B. auch der kostenlose Transport zur
Blinddarmoperation im fernen Chile. Die ›Kelpers‹ [in Anspielung auf ›kelp‹, den wuchernden Seetang vor ihrer Küste] teilen heute ihr ehemals
beschauliches Dasein mit etwa 2000 Soldaten der nunmehrigen Festung Falkland.
Mit gemischten Gefühlen. Sie sind zwar britische Untertanen, fühlen sich aber
weder als Briten noch als Europäer. Der
Krieg und die Kriegsfolgen haben ihnen den enormen Unterschied zu England
deutlich gemacht, die langjährige demographische, wirtschaftliche und soziale
Stagnation und den unübersehbaren Reformbedarf. Andererseits sehen sich die
Falkländer optimistisch als zukünftige Nutznießer ihrer natürlichen Ressourcen.
Die Ölvorräte vor ihrer Küste werden auf 40 Mrd. Barrel geschätzt;
anglo-amerikanische Firmen (Desire Petroleum, Falkland Oil and Gas, Rockhopper,
Borders & Southern) sind schon am Bohren. Neue, anspruchsvollere
Arbeitsplätze entstehen; die Beziehungen zur nördlichen Halbkugel sind
intensiver als je zuvor. Die separatistischen Töne aus Schottland und Wales
haben erste Überlegungen zu einem eigenständigen Status der Inseln
beschleunigt. Schon 1989 konzedierte London eine neue Falkland-Verfassung mit
einer achtköpfigen gesetzgebenden Versammlung, die zwar zusammen mit dem
britischen Gouverneur regiert, die aber – und da ist die City vor – nicht
über Steuern und Finanzen bestimmen darf. Mike Summers, hochdekoriertes
Ratsmitglied, faßt dies wie folgt zusammen: »Auf Falkland existiert eine Dynamik hin zur eigenen
nationalen Identität. Sie stützt sich auf eine Verständigung mit Argentinien
(...) Wir sind ein Volk, genau wie Argentinien, Uruguay, Brasilien und Chile und
andere Nationen, die von europäischen oder afrikanischen Einwanderern abstammen.« Die
britische Tageszeitung The Guardian
konstatiert ebenfalls eine »Ethnogenese, die keineswegs anders ist als die anderer
typischer Einwanderungsländer – Amerikas, Australiens oder Neuseelands,
faktisch nicht verschieden von den benachbarten südamerikanischen Nationen.«
Wie soll es
weitergehen, wen kümmern die Menschen auf den Malwinen wirklich?
Für
Premierminister Cameron sind sie eben nur Bauern im geostrategischen Schach.
Zynisch wirft er ausgerechnet Argentinien ›Kolonialismus‹ vor (18. Januar 2012). Er lehnt die
wiederholte Aufforderung der UNO zu Verhandlungen ab und militarisiert die
Region provokant mittels Entsendung
eines Zerstörers, dessen Raketenbestückung laut offizieller Presseerklärung »alle
südamerikanischen Luftstreitkräfte vernichten« kann, eines Atom-U-Boots mit
Nuklearwaffen und eines prinzlichen Piloten aus dem stets kooperativen Hause
Windsor. Die Kommunistische Partei Argentiniens erkennt darin den Versuch
Großbritanniens und der NATO, eine Militärbasis zu etablieren, die ihrem
expansiven aggressiven Kurs im Mittleren Osten und gegenüber Rußland entspricht. Und dies ungeachtet der Tatsache,
daß sich die 33 Mitgliedsstaaten der ›Gemeinschaft Lateinamerikanischer und
Karibischer Staaten‹ (CELAC) im
Dezember 2011 für Argentiniens Souveränität über die Inseln ausgesprochen
haben. Fidel Castro Ruz bestätigte am 12. Februar dem Vereinigten Königreich
nüchtern und sachlich: »Es gibt keine andere Option als den Rückzug von den
Malwinen«
und »der
chilenische Diktator Pinochet, der den Engländern im Krieg gegen Argentinien
geholfen habe, ist nicht mehr da«. Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández
de Kirchner hat mittlerweile das Landeverbot für Flüge von und nach den
Malwinen gemildert, und britische Schiffe dürfen in den argentinischen Häfen
wieder anlegen. Argentinische Intellektuelle bemühen sich um Verständnis für
die Lage der malwinischen Bevölkerung. Ein erster Falkländer, der Maler James
Peck, ist nach Argentinien umgezogen, erhielt einen Ausweis und erklärte, »ich
bleibe.«
Selbst die
USA stellt sich überraschenderweise hinter Argentiniens Forderung nach Verhandlungen.
Im Juni 2011 unterzeichnete sie zusammen mit den sozialistischen, antiamerikanischen
Präsidenten Hugo Chávez Frias (Venezuela) und Daniel
Ortega Saavedra (Nicaragua) eine Erklärung der (US-hörigen) ›Organisation Amerikanischer Staaten‹ (OAS) zugunsten der argentinischen
Position. Davon ist allerdings nicht viel zu halten, denn das anglo-amerikanische
Gespann ist sich über seine wirklichen weltweiten Ziele einig. Und zu diesen
gehört die Antarktis, die nicht nur von Australien und Neuseeland, sondern auch
von den Malwinen, von der Südgeorgia Insel und den Südlichen Sandwichinseln aus
bestens kontrolliert werden kann. Der internationale Antarktisvertrag zwischen
12 Nationen (1959) und seine vier Folgeabkommen sehen für die Antarktis eine
ausschließlich friedliche, wissenschaftliche und umweltschonende Nutzung vor.
Eine 1989 angestrebte Einigung über die Bodenschätze der Region kam aber nicht
zustande. Zwanzig Nationen forschen heute in 90 Antarktisstationen mit mehr
oder weniger wissenschaftlichen Absichten. Darunter die südamerikanischen
Nachbarn, auch die BRD und Indien. Die Volksrepublik China unterhält drei
Stationen, darunter eine der wenigen im Zentrum des Kontinents, Kunlun, auf
4087 m Höhe. Man rechnet mit etwa 6 Mrd. Tonnen Erdöl und 115 Billionen
Kubikmeter Gas – etwa die Hälfte der noch nicht erschlossenen Reserven der
Erde. Weiterhin mit Uran, Kohle, Kupfer, Chrom, Titan, Platin und Gold. 2007
erneuerte Großbritannien seine uralten Gebietsansprüche von 1908 auf dem
antarktischen Kontinent und dessen Schelfbereich. Es geht um eine Million
Quadratkilometer, einschließlich der Südgeorgien- und Südlichen Sandwichinseln
– und der Malwinen. ›Eiskalter
Imperialismus‹, urteilte da selbst
die englische Presse.
2011 - ein gutes Jahr
für Lateinamerika?
Verließe
man sich allein auf die häufig zitierte, privatrechtliche Datenbank
Latinobarómetro, eine in Chile ansässige Nichtregierungsorganisation, die von
der EU, den USA und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID)
mitfinanziert wird, so wäre ein naives Ja angebracht. Sie konstatiert in 18 der
20 lateinamerikanischen Staaten wachsende Ansprüche der Bürger an ihre
Regierungen, auch zunehmende Bildung, mehr Selbstbewußtsein
und Gesetzestreue. Und zur Freude ihrer Auftraggeber: Für 56 % der Befragten
sei die Marktwirtschaft der einzige Weg zur Entwicklung. In Brasilien glaubten
dies sogar 58 %, auch seien die Brasilianer in puncto Wirtschaft am
optimistischsten und als einzige dazu bereit, »mehr ihren Pflichten nachzukommen
als ihre Rechte einzufordern.« Für Kenner brasilianischer Verhältnisse eine
groteske Verdrehung. Ich erinnere an den nachhaltigen Widerstand der
Zivilgesellschaft gegen umweltgefährdende Staudammprojekte wie Belo Monte oder
Santo Antonio und Jirau, an ihr Eintreten für die Rechte der Indigenen und für
den Einschluß ziviler Repräsentanz in
sozialpolitische Entscheidungsprozesse, die nach wie vor zentralistisch
dirigiert werden. Noch ungenierter
urteilt die OECD, die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (der reichen, die Globalisierung forcierenden Nationen). Nach
Bilderberger-Art warnt sie in ihrer Perspektivstudie für 2012 vor einem weiteren
Zuwachs der Mittelschicht in den Entwicklungsländern, der »soziale
Forderungen vermehren und neue Spannungen, die die Regierungen zu bewältigen
hätten, erzeugen würde.« Denn »die Mittelschicht der aufsteigenden Länder wünscht
die Teilhabe an den Früchten des Wirtschaftswachstums der letzten Jahre« (sic). Die OECD klassifiziert als Mittelschicht jene
zwei Milliarden Menschen, die täglich zwischen 10 und 100 US$ verdienen. Eine
Milliarde davon lebt in den Entwicklungsländern. Bis 2030, droht die Studie, werden
es 3 Milliarden sein, und der »arabische Frühling zeigt, daß
die Forderungen der Bürger, die einen auf Einschluß
bedachten politischen Prozeß wollen, beachtet
werden müssen.« Was sich diese Bürger nicht alles einfallen lassen….. Die
UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Kariben (CEPAL), wägt
differenzierter: Lediglich in Brasilien, Argentinien, Bolivien und Venezuela
sei die soziale Ungleichheit und Armut vermindert worden. Ausgerechnet dort, wo das
Verhältnis zur USA und EU sensibel bzw. mehr als gespannt ist. Denn
Ungleichheit und Armut, so die Leiterin der CEPAL-Exekutive, Alicia Bárcena
Ibarra, hingen direkt von »aktiver Sozialpolitik ab, z.B. von einem Mindestlohn, von
der Schaffung von Arbeitsplätzen und Investitionen.« Während
der Amtszeit des indigenen sozialistischen Präsidenten Evo Morales Ayma (seit
1995) habe sich die Armutsquote Boliviens von 60 % auf 49 % reduziert, der
Anteil der ›extremen Armut‹ von 34 auf 23,4 %. »Wir
müssen (auf Bolivien) hören und (von dort) lernen, denn dieses Land hat einen für unsere Region
wichtigen Weg beschritten, einen einzigartigen.« Ein Weg, sei angemerkt, der von Seiten
der USA und unter Mithilfe von Angela Merkel, Dirk Niebel und ihren Parteistiftungen
nach
Kräften vermint wird. Dennoch ist Boliviens auswärtige Verschuldung mit
nur 14 % des Bruttosozialprodukts auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren. Zugleich,
so Ibarra, habe Boliviens »makroökonomische Politik ein jährliches Wachstum von 5,2 %
ermöglicht, während die entwickelten Volkswirtschaften auf kaum einen
Prozentpunkt kommen.«
Lateinamerika
zieht Investoren an, auch aus Europa und der USA. Brasilien zum Beispiel
registrierte allein im Jahr 2011 ausländische Direktinvestitionen von rund 60
Mrd. US$, fast ein Zehntel der 660 Milliarden, die von 1947 bis Ende 2010 ins
Land kamen. Wie werden diese Gelder angelegt? Laut Banco Central zu rund 17 %
im Bereich der Banken und Finanzdienstleistungen, zu 9 % in der
Getränkeindustrie und Übernahme von Mineralquellen (im Gegensatz zu Venezuela
und Bolivien gibt es in Brasilien keinen verfassungsmäßigen Schutz vor privater
Vermarktung der Süßwasserreserven, die etwa 12 % des Planeten ausmachen),
weitere 8,5 % in der Ausbeutung der Öl- und Erdgasvorkommen (laut Agência
Nacional de Petróleo: 28 Mrd. barrels, bzw. 824 Mrd. Kubikmeter) und 7 % im
privatisierten Kommunikationswesen. Vereinfacht: Investitionen, die auf
Abschöpfung von Zinsen, Geld- und Währungsgeschäften abzielen, auf natürliche
Ressourcen und auf vormals staatliche und kommunale Dienstleister. Nicht
aber auf eine langfristige, wert- und strukturschaffende
Industrieproduktion. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt machte 1984 noch 27 % aus, im Jahr 2010 nur 15,5 % (DIEESE). Noch
können die internationale Nachfrage nach brasilianischen commodities (Soja,
Zucker, Fleisch, Kaffee, Ethanol und Rohstoffe) und der Bedarf an internen
Dienstleistungen das Schwächeln der Industrieproduktion ausgleichen. Ihr Ausbau
aber, ihre Konkurrenzfähigkeit und die nötigen Voraussetzungen in Bildung und
Forschung interessieren die momentanen sozialdemokratischen Entscheidungsträger
so wenig wie die internationalen Anleger, am allerwenigsten die
US-amerikanischen. Für God's own country hat Lateinamerika wie eh und je
Rohstoffe zu liefern und Fertigprodukte zu konsumieren. Die traditionellen imperialistischen
Instrumente zur ›strukturellen
Anpassung‹ Lateinamerikas, nämlich
der internationale Währungsfonds, die Weltbank, die Welthandelsorganisation
(WTO) und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), sind jedoch längst
entlarvt und überholt. Das Jahr 2011 machte China zum größten Handelspartner
Brasiliens (31 Mrd. US$), zum zweitgrößten Venezuelas (28 Mrd.US$) und
Argentiniens. Die chinesische Partnerschaft erlaubte auch Bolivien, Nicaragua,
Ecuador und Uruguay mehr Distanz zur USA. Dabei halfen klare nationale
Wahlergebnisse und neue gemeinsame Perspektiven. Der venezolanische Präsident
Hugo Chávez Frias, unbeirrter Vorarbeiter der lateinamerikanischen Integration
- die US-Medien setzen auf sein Krebsleiden - brachte am 2. und 3. Dezember zum
ersten, auch in Europa weitgehend registrierten Gipfeltreffen der Gemeinschaft
Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) 33 amerikanische Nationen
an einen Tisch. Ohne die USA und Kanada und zum Nachteil von deren
neokolonialistischen Freihandelskonstrukten NAFTA und ALCA. »Latin
America in Revolution« titelte Eva Golinger, die wohl kompetenteste Chronistin
lateinamerikanischer Befreiungsschritte, in Global
Research, und »Latin America no longer for sale« die ›New
Yorker Venezuela Analysis‹. Das
neue Plenum baut auf der 2004 von Kuba und Venezuela begründeten erfolgreichen ›Bolivarischen Allianz der Völker
unseres Amerikas‹ (ALBA) auf und
schließt die bestehenden regionalen politischen und wirtschaftlichen Integrationsmechanismen
ein, z.B. die ›Union
südamerikanischer Nationen‹ (UNASUR)
und die Entwicklungsbank des Südens ›Banco
del Sur‹. Kubas
Staatsratvorsitzender Raul Castro Ruz faßt
dies wie folgt zusammen: »Es wäre ein ernster Fehler, nicht zur Kenntnis zu nehmen,
daß sich Lateinamerika und die Kariben
geändert haben und daß wir nicht mehr so
behandelt werden können wie in der Vergangenheit. Wir mußten hart arbeiten, um gegen die Bürde des Kolonialismus und
Neokolonialismus anzukämpfen, und man kann sich auf eine feste regionale
Entschlossenheit einstellen, wenn es darum geht, die Unabhängigkeit zu
verteidigen, die wir erreicht haben.« Unterdessen besetzten US-Bürger
Wall Street und öffentliche Plätze in mehreren hundert Städten. Und ihre
Regierung verlängerte den Grenzzaun zu Mexiko selbst unter Wasser……. Ein schlechtes Jahr für die USA. [2]
Quellen: http://seniora.org/index.php?option=com_content&task=view&id=797&Itemid=59
sowie http://seniora.org/index.php?option=com_content&task=view&id=776&Itemid=58 Mit
freundlicher Erlaubnis der Zeitschrift
Ossietzky für Politik
Kultur und Wirtschaft
Wolf
Gauer, Filmemacher und Journalist, lebt seit 1974 in São Paulo. Er schreibt für
Ossietzky und andere deutschsprachige
Periodika
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