Keine Barfussmedizin für die hochentwickelte Schweiz - von Dr. med. Susanne Lippmann-Rieder und Dr. med. Viviane Kaiser 13.04.2014 21:39
Unser Hausarztprinzip darf nicht geschmälert werden, daher Nein zur Mogelpackung
»Bundesbeschluss
über die medizinische Grundversorgung«. In unserem Land sind wir gewohnt,
uns mit einem medizinischen Problem vertrauensvoll an die Hausärztin oder den
Hausarzt zu wenden. Unsere Hausärzte sind umfassend aus- und weitergebildet und
befassen sich sorgfältig mit jeder Fragestellung. Oft besteht ein jahrelanges
Vertrauensverhältnis, und der Hausarzt kennt meist die Familie und die
persönliche Situation des Patienten. Die über 200.000 Bürger,
die die eidgenössische Volksinitiative »Ja zur Hausarztmedizin« unterschrieben
haben, waren in berechtigter Sorge, ob es künftig noch genügend Hausärzte geben
und ob die gute ärztliche Versorgung auch in Zukunft noch gewährleistet sein
wird. Die Bevölkerung will, so lautet auch die eingereichte Initiative, eine »ausreichende,
allen zugängliche, fachlich umfassende und qualitativ hochstehende medizinische
Versorgung der Bevölkerung durch Fachärztinnen und Fachärzte der
Hausarztmedizin«.
Der am 18.
Mai 2014 zur Abstimmung stehende direkte Gegenentwurf zur Volksinitiative »Ja
zur Hausarztmedizin«, der »Bundesbeschluss über die medizinische
Grundversorgung«, entspricht in keiner Weise dem ursprünglichen Initiativtext.
Die 26 Mitglieder des Inititiativkomitees zogen die Initiative ohne Einbezug
der Basis der Haus- und der Kinderärzte nach einem Deal mit Bundesrat Berset
zurück. Der Gegenentwurf will die fachlich umfassende medizinische Versorgung
durch Fachärzte auf eine sogenannt »ausreichende medizinische Grundversorgung«
herunterfahren. Der Begriff »medizinische Grundversorgung« wird wortreich, aber
äusserst schwammig definiert.
Was meint der
Gegenentwurf mit »ausreichender medizinischer Grundversorgung«? Liest man die ausführlichen
Hintergrundpapiere des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), dann sieht man, dass
Konzepte der OECD/WHO und EU umgesetzt werden. So finden wir die
Vorbilder für die geplanten neuen Versorgungsmodelle des Bundes in der USA,
Grossbritannien, Kanada und in den skandinavischen Ländern. Durch die
Einführung des Begriffes der »medizinischen Grundversorgung« in die
Bundesverfassung sollen die geplanten neuen Versorgungsmodelle erleichtert
durchgesetzt werden können. Damit würde unser hochentwickeltes Gesundheitswesen
heruntergefahren und die Stellung des Arztes geschwächt. Es ist kein Zufall,
dass im Gegenvorschlag die Versorgung der Bevölkerung ›durch Fachärztinnen und Fachärzte der Hausarztmedizin‹ ebenso wie der Begriff ›fachlich umfassend‹ gestrichen wurde. Mit den neuen Versorgungsmodellen soll der
Hausarzt in seiner bisherigen Form explizit abgeschafft werden.
1. Interprofessionalität statt Hausarztmedizin
Die Hausarztpraxis soll durch interprofessionelle Teams, die vorwiegend in
Gesundheitszentren tätig sind, ersetzt werden. Unter Interprofessionalität
versteht man die Zusammenstellung von ›hierarchiefreien
Teams‹ in der ›medizinischen Grundversorgung‹,
in denen Ärzte und Apotheker mit anderen Gesundheitsberufen [Pflegenden,
Physiotherapeuten, Hebammen, Podologen, Ernährungsberatern] unter Aufgabe des
bisherigen Berufsverständnisses zusammenarbeiten. »Die
Integration in ein interprofessionelles Team setzt demzufolge […] voraus […],
dass man seine berufliche Tätigkeit an die Funktion oder Rolle anpasst, die
einem in der Gruppe zugeteilt wird oder die man dort übernimmt.«
Diese wahnwitzige
Vorstellung muss zurückgewiesen werden. Für eine medizinische Tätigkeit
ist einzig die fachliche Qualifikation entscheidend. In den neuen Modellen wird
der Hausarzt in seiner bisherigen Funktion abgeschafft, seine Funktionen werden
zum Teil auf andere Berufsgruppen verteilt: »Die Angehörigen nichtmedizinischer
Berufsgruppen [sollen] ermächtigt werden, Patientinnen und Patienten direkt zu
empfangen.«
»Damit
neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen entstehen,
müssen bestehende Hierarchien aufgeweicht werden. Dies bedingt, dass […] traditionelle
berufsständische Vorstellungen modifiziert werden müssen. […] Das
Thema, das in der internationalen
Literatur zum Skill-Mix die grösste Aufmerksamkeit erlangt hat, ist die
Übertragung von Aufgaben, die bislang von Ärztinnen und Ärzten übernommen
wurden, an Pflegefachpersonen, sei dies durch Delegation, indem die Ärztin/der
Arzt in der Verantwortung bleibt, oder durch Substitution, indem die
Verantwortung ebenfalls an die Pflegefachperson übergeht.«
Die
interprofessionelle Ideologie soll mittels Lernmodulen ins Medizinstudium
integriert werden [siehe ݀nderung
Medizinalberufegesetz, MedBG‹,
Zeit-Fragen Nr. 7 vom 25. März]. Dort soll der Medizinstudent in Rollenspielen
und anderen neuen Lernmethoden einüben, sich in die hierarchiefreien Teams
einzugliedern, auch einmal anderen die Führung (›lead‹) zu überlassen
und »gemeinsam eine kritische Reflexion über die eigenen Kompetenzen, ihre
Erwartungen und Befürchtungen sowie über die Ansprüche der anderen
Berufsgruppen anstellen«. Festzuhalten ist: Eine ärztliche Abklärung,
Diagnosestellung, Behandlung und Betreuung gehört nur in die Hand von
universitär sorgfältig aus- und weitergebildeten Ärzten und hat sich nicht an
den ›Ansprüchen anderer
Berufsgruppen‹, sondern einzig am
Wohl des Patienten zu orientieren.
2. Der Zugang zum Arzt soll erschwert werden
Beamte im BAG planen, den Zugang des Patienten zum Arzt zu erschweren: »Der
Patient oder die Patientin braucht nicht bei jeder Konsultation zwingend den
Arzt oder die Ärztin. Chronisch kranke Patienten können auch von spezifisch
ausgebildeten Pflegenden oder medizinischen Praxis-Assistentinnen betreut
werden.« Die
Ärzte sollen die umfassende Verantwortung für den Patienten aufgeben und
wichtige Bereiche der Medizin an Gesundheitsberufe abgeben, die
dafür fachlich nicht qualifiziert sind: »Hinzu kommt für die Ärztinnen und
Ärzte eine Neudefinition ihrer Beziehung zur Patientin oder zum Patienten,
welche eine Kompetenzübertragung infolge einer ausgedehnten
interprofessionellen Praxis mit sich bringt.«
Ein solches
Versorgungsmodell ist fahrlässig und ist sicher nicht das, was die Schweizer
Bevölkerung wünscht. Die gute Arzt-Patienten-Beziehung hat einen wesentlichen
Anteil an jedem Heilungsprozess und kann nicht ersetzt werden.
3. »Advanced Practice Nurses« (APN) sollen Hausärzte ersetzen
Orientiert an alten Modellen der WHO für Entwicklungsländer [›primary health care‹] sollen die Hausärzte teilweise durch
Pflegekräfte ersetzt werden, die ohne eine breite ärztliche Wissensgrundlage
wichtige ärztliche Aufgaben übernehmen sollen. In den anglo-amerikanischen oder
nordischen Ländern werden Ärzte bereits in zentralen Betreuungssituationen
durch diese ›Advanced Practice Nurses‹ ersetzt. Sie übernehmen zum Beispiel den
»Erstkontakt und die Folgekontakte der gesamten Patientenpopulation;
Erstkontakt in dringlichen Situationen während oder ausserhalb der
Sprechstundenzeiten [also Notfalldienst! Anm. d. Verf.];
Management von chronisch Kranken.«
Der
Vorentwurf zum Bundesgesetz über die Gesundheitsberufe (GesBG) sieht für diese ›APN‹ zum Beispiel folgende Aufgaben vor:
- Die Pflegeexpertin und der Pflegeexperte APN
veranlasst bei Patientinnen und Patienten, die sich in einer stabilen Phase
befinden, diagnostische Tests, interpretiert diese, nimmt die Anpassung der
Medikation vor und leitet weitere erforderliche Therapien ein. […]
- Die Pflegeexpertin […] APN übernimmt
Führungsaufgaben in interprofessionellen Teams. […]
- Die Pflegeexpertin […] APN beantwortet als
Referenzperson für Teams und Institutionen fachliche Fragestellungen und
schlägt den Patienten angepasste und effiziente Lösungen vor [zum Beispiel ›nurse case management‹].
- Die Pflegeexpertin […] APN übernimmt
Verantwortung für die Qualitätssicherung der Versorgungsorganisation und die
Entwicklung klinischer Leitlinien und Standards und wirkt an der Entwicklung
des Fehlermanagements mit.
Im
Gegensatz zu den Vorspiegelungen von Bundesrat Berset, die Hausarztmedizin
solle gestärkt werden, soll also unter anderem bei ärztlichen Notfällen,
Erstkontakten mit Patienten, Verordnung von Medikamenten, Beantworten von
Fachfragen, Entwicklung klinischer Leitlinien usw., die Behandlung nicht mehr
durch einen ausgebildeten Facharzt für Hausarztmedizin erfolgen. Wie
herablassend und despektierlich dabei die Arbeit von Hausärzten und
Pflegepersonen sowie die Beschwerden ihrer Patienten, also von uns Bürgern
beurteilt wird, zeigt das Zitat von Beat Sottas, Mitglied des Leitenden
Ausschusses Careum, Ausbildungsstätte unseres schweizerischen Pflegepersonals [ehemals
Stiftung Schwesternschule und Krankenhaus vom Roten Kreuz Zürich-Fluntern] und
einem der führenden Think tanks für die Bersetschen Gesundheitsreformen: »Das
Problem ist seit langem bekannt: Ein grosser Teil der Arbeiten in einer
Hausarztpraxis besteht aus ›Bobologie‹, der Behandlung von
Befindlichkeitsstörungen, das heisst aus pflegerischen und fürsorgerischen
Tätigkeiten. Bodenheimer, ein erfahrener Grundversorger, vertritt wie viele
andere auch, dass dafür keine medizinische Ausbildung nötig ist.«
4. Bersets Gegenentwurf ignoriert den
Volkswillen
Vor knapp zwei Jahren (17. Juni 2012) lehnte das Schweizervolk die integrierte
Versorgung [Managed-care-Vorlage] mit 76 % deutlich ab. Trotzdem verfolgt
Bundesrat Berset mit den Führungsspitzen einiger medizinischer Organisationen
unbeirrt integrierte Versorgungsmodelle. Aus verschiedenen Grundsatzpapieren
des BAG, der GDK (Gesundheitsdirektorenkonferenz) und des Careum ergibt sich in
etwa folgende Vision der zukünftigen ›medizinischen
Grundversorgung‹:
Der Patient
tritt auf verschiedenen Wegen ins Gesundheitssystem ein: über den Apotheker,
die APN, die selbständige Pflegefachfrau oder den Hausarzt. Die erste
Anlaufstelle, der ›primäre
Leistungserbringer‹, betreut den
Patienten umfassend und ›navigiert‹ ihn durchs Gesundheitssystem. Helfend kann ein
Callcenter eingesetzt werden. ›Transparenz‹ wird geschaffen, indem die vernetzten
Leistungserbringer alle Zugang zum elektronischen Patientendossier haben. Ein
Daten-Gau in einem Gesundheitswesen, indem ohnehin schon das Arztgeheimnis von
allen Seiten durchlöchert wird! In Deutschland entsteht bereits massiver
Widerstand gegen die Einführung der elektronischen Patientenkarte.
Unter dem
Schlagwort ›Gesundheitskompetenz‹ sollen vor allem Patienten mit
chronischen Leiden zu ›Selbstmanagement
und Selbsthilfe‹ befähigt werden.
Mittels Internet und Schulungskursen soll der Patient dann selbständig Krisen
und Gesundheitsprobleme managen. Statt des Besuchs beim Hausarzt sollen
Gesundheitsdaten elektronisch an ein Zentrum übermittelt werden, wo Anweisungen
telefonisch oder per e-Mail gegeben werden. Die verantwortliche Pflegeperson
behandelt nach standardisierten Behandlungsrichtlinien (›guidelines‹), da sie ja
für eine umfassende Diagnose und
Therapie nicht ausgebildet ist. Kommt sie in Schwierigkeiten, kann notfalls ein
Arzt über Videokonferenz zu Rate gezogen werden [falls es nicht zu spät ist!].
Für die finanziell Bessergestellten schweben den Theoretikern auch ›Ansprechstrukturen‹ à la USA vor, wo der ›informierte
Patient‹ in Supermarktketten,
Walk-in-Kliniken usw., das kauft, was ihm vorschwebt: »In der
USA sind solche Ansprechstrukturen bereits weit verbreitet. Dort sind es die
Supermarkt- und Drogerieketten, die sich an der Innovationsfront positionieren,
indem sie auch Dienstleister im Gesundheitsbereich werden. Mit der Einrichtung
von ›Retail Health Clinics‹ orientieren sie sich an
Kundenbedürfnissen und schaffen praktische Mehrwerte: Sie liegen mitten im
Kundenstrom, sie offerieren grosszügige Öffnungszeiten, sie haben ein
limitiertes Angebot zu günstigen (Fix-)Preisen und die Nurses, Nurse
Practitioners oder Assistant Physicians achten auf kurze Wartezeiten. Zudem
können sie in der Regel auf Telefonsupport und/oder Videokonferenzen durch
diensthabende Ärzte oder Ärztinnen zurückgreifen.«
Bei uns
besteht die Qualität darin, dass der, der am besten ausgebildet ist, den
Patienten und sein Umfeld am besten kennt, nämlich der Hausarzt - zu dem der Patient ein oft langjähriges
Vertrauensverhältnis hat - die Diagnose
stellt, eine geeignete Therapie vorschlägt und dann entscheidet, wer aus dem
medizinischen Team allenfalls Teile der Behandlung übernehmen kann. Wollen wir
Herrn Berset mit ›primary health
care‹ eine Barfussmedizin in die
hochentwickelte Schweiz einführen lassen? Wenn es Beat Richner selbst in
Kambodscha gelingt, eine hochstehende Gesundheitsversorgung nach Schweizer
Qualitätsstandards aufzubauen und zu erhalten, sollte uns das in der
wohlhabenden Schweiz wohl auch gelingen!
Jeder, der
obige Gedanken einer guten hausärztlichen Versorgung teilt, wird sich gut
überlegen, wie er am 18. Mai abstimmen will. Die Abstimmung über den
Gegenentwurf »Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung« ist
besonders wichtig, weil auf den neuen Verfassungsartikel eine ganze Reihe
problematischer Gesetze gestützt werden sollen: Änderung des Medizinalberufe-Gesetzes,
des Gesundheitsberufe-Gesetzes, das Elektronische Patientendossiergesetz sowie
ein Qualitätsinstitut und ein ›HTA-Institut‹ [Health Technology Assessment,
Agentur und Gesetz zur Kosten-Nutzen-Abwägung].
Wie kann man den
Ärztemangel beheben? Dass man
den Ärztemangel in der Schweiz als Hauptargument für eine grundlegende
Umgestaltung und Herunternivellierung unseres hochqualifizierten, weltweit
besten Gesundheitswesens benutzt, während man gleichzeitig den Numerus clausus
beibehält und damit nur etwa 40 % der interessierten Bewerber zum
Medizinstudium zulässt, ist absolut widersinnig.
Anstatt
also den Arztberuf weiter abzuwerten, Qualitäts- und Kontrollwahn weiter auszubauen
und die Ökonomisierung der Medizin weiter voranzutreiben, könnten folgende
Massnahmen in Betracht gezogen werden:
1. Aufhebung
des Numerus clausus und vermehrte Schaffung von Studienplätzen
2. Rückgabe
der Entscheidungskompetenzen im Gesundheitswesen an die Ärzteschaft
3. Rückbesinnung
auf die ärztliche Berufung und ärztliche Kunst unter Zuhilfenahme zahlreicher
Vorbilder [Hippokrates, Albert Schweitzer, Beat Richner, Eugen Bleuler, Rudolf
Virchow] und Vermittlung an die jüngere Generation
4. Sofortige
Reduktion unnötiger Administrativ-, Kontroll- und Qualitätssicherungsmassnahmen
5. Wiederetablierung
des Arztberufes als freier Berufsstand ohne weitere Gängelung durch ständige
Auflagen und Guidelines
Ähnliches
gilt ebenso für die Pflegeberufe, die von der Rückkehr zu einer vernünftigen,
praxisorientierten Ausbildung und der Befreiung von überbordenden
Administrativ-, Dokumentations- und IT-Aufgaben massiv profitieren würden.
Unter dem
Titel Steuerung des
Gesundheitswesens durch Bundesrat Berset und »sein« BAG? Das Schweizer
Gesundheitswesen gehört in die Hand der Kantone legt Dr.
iur. Marianne Wüthrich folgendes dar:
Im Artikel
«Nein zur Mogelpackung ‹Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung›»
[Zeit-Fragen Nr. 7 vom 25. März] wurde auf die grosse Bedeutung eines
föderalistisch organisierten Gesundheitswesens für unsere Bevölkerung
hingewiesen: »In der Schweiz funktioniert das Gesundheitswesen wie
alles, was die Bevölkerung von unten nach oben eingerichtet hat, bestens. Das
Erfolgsrezept ist ganz einfach: Direkte Demokratie und Föderalismus sind die
besten Mittel, um ein Gemeinwesen solide und nachhaltig zu organisieren. Im
schweizerischen Bundesstaat ist es selbstverständlich, dass das
Gesundheitswesen, wie übrigens auch die Schule, in der Hand der Kantone liegt.
Das Subsidiaritätsprinzip - der Bund
greift nur ein, wenn die Kantone ausserstande sind, ihre Aufgaben zu erfüllen
- hat sich seit 1848 bestens bewährt.
Eine zentralistische Steuerung ist uns Schweizern zutiefst zuwider.«
Föderalismus als eine
Säule des Schweizer Modells Die
Schweiz ist 1848 aus dem Zusammenschluss der souveränen Kantone zu einem
Bundesstaat entstanden. Selbstverständlich ist seit damals viel Wasser den
Rhein hinabgeflossen und das Schweizervolk hat dem Bund im Laufe der Zeit viele
neue Kompetenzen zugesprochen, von denen im 19. Jahrhundert noch niemand etwas
wissen konnte. Denken wir nur an Bereiche wie die Kernenergie oder die
Nationalstrassen (Autobahnen) und die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), die der
Souverän sinnvollerweise in die Hände des Bundes gelegt hat. Die SBB
beispielsweise ist in den Köpfen und Herzen der Bevölkerung als
Bundeseinrichtung par excellence seit langem verwurzelt. Aber ebenso in unserem
Innersten verwurzelt ist die kleinräumige, föderalistische Staatsstruktur der
Schweiz. Vielleicht sollte man - ähnlich
wie zur Verankerung des Prinzips der immerwährenden bewaffneten Neutralität in
der Bevölkerung - einmal eine Umfrage
zur Erhaltung des Föderalismus machen. Eine mindestens 90prozentige Bejahung
der Schweizer zu einer starken Stellung der Kantone könnte mit Gewissheit
erwartet werden.
Zu den
Bereichen, die seit jeher in der Kompetenz der Kantone liegen, gehört auch das
Gesundheitswesen. Jedem leuchtet ein, dass die Aufsicht über die
Grundversorgung der Bevölkerung durch Ärzte und Spitäler nicht von Bern aus organisiert
werden kann, sondern im kleinen Gemeinwesen vom Souverän geordnet
werden muss. In der Diskussion zum Gegenvorschlag über die Grundversorgung ist
die Bemerkung gefallen, der Staat habe ja seit jeher in die
Gesundheitsversorgung eingegriffen. Dazu ist festzuhalten: Selbstverständlich
hat der Staat Aufsichts- und Kontrollrechte im Gesundheitswesen, und die
Spitäler führt zum grossen Teil der Staat selbst. Aber ›der Staat‹ ist in der
Schweiz der Kanton: ihm stehen diese Aufgaben zu, nicht dem Bund.
Föderalistisches
Prinzip in der Bundesverfassung In der
schweizerischen Bundesverfassung ist das Prinzip des Föderalismus in einer
bemerkenswerten Art und Weise formuliert:
Art. 3
Kantone - Die Kantone sind souverän, soweit ihre
Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle
Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.
Das
heisst, dass nicht der Bund den Kantonen einzelne Kompetenzen überträgt,
sondern umgekehrt: Grundsätzlich liegen alle Kompetenzen, die nicht durch den
Verfassungsgeber, also durch Volk und Stände, dem Bund übertragen werden, bei
den Kantonen. Dieser Grundsatz wird durch die folgende Bestimmung bestätigt:
Art. 42
Aufgaben des Bundes - Der Bund erfüllt die Aufgaben, die ihm die
Bundesverfassung zuweist.
Also: Dem
Bund stehen lediglich diejenigen Kompetenzen zu, die der Souverän ihm
ausdrücklich zuweist, alle anderen Befugnisse bleiben bei den Kantonen. In der
langen Zeit seit der Gründung des Bundesstaates hat sich bestätigt, dass die
Lösung der meisten anfallenden Probleme am besten gemäss der Vielfalt der
Kantone und Gemeinde entschieden werden soll. ›Am besten‹ will
heissen: möglichst bürgernah, mit möglichst wenig Bürokratie und erst noch
finanziell am günstigsten. Also entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip, wonach
die Gemeinde die Aufgaben löst, die sie selbst bewältigen kann, bevor der
Kanton eingreift. Dasselbe muss für das Verhältnis zwischen Kanton und Bund gelten.
Auch das Subsidiaritätsprinzip ist in der Bundesverfassung festgelegt:
Art. 43 a
Grundsätze für die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben - Der
Bund übernimmt nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder
einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen.
Das
Subsidiaritätsprinzip ist nicht nur wichtiger Ausfluss des Föderalismus,
sondern auch der direkten Demokratie, denn auf den unteren Staatsebenen, der
Gemeinde und dem Kanton, können die Bürger viel direkter in das Geschehen
eingreifen.
Der Erhaltung des
Föderalismus Sorge tragen Verfassungsgesetzgeber
ist der Souverän, also wir Bürger. Wir sind dafür verantwortlich, dass
grundlegende Aufgaben des Gemeinwesens wie Schule und Gesundheitswesen in den
Händen der Kantone bleiben. In neuester Zeit jedoch greifen gewisse Kreise in
Politik und Verwaltung immer mehr in den Bestand des Föderalismus ein und
versuchen, die Bundesverwaltung zu einem zentralen Macht- und Steuerungsapparat
auszubauen und in einem Mass auszudehnen, das eine fortlaufende Schwächung des
bewährten und sehr gut funktionierenden föderalistischen Systems zur Folge hat.
Wer das Ziel verfolgt, die Schweiz immer stärker in die EU und in eine Welt der
globalisierten Grosskonzerne einzugliedern, kann keine kleinräumige
Organisation mit vielen ›veto
playern‹ brauchen: gemeint sind die
26 kantonalen Parlamente und der Souverän in den 26 Kantonen.
Wir
Stimmbürger sind dazu aufgerufen, Sorge zu tragen, dass der Föderalismus nicht
dem Zentralisierungsstreben einiger Bundesräte und Bundesbeamten zum Opfer
fällt. Am 18. Mai haben wir ein weiteres Mal Gelegenheit dazu: Sagen wir nein
zur Mogelpackung »Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung«, die
dem BAG und seinem vorgesetzten Bundesrat Alain Berset die Umfunktionierung
unseres guten, föderalistisch geregelten Gesundheitswesens überlassen will.
Quelle: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1760 Zeit-Fragen Nr. 8 vom 8.4.2014
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