Keine Barfussmedizin für die hochentwickelte Schweiz - von Dr. med. Susanne Lippmann-Rieder und Dr. med. Viviane Kaiser

Unser Hausarztprinzip darf nicht geschmälert werden, daher Nein zur Mogelpackung

»Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung«. In unserem Land sind wir gewohnt, uns mit einem medizinischen Problem vertrauensvoll an die Hausärztin oder den Hausarzt zu wenden. Unsere Hausärzte sind umfassend aus- und weitergebildet und befassen sich sorgfältig mit jeder Fragestellung. Oft besteht ein jahrelanges Vertrauensverhältnis, und der Hausarzt kennt meist die Familie und die persönliche Situation des Patienten. Die über 200.000 Bürger, die die eidgenössische Volksinitiative »Ja zur Hausarztmedizin« unterschrieben haben, waren in berechtigter Sorge, ob es künftig noch genügend Hausärzte geben und ob die gute ärztliche Versorgung auch in Zukunft noch gewährleistet sein wird. Die Bevölkerung will, so lautet auch die eingereichte Initiative, eine »ausreichende, allen zugängliche, fachlich umfassende und qualitativ hochstehende medizinische Versorgung der Bevölkerung durch Fachärztinnen und Fachärzte der Hausarztmedizin«.

Der am 18. Mai 2014 zur Abstimmung stehende direkte Gegenentwurf zur Volksinitiative »Ja zur Hausarztmedizin«, der »Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung«, entspricht in keiner Weise dem ursprünglichen Initiativtext. Die 26 Mitglieder des Inititiativkomitees zogen die Initiative ohne Einbezug der Basis der Haus- und der Kinderärzte nach einem Deal mit Bundesrat Berset zurück. Der Gegenentwurf will die fachlich umfassende medizinische Versorgung durch Fachärzte auf eine sogenannt »ausreichende medizinische Grundversorgung« herunterfahren. Der Begriff »medizinische Grundversorgung« wird wortreich, aber äusserst schwammig definiert.

Was meint der Gegenentwurf mit »ausreichender medizinischer Grundversorgung«? Liest man die ausführlichen Hintergrundpapiere des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), dann sieht man, dass Konzepte der OECD/WHO und EU umgesetzt werden. So finden wir die Vorbilder für die geplanten neuen Versorgungsmodelle des Bundes in der USA, Grossbritannien, Kanada und in den skandinavischen Ländern. Durch die Einführung des Begriffes der »medizinischen Grundversorgung« in die Bundesverfassung sollen die geplanten neuen Versorgungsmodelle erleichtert durchgesetzt werden können. Damit würde unser hochentwickeltes Gesundheitswesen heruntergefahren und die Stellung des Arztes geschwächt. Es ist kein Zufall, dass im Gegenvorschlag die Versorgung der Bevölkerung durch Fachärztinnen und Fachärzte der Hausarztmedizin ebenso wie der Begriff fachlich umfassend gestrichen wurde. Mit den neuen Versorgungsmodellen soll der Hausarzt in seiner bisherigen Form explizit abgeschafft werden.

1.  Interprofessionalität statt Hausarztmedizin
Die Hausarztpraxis soll durch interprofessionelle Teams, die vorwiegend in Gesundheitszentren tätig sind, ersetzt werden. Unter Interprofessionalität versteht man die Zusammenstellung von hierarchiefreien Teams in der medizinischen Grundversorgung, in denen Ärzte und Apotheker mit anderen Gesundheitsberufen [Pflegenden, Physiotherapeuten, Hebammen, Podologen, Ernährungsberatern] unter Aufgabe des bisherigen Berufsverständnisses zusammenarbeiten.
»Die Integration in ein interprofessionelles Team setzt demzufolge […] voraus […], dass man seine berufliche Tätigkeit an die Funktion oder Rolle anpasst, die einem in der Gruppe zugeteilt wird oder die man dort übernimmt.«  

Diese wahnwitzige Vorstellung muss zurückgewiesen werden. Für eine medizinische Tätigkeit ist einzig die fachliche Qualifikation entscheidend. In den neuen Modellen wird der Hausarzt in seiner bisherigen Funktion abgeschafft, seine Funktionen werden zum Teil auf andere Berufsgruppen verteilt: »Die Angehörigen nichtmedizinischer Berufsgruppen [sollen] ermächtigt werden, Patientinnen und Patienten direkt zu empfangen.«

»Damit neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen entstehen, müssen bestehende Hierarchien aufgeweicht werden. Dies bedingt, dass […] traditionelle berufsständische Vorstellungen modifiziert werden müssen. […] Das Thema, das in der   internationalen Literatur zum Skill-Mix die grösste Aufmerksamkeit erlangt hat, ist die Übertragung von Aufgaben, die bislang von Ärztinnen und Ärzten übernommen wurden, an Pflegefachpersonen, sei dies durch Delegation, indem die Ärztin/der Arzt in der Verantwortung bleibt, oder durch Substitution, indem die Verantwortung ebenfalls an die Pflegefachperson übergeht.«

Die interprofessionelle Ideologie soll mittels Lernmodulen ins Medizinstudium integriert werden [siehe Änderung Medizinalberufegesetz, MedBG, Zeit-Fragen Nr. 7 vom 25. März]. Dort soll der Medizinstudent in Rollenspielen und anderen neuen Lernmethoden einüben, sich in die hierarchiefreien Teams einzugliedern, auch einmal anderen die Führung (lead) zu überlassen und »gemeinsam eine kritische Reflexion über die eigenen Kompetenzen, ihre Erwartungen und Befürchtungen sowie über die Ansprüche der anderen Berufsgruppen anstellen«. Festzuhalten ist: Eine ärztliche Abklärung, Diagnosestellung, Behandlung und Betreuung gehört nur in die Hand von universitär sorgfältig aus- und weitergebildeten Ärzten und hat sich nicht an den Ansprüchen anderer Berufsgruppen, sondern einzig am Wohl des Patienten zu orientieren.

2.  Der Zugang zum Arzt soll erschwert werden
Beamte im BAG planen, den Zugang des Patienten zum Arzt zu erschweren:
»Der Patient oder die Patientin braucht nicht bei jeder Konsultation zwingend den Arzt oder die Ärztin. Chronisch kranke Patienten können auch von spezifisch ausgebildeten Pflegenden oder medizinischen Praxis-Assistentinnen betreut werden.« Die Ärzte sollen die umfassende Verantwortung für den Patienten aufgeben und wichtige Bereiche der Medizin an Gesundheitsberufe abgeben, die dafür fachlich nicht qualifiziert sind: »Hinzu kommt für die Ärztinnen und Ärzte eine Neudefinition ihrer Beziehung zur Patientin oder zum Patienten, welche eine Kompetenzübertragung infolge einer ausgedehnten interprofessionellen Praxis mit sich bringt.«

Ein solches Versorgungsmodell ist fahrlässig und ist sicher nicht das, was die Schweizer Bevölkerung wünscht. Die gute Arzt-Patienten-Beziehung hat einen wesentlichen Anteil an jedem Heilungsprozess und kann nicht ersetzt werden.

3.  »Advanced Practice Nurses« (APN) sollen Hausärzte ersetzen
Orientiert an alten Modellen der WHO für Entwicklungsländer [primary health care] sollen die Hausärzte teilweise durch Pflegekräfte ersetzt werden, die ohne eine breite ärztliche Wissensgrundlage wichtige ärztliche Aufgaben übernehmen sollen. In den anglo-amerikanischen oder nordischen Ländern werden Ärzte bereits in zentralen Betreuungssituationen durch diese ›Advanced Practice Nurses‹ ersetzt. Sie übernehmen zum Beispiel den »Erstkontakt und die Folgekontakte der gesamten Patientenpopulation; Erstkontakt in dringlichen Situationen während oder ausserhalb der Sprechstundenzeiten [also Notfalldienst! Anm. d. Verf.]; Management von chronisch Kranken.
«

Der Vorentwurf zum Bundesgesetz über die Gesundheitsberufe (GesBG) sieht für diese APN zum Beispiel folgende Aufgaben vor:

-  Die Pflegeexpertin und der Pflegeexperte APN veranlasst bei Patientinnen und Patienten, die sich in einer stabilen Phase befinden, diagnostische Tests, interpretiert diese, nimmt die Anpassung der Medikation vor und leitet weitere erforderliche Therapien ein. […]

-  Die Pflegeexpertin […] APN übernimmt Führungsaufgaben in interprofessionellen Teams. […]

-  Die Pflegeexpertin […] APN beantwortet als Referenzperson für Teams und Institutionen fachliche Fragestellungen und schlägt den Patienten angepasste und effiziente Lösungen vor [zum Beispiel nurse case management].

-  Die Pflegeexpertin […] APN übernimmt Verantwortung für die Qualitätssicherung der Versorgungsorganisation und die Entwicklung klinischer Leitlinien und Standards und wirkt an der Entwicklung des Fehlermanagements mit.

Im Gegensatz zu den Vorspiegelungen von Bundesrat Berset, die Hausarztmedizin solle gestärkt werden, soll also unter anderem bei ärztlichen Notfällen, Erstkontakten mit Patienten, Verordnung von Medikamenten, Beantworten von Fachfragen, Entwicklung klinischer Leitlinien usw., die Behandlung nicht mehr durch einen ausgebildeten Facharzt für Hausarztmedizin erfolgen. Wie herablassend und despektierlich dabei die Arbeit von Hausärzten und Pflegepersonen sowie die Beschwerden ihrer Patienten, also von uns Bürgern beurteilt wird, zeigt das Zitat von Beat Sottas, Mitglied des Leitenden Ausschusses Careum, Ausbildungsstätte unseres schweizerischen Pflegepersonals [ehemals Stiftung Schwesternschule und Krankenhaus vom Roten Kreuz Zürich-Fluntern] und einem der führenden Think tanks für die Bersetschen Gesundheitsreformen: »Das Problem ist seit langem bekannt: Ein grosser Teil der Arbeiten in einer Hausarztpraxis besteht aus Bobologie, der Behandlung von Befindlichkeitsstörungen, das heisst aus pflegerischen und fürsorgerischen Tätigkeiten. Bodenheimer, ein erfahrener Grundversorger, vertritt wie viele andere auch, dass dafür keine medizinische Ausbildung nötig ist.«

4.  Bersets Gegenentwurf ignoriert den Volkswillen
Vor knapp zwei Jahren (17. Juni 2012) lehnte das Schweizervolk die integrierte Versorgung [Managed-care-Vorlage] mit 76 % deutlich ab. Trotzdem verfolgt Bundesrat Berset mit den Führungsspitzen einiger medizinischer Organisationen unbeirrt integrierte Versorgungsmodelle. Aus verschiedenen Grundsatzpapieren des BAG, der GDK (Gesundheitsdirektorenkonferenz) und des Careum ergibt sich in etwa folgende Vision der zukünftigen medizinischen Grundversorgung:

Der Patient tritt auf verschiedenen Wegen ins Gesundheitssystem ein: über den Apotheker, die APN, die selbständige Pflegefachfrau oder den Hausarzt. Die erste Anlaufstelle, der primäre Leistungserbringer, betreut den Patienten umfassend und navigiert ihn durchs    Gesundheitssystem. Helfend kann ein Callcenter eingesetzt werden. Transparenz wird geschaffen, indem die vernetzten Leistungserbringer alle Zugang zum elektronischen Patientendossier haben. Ein Daten-Gau in einem Gesundheitswesen, indem ohnehin schon das Arztgeheimnis von allen Seiten durchlöchert wird! In Deutschland entsteht bereits massiver Widerstand gegen die Einführung der elektronischen Patientenkarte.

Unter dem Schlagwort Gesundheitskompetenz sollen vor allem Patienten mit chronischen Leiden zu Selbstmanagement und Selbsthilfe befähigt werden. Mittels Internet und Schulungskursen soll der Patient dann selbständig Krisen und Gesundheitsprobleme managen. Statt des Besuchs beim Hausarzt sollen Gesundheitsdaten elektronisch an ein Zentrum übermittelt werden, wo Anweisungen telefonisch oder per e-Mail gegeben werden. Die verantwortliche Pflegeperson behandelt nach standardisierten Behandlungsrichtlinien (guidelines), da sie ja für eine  umfassende Diagnose und Therapie nicht ausgebildet ist. Kommt sie in Schwierigkeiten, kann notfalls ein Arzt über Videokonferenz zu Rate gezogen werden [falls es nicht zu spät ist!]. Für die finanziell Bessergestellten schweben den Theoretikern auch Ansprechstrukturen à la USA vor, wo der informierte Patient in Supermarktketten, Walk-in-Kliniken usw., das kauft, was ihm vorschwebt: »In der USA sind solche Ansprechstrukturen bereits weit verbreitet. Dort sind es die Supermarkt- und Drogerieketten, die sich an der Innovationsfront positionieren, indem sie auch Dienstleister im Gesundheitsbereich werden. Mit der Einrichtung von Retail Health Clinics orientieren sie sich an Kundenbedürfnissen und schaffen praktische Mehrwerte: Sie liegen mitten im Kundenstrom, sie offerieren grosszügige Öffnungszeiten, sie haben ein limitiertes Angebot zu günstigen (Fix-)Preisen und die Nurses, Nurse Practitioners oder Assistant Physicians achten auf kurze Wartezeiten. Zudem können sie in der Regel auf Telefonsupport und/oder Videokonferenzen durch diensthabende Ärzte oder Ärztinnen zurückgreifen.«

Bei uns besteht die Qualität darin, dass der, der am besten ausgebildet ist, den Patienten und sein Umfeld am besten kennt, nämlich der Hausarzt  - zu dem der Patient ein oft langjähriges Vertrauensverhältnis hat -  die Diagnose stellt, eine geeignete Therapie vorschlägt und dann entscheidet, wer aus dem medizinischen Team allenfalls Teile der Behandlung übernehmen kann. Wollen wir Herrn Berset mit primary health care eine Barfussmedizin in die hochentwickelte Schweiz einführen lassen? Wenn es Beat Richner selbst in Kambodscha gelingt, eine hochstehende Gesundheitsversorgung nach Schweizer Qualitätsstandards aufzubauen und zu erhalten, sollte uns das in der wohlhabenden Schweiz wohl auch gelingen!

Jeder, der obige Gedanken einer guten hausärztlichen Versorgung teilt, wird sich gut überlegen, wie er am 18. Mai abstimmen will. Die Abstimmung über den Gegenentwurf »Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung« ist besonders wichtig, weil auf den neuen Verfassungsartikel eine ganze Reihe problematischer Gesetze gestützt werden sollen: Änderung des Medizinalberufe-Gesetzes, des Gesundheitsberufe-Gesetzes, das Elektronische Patientendossiergesetz sowie ein Qualitätsinstitut und ein HTA-Institut [Health Technology Assessment, Agentur und Gesetz zur Kosten-Nutzen-Abwägung].

Wie kann man den Ärztemangel beheben?
Dass man den Ärztemangel in der Schweiz als Hauptargument für eine grundlegende Umgestaltung und Herunternivellierung unseres hochqualifizierten, weltweit besten Gesundheitswesens benutzt, während man gleichzeitig den Numerus clausus beibehält und damit nur etwa 40 % der interessierten Bewerber zum Medizinstudium zulässt, ist absolut widersinnig.

Anstatt also den Arztberuf weiter abzuwerten, Qualitäts- und Kontrollwahn weiter auszubauen und die Ökonomisierung der Medizin weiter voranzutreiben, könnten folgende Massnahmen in Betracht gezogen werden:

1.  Aufhebung des Numerus clausus und vermehrte Schaffung von Studienplätzen

2.  Rückgabe der Entscheidungskompetenzen im Gesundheitswesen an die Ärzteschaft

3.  Rückbesinnung auf die ärztliche Berufung und ärztliche Kunst unter Zuhilfenahme zahlreicher Vorbilder [Hippokrates, Albert Schweitzer, Beat Richner, Eugen Bleuler, Rudolf Virchow] und Vermittlung an die jüngere Generation

4.  Sofortige Reduktion unnötiger Administrativ-, Kontroll- und Qualitätssicherungsmassnahmen

5.  Wiederetablierung des Arztberufes als freier Berufsstand ohne weitere Gängelung durch ständige Auflagen und Guidelines

Ähnliches gilt ebenso für die Pflegeberufe, die von der Rückkehr zu einer vernünftigen, praxisorientierten Ausbildung und der Befreiung von überbordenden Administrativ-, Dokumentations- und IT-Aufgaben massiv profitieren würden.

Unter dem Titel
Steuerung des Gesundheitswesens durch Bundesrat Berset und  »sein« BAG?
Das Schweizer Gesundheitswesen gehört in die Hand der Kantone 

legt Dr. iur. Marianne Wüthrich folgendes dar:

Im Artikel «Nein zur Mogelpackung ‹Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung›» [Zeit-Fragen Nr. 7 vom 25. März] wurde auf die grosse Bedeutung eines föderalistisch organisierten Gesundheitswesens für unsere Bevölkerung hingewiesen: »In der Schweiz funktioniert das Gesundheitswesen wie alles, was die Bevölkerung von unten nach oben eingerichtet hat, bestens. Das Erfolgsrezept ist ganz einfach: Direkte Demokratie und Föderalismus sind die besten Mittel, um ein Gemeinwesen solide und nachhaltig zu organisieren. Im schweizerischen Bundesstaat ist es selbstverständlich, dass das Gesundheitswesen, wie übrigens auch die Schule, in der Hand der Kantone liegt. Das Subsidiaritätsprinzip  - der Bund greift nur ein, wenn die Kantone ausserstande sind, ihre Aufgaben zu erfüllen -  hat sich seit 1848 bestens bewährt. Eine zentralistische Steuerung ist uns Schweizern zutiefst zuwider.« 

Föderalismus als eine Säule des Schweizer Modells 
Die Schweiz ist 1848 aus dem Zusammenschluss der souveränen Kantone zu einem Bundesstaat entstanden. Selbstverständlich ist seit damals viel Wasser den Rhein hinabgeflossen und das Schweizervolk hat dem Bund im Laufe der Zeit viele neue Kompetenzen zugesprochen, von denen im 19. Jahrhundert noch niemand etwas wissen konnte. Denken wir nur an Bereiche wie die Kernenergie oder die Nationalstrassen (Autobahnen) und die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), die der Souverän sinnvollerweise in die Hände des Bundes gelegt hat. Die SBB beispielsweise ist in den Köpfen und Herzen der Bevölkerung als Bundeseinrichtung par excellence seit langem verwurzelt. Aber ebenso in unserem Innersten verwurzelt ist die kleinräumige, föderalistische Staatsstruktur der Schweiz. Vielleicht sollte man  - ähnlich wie zur Verankerung des Prinzips der immerwährenden bewaffneten Neutralität in der Bevölkerung -  einmal eine Umfrage zur Erhaltung des Föderalismus machen. Eine mindestens 90prozentige Bejahung der Schweizer zu einer starken Stellung der Kantone könnte mit Gewissheit erwartet werden. 

Zu den Bereichen, die seit jeher in der Kompetenz der Kantone liegen, gehört auch das Gesundheitswesen. Jedem leuchtet ein, dass die Aufsicht über die Grundversorgung der Bevölkerung durch Ärzte und Spitäler nicht von Bern aus organisiert werden kann, sondern im kleinen Gemeinwesen vom Souverän geordnet werden muss. In der Diskussion zum Gegenvorschlag über die Grundversorgung ist die Bemerkung gefallen, der Staat habe ja seit jeher in die Gesundheitsversorgung eingegriffen. Dazu ist festzuhalten: Selbstverständlich hat der Staat Aufsichts- und Kontrollrechte im Gesundheitswesen, und die Spitäler führt zum grossen Teil der Staat selbst. Aber der Staat ist in der Schweiz der Kanton: ihm stehen diese Aufgaben zu, nicht dem Bund.  

Föderalistisches Prinzip in der Bundesverfassung    
In der schweizerischen Bundesverfassung ist das Prinzip des Föderalismus in einer bemerkenswerten Art und Weise formuliert:

Art. 3 Kantone  -  Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.

Das heisst, dass nicht der Bund den Kantonen einzelne Kompetenzen überträgt, sondern umgekehrt: Grundsätzlich liegen alle Kompetenzen, die nicht durch den Verfassungsgeber, also durch Volk und Stände, dem Bund übertragen werden, bei den Kantonen. Dieser Grundsatz wird durch die folgende Bestimmung bestätigt:

Art. 42 Aufgaben des Bundes  -  Der Bund erfüllt die Aufgaben, die ihm die Bundesverfassung zuweist.

Also: Dem Bund stehen lediglich diejenigen Kompetenzen zu, die der Souverän ihm ausdrücklich zuweist, alle anderen Befugnisse bleiben bei den Kantonen. In der langen Zeit seit der Gründung des Bundesstaates hat sich bestätigt, dass die Lösung der meisten anfallenden Probleme am besten gemäss der Vielfalt der Kantone und Gemeinde entschieden werden soll. Am besten will heissen: möglichst bürgernah, mit möglichst wenig Bürokratie und erst noch finanziell am günstigsten. Also entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip, wonach die Gemeinde die Aufgaben löst, die sie selbst bewältigen kann, bevor der Kanton eingreift. Dasselbe muss für das Verhältnis zwischen Kanton und Bund gelten. Auch das Subsidiaritätsprinzip ist in der Bundesverfassung festgelegt: 

Art. 43 a Grundsätze für die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben  -  Der Bund übernimmt nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen. 

Das Subsidiaritätsprinzip ist nicht nur wichtiger Ausfluss des Föderalismus, sondern auch der direkten Demokratie, denn auf den unteren Staatsebenen, der Gemeinde und dem Kanton, können die Bürger viel direkter in das Geschehen eingreifen.   

Der Erhaltung des Föderalismus Sorge tragen 
Verfassungsgesetzgeber ist der Souverän, also wir Bürger. Wir sind dafür verantwortlich, dass grundlegende Aufgaben des Gemeinwesens wie Schule und Gesundheitswesen in den Händen der Kantone bleiben. In neuester Zeit jedoch greifen gewisse Kreise in Politik und Verwaltung immer mehr in den Bestand des Föderalismus ein und versuchen, die Bundesverwaltung zu einem zentralen Macht- und Steuerungsapparat auszubauen und in einem Mass auszudehnen, das eine fortlaufende Schwächung des bewährten und sehr gut funktionierenden föderalistischen Systems zur Folge hat. Wer das Ziel verfolgt, die Schweiz immer stärker in die EU und in eine Welt der globalisierten Grosskonzerne einzugliedern, kann keine kleinräumige Organisation mit vielen veto playern brauchen: gemeint sind die 26 kantonalen Parlamente und der Souverän in den 26 Kantonen.  

Wir Stimmbürger sind dazu aufgerufen, Sorge zu tragen, dass der Föderalismus nicht dem Zentralisierungsstreben einiger Bundesräte und Bundesbeamten zum Opfer fällt. Am 18. Mai haben wir ein weiteres Mal Gelegenheit dazu: Sagen wir nein zur Mogelpackung »Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung«, die dem BAG und seinem vorgesetzten Bundesrat Alain Berset die Umfunktionierung unseres guten, föderalistisch geregelten Gesundheitswesens überlassen will.  

 

Quelle:  http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1760  
Zeit-Fragen
 Nr. 8 vom  8.4.2014