Die Krim

»Seit dem Untergang der Sowjetunion«, legt Orlando Figes, Professor für russische Geschichte

am Kirkbeck College an der University of London dar, »ist die Tatsache, daß die Krim zur Ukraine gehört, in den Beziehungen zwischen der Ukraine und Rußland ein großes Problem und für viele Russen auf der Krim und außerhalb ein Ärgernis. Daß sich Moskaus Augenmerk nach der Revolution in der Ukraine vor allem auf die Halbinsel Krim richten würde, konnte niemanden überraschen. Sie ist die einzige Region der Ukraine mit einer klaren russischen Mehrheit.«  [1]

Wladimir I., Großfürst von Kiew, ließ sich 988 in Chersones, der antiken hellenischen Stadt bei Sewastopol, taufen und gab damit den Anstoß zur Christianisierung der Kiewer Rus, jenes Reichs, von dem Rußland seine religiöse und nationale Identität herleitet. Die Krim, die über 500 Jahre lang von Türken und tatarischen Stämmen beherrscht worden war, wurde 1783 von Rußland annektiert. Hier verlief die für das Zarenreich so wichtige Scheidelinie zwischen Rußland und der muslimischen Welt. Die tatarische Bevölkerung wurde allmählich verdrängt und durch russische Siedler und andere orthodoxe Christen ersetzt: Griechen, Armenier, Bulgaren und neue Städte wie Sewastopol errichtet. Russische Kirchen ersetzten Moscheen. Die Entdeckung von christliches archäologische Zeugnissen, byzantinische Ruinen, Höhlenkirchen und Klöstern führte dazu, daß die Krim zu einem heiligen Ort erklärt wurde, zur Wiege des russischen Christentums. Im 19. Jahrhundert war die Schwarzmeerflotte der Angelpunkt der imperialen russischen Macht. Von Sewastopol aus kontrollierte Rußland das gesamte Schwarze Meer, den Kaukasus eingeschlossen, ferner den Bosporus und die Dardanellen und damit den Zugang zum Mittelmeer, wodurch Großbritannien seine Interessen im Nahen Osten (den Verbindungsweg nach Indien) bedroht sah. Nach der Niederwerfung des polnischen Aufstands 1830 und der ungarischen Revolution 1848 durch zaristische Truppen breitete sich in Europa eine große Russophobie aus. In der britischen Presse erschienen Forderungen, den Russen einen Denkzettel zu erteilen, während  Napoleon III. auf eine Revanche für die Niederlage Napoleons I. vor Moskau sann.

Der Krimkrieg von 1853 bis 1856 ging von Nikolaus I., aus, der die türkischen Protektorate Walachei und Moldau besetzt hatte; darüber hinaus war er mit Frankreich in einen komplizierten Disput über den Zugang zu den christlichen Stätten im Heiligen Land, das damals zum Ottomanischen Reich gehörte, geraten und hatte sich zum Beschützer der orthodoxen Untertanen des Sultans auf dem Balkan erklärt. Die Briten und Franzosen entsandten darauf hin Truppen zur Krim, die den russischen Flottenstützpunkt zerstören sollten. Es war zunächst ein militärisches Fiasko, bei dem 600 britische Reiter von der russischen Artillerie auf den Höhen von Sewastopol niedergemäht wurden. Während der danach einsetzenden Belagerung hielten die russischen Truppen elf Monate lang durch, jedoch gelang den Franzosen Ende 1855 die Einnahme des innerhalb der Stadtmauern gelegenen Fort Malakow, was dazu führte, daß die Russen die  Stadtfestung sprengten und ihren Rückzug antraten. Durch den in der Folge 1856 geschlossenen  Pariser Frieden wurden die Schwarzmeerhäfen demilitarisiert und Rußland verlor Bessarabien.  

Unter Alexander II. [der von 1855 bis 1881 regierte] setzte die Besiedelung der Krim durch russische Bauern und Händler ein, die dort lebenden Tataren wurden erstmals vertrieben. Während des deutsch-französischen Krieges von 1871 setzte sich Rußland schlicht über die Bestimmungen des Pariser Friedens hinweg, bis die Alliierten eine neue Schwarzmeerflotte billigten. Sewastopol wurde der strategische Vorposten im Südwesten des russischen und später sowjetischen Imperiums. Stalin ließ Stalin große Teil der angeblich nazifreundlichen Krimtataren nach Zentralasien deportieren und rüstete Sewastopol massiv auf. Bis 1954 gehörte die Krim zu Rußland, bis sie am 27. Februar 1954 anläßlich des 300. Jahrestags des Vertrags von 1654, der die Einheit der Ukraine mit Rußland festlegte, von Nikita Chruschtschow der Ukraine zugesprochen wurde. 

Der Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft, in dem die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol geregelt wird, gibt den Russen weitgehende militärische Befugnisse. 2008 wollte die ukrainische Regierung den 2017 auslaufenden Pachtvertrag zunächst nicht verlängern, doch unter dem Druck einer drastischen Gaspreis-Erhöhung lenkte sie ein und verlängerte den Vertrag bis 2042.

Bis jetzt, schreibt Uri Avnery, sind schon unzählige Artikel  über die Krise geschrieben worden. Historische  Assoziationen gibt es en masse. Obwohl Ukraine Grenzland bedeutet, war es oft im Zentrum europäischer Ereignisse. Die Veränderungen in der Geschichte des Landes waren konstant und extrem. In einer Weise ist die Ukraine das Herzland der russischen Kultur, Religion und der Orthographie. Kiew war bei weitem bedeutender als Moskau, bevor dieses zum Mittelpunkt des Moskauer Imperialismus wurde. Während meiner Lebenszeit mordete Stalin Millionen von Ukrainern durch bewußtes Aushungern. Eine Folge davon war, daß die meisten Ukrainer die deutsche Wehrmacht 1941 als Befreier willkommen hießen. Es hätte der Beginn einer wunderbaren Freundschaf sein können, aber leider hatte Hitler vor, die ukrainischen Untermenschen auszurotten, um die Ukraine in den deutschen Lebensraum zu integrieren. Die Krimbevölkerung litt schrecklich. Das tartarische Volk, das die Halbinsel in der Vergangenheit beherrscht hatte, wurde nach Zentralasien deportiert; erst Jahrzehnte später wurde ihm erlaubt, zurückzukehren.  Heute sind sie eine Minderheit, anscheinend unsicher, wo ihre Loyalität liegt. Die Beziehung zwischen der Ukraine und den Juden ist nicht weniger kompliziert. Einige jüdische Schriftsteller wie Arthur Köstler und Schlomo Sand glauben, daß das Khazarenreich, das vor tausend Jahren die Krim und die benachbarten Gebiete  beherrschte, zum Judentum konvertierte, und daß die meisten Aschkenazim von ihnen abstammen. Dies würde uns alle zu Ukrainern machen. [Viele frühe zionistische Führer kamen tatsächlich aus der Ukraine] Als die Ukraine ein Teil des umfangreichen polnischen Reiches war, nahmen viele polnische Adlige dort große Ländereien in Besitz. Sie beschäftigten Juden als ihre Manager. So schauten die ukrainischen Bauern auf die Juden als Agenten ihrer Unterdrücker, und der Antisemitismus wurde zum Teil der nationalen Kultur der Ukraine. Wie wir in der Schule lernten, wurden bei jedem Wandel in der Geschichte der Ukraine Juden ermordet. Die Namen der meisten ukrainischen Volkshelden, Führer und Rebellen, die in ihrer Heimat verehrt wurden, sind im jüdischen Bewußtsein mit schrecklichen Pogromen verbunden. Der Kossake Hetman Bohdan Chmeinytsky, der die Ukraine vom polnischen Joch befreite und von den Ukrainern als Vater der Nation angesehen wird, war einer der schlimmsten Massenmörder in der jüdischen Geschichte. Symon Petliura, der die Ukrainer nach dem 1. Weltkrieg gegen die Bolschewiken anführte, wurde von einem jüdischen Rächer in Paris getötet. Für einige ältere jüdische Immigranten in Israel  war es schwer zu entscheiden, wen sie mehr haßten, die Ukrainer oder die Russen [von den Polen  ganz zu schweigen]. 

Jetzt wollen sich die Ukrainer mit dem Westen verbinden, sich der Unabhängigkeit und der Demokratie erfreuen. Was ist falsch daran? Nichts, außer daß sie zweifelhafte Genossen haben. Neo-Nazis in ihren nachgeahmten Nazi-Uniformen, die mit dem Hitlergruß grüßen und den Mund voll antisemitischer Sprüche haben, sind nicht sehr attraktiv. Die Ermutigung, die sie von westlichen Verbündeten erhalten, einschließlich der abstoßenden Neokonservativen, ist ebenso wenig einladend. Auf der anderen Seite ist Wladimir Putin auch nicht sehr einnehmend. Es ist der alte russische Imperialismus, immer wieder. Der von den Russen benützte Slogan, die Notwendigkeit, die russisch sprechenden Leute im Nachbarland zu schützen, klingt doch unheimlich bekannt. Es ist eine genaue Kopie von Hitlers Behauptung, 1938 die Sudetendeutschen vor dem tschechischen Monster zu schützen. Aber Putin hat einige Logik auf seiner Seite: Sewastopol, das die Belagerungen im Krim-Krieg und im 2. Weltkrieg erlitt, ist wesentlich für seine Marine. Die Verbindung mit der Ukraine ist ein wichtiger Teil des russischen Strebens nach Weltmacht. Als kaltblütiger berechnender Typ, wie er jetzt selten in der Welt vorkommt, benützt Putin die guten Karten, die er hat, ist aber sehr vorsichtig, nicht zu viele Risiken auf sich zu nehmen. Er managt die Krise; scharfsinnig benützt er die offensichtlichen Vorteile Rußlands: Europa benötig sein Öl und Gas, er benötigt Europas Kapital und Handel. Rußland spielt in Syrien und im Iran eine führende Rolle. Die USA steht plötzlich wie ein Zuschauer daneben. Ich vermute, daß es am Ende einen Kompromiß gibt. Rußland will einen Fuß in der kommenden ukrainischen Führung haben.

Beide Seiten werden den Sieg verkünden, und das ist gut so.  [2] 

Einer Meldung von MMnews vom 7. 3. zufolge zensierte der Berliner Tagesspiegel seine eigene online-Umfrage zu dem Thema, wie der Westen mit Russland umgehen sollte. In der Umfrage konnten die Leser abstimmen, wie der Westen gegenüber Russland reagieren sollte. Nach wenigen Stunden hatte eine große Mehrheit dafür votiert, daß der Westen im Umgang mit Rußland heuchlerisch sei; die meisten meinten, daß Moskau legitime Interessen verteidigt. Damit hatten die Macher des Tagesspiegels vermutlich nicht gerechnet; die Umfrage wurde kurzerhand von der website genommen. Eine der Fragen hatte wie folgte gelautet: Bei einer weiteren Eskalation sollte auch eine militärische Intervention durch die NATO nicht ausgeschlossen werden. Dafür votierten lediglich 4 %.  [3]

 

[1]  Orlando Figes Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug, Berlin Verlag, 2010  
[2]  Quelle: Artikel vom 6. 3. 14
Uri Avnery, Gründer der israelischen Friedensbewegung »Gush Schalom« und Aachener Friedenspreisträgers, vertritt seit 1948 die Idee eines israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: Israel und Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Für sein Engagement erhielt der 1923 geborene Avnery viele Auszeichnungen;
2002 wurde er für seine friedensstiftenden Aktivitäten im Nahen Osten mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik der Stadt Oldenburg geehrt

[3]  http://www.mmnews.de/index.php/politik/17339-tagesspiegel-zens