Der Bundesrat und sein «bilateraler Weg»: Erneuerung oder Verrat? - Von Ulrich Schlüer

Vor vierzehn Jahren, im März 2000, veröffentlichte der Bundesrat eine Broschüre mit dem Titel »Die bilateralen Abkommen in der Übersicht«.

Das erste Paket der Bilateralen war damals ausgehandelt und von den Eidgenössischen Räten gerade verabschiedet worden; die Volksabstimmung stand kurz bevor. In der Broschüre, zu der der damalige Bundespräsident Adolf Ogi die Begrüssungsadresse an die Öffentlichkeit verfasste, sind die 7 Verträge des ersten bilateralen Pakets zusammengefasst vorgestellt und in dem Kapitel mit dem Titel »Die Schweiz bleibt unabhängig« hat der Bundesrat die Grundlagen des von ihm bevorzugten bilateralen Wegs seit dem »Nein« des Souveräns zum EWR-Beitritt am 6. Dezember 1992 formuliert: allerdings ohne je das Ziel dieses Weges offenzulegen.

Pfeiler der Unabhängigkeit 
Wir zitieren aus diesem vor 14 Jahren verfassten Kapitel jene Passage, in welcher der Bundesrat der Schweiz erklärt, wie er die
Unantastbarkeit der schweizerischen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung durch Beschreiten des bilateralen Weges gewährleisten könne und zu bewahren verspreche. Der Bundesrat wörtlich:

»Die Unabhängigkeit der Schweiz bleibt unangetastet: 

-  Die Verträge sind jederzeit kündbar.

-  Die Schweiz ist durch die bilateralen Verträge nicht gezwungen, dem EWR oder der EU beizutreten.

-  Die schweizerische Neutralität wird nicht gefährdet.  (…)

-  Durch die bilateralen Verträge wird es keine freie Zuwanderung und keine Personenfreizügigkeit für Bürger aus Nicht-EU-Staaten wie zum Beispiel Kanada, Ex-Jugoslawien oder der Türkei geben. (…)

-  Die Schweiz wird nicht von Arbeitslosen aus den EU-Staaten überschwemmt werden, denn die Personenfreizügigkeit gilt nicht für Arbeitslose. Das Abkommen gilt nur für Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Rentner, Studierende und übrige nicht erwerbstätige Personen, die aber über ausreichende finanzielle Mittel verfügen.

Anmerkung: Im Vorfeld der Abstimmung vom 9. Februar 2014 über die Initiative gegen die Masseneinwanderung musste der Bundesrat allerdings eingestehen, dass diese hier zitierte Aussage falsch war: Gemäss Personenfreizügigkeits-Abkommen können durchaus EU-Arbeitslose in die Schweiz gelangen, wenn sie angeben, zwecks Arbeitssuche in die Schweiz einzureisen. Zehntausende solcher Arbeitssuchender mussten Schweizer Gemeinden darauf während Jahren via Sozialhilfe  – deren Kosten explodierten –  über Wasser halten. 

-  Die Schweiz ist auch zukünftig nicht zur Übernahme von neuem EU-Recht verpflichtet und nicht den Entscheiden des europäischen Gerichtshofs in Brüssel unterworfen.«  


Übernahme von EU-Recht 
Dieser letzte Absatz des Zitats ist von ausschlaggebender Bedeutung: Der Bund hält darin fest, dass die Unabhängigkeit, die Freiheit, die Selbstbestimmung der Schweiz darauf beruht, dass unser Land weder automatisch EU-Recht übernehmen muss, noch sich je Entscheiden bzw. Urteilen des Europäischen Gerichtshofs zu unterwerfen hat. Genau dies aber, nämlich die automatische Übernahme von EU-Recht und die Anerkennung des EU-Gerichtshofs als auch für die Schweiz höchste unanfechtbare Gerichtsinstanz, bietet der Bundesrat heute der EU im sogenannten
Rahmenvertrag an.  

Vorgeschichte 
Dieses Schweizer
Angebot hat eine Vorgeschichte. Sie beginnt damit, dass die EU es nie geschätzt hat, mit der Schweiz in der Eigenschaft eines bilateralen Vertragspartners verkehren zu müssen. Weil sie die Schweiz damit als souveränen Staat als einen auf gleicher Höhe wie die EU stehenden zu behandeln hat. Brüssel musste und muss mit der Schweiz verhandeln, wie sie mit der USA, wie sie mit Russland, mit China oder anderen selbständigen Staaten zu verhandeln hat. Die Schweiz war und ist noch immer ein gleichberechtigter ebenbürtiger Partner, der keinerlei von der EU vorgegebenen Automatismen unterworfen ist.   

Barrosos Brief 
Am 21. Dezember 2012 teilte EU-Kommissionspräsident Barroso der damaligen Schweizer Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf brieflich mit, dass die EU zu weiteren bilateralen Verhandlungen mit der Schweiz nicht mehr bereit sei, solange sich die Schweiz nicht damit einverstanden erkläre, sich in die Strukturen der EU
institutionell einbindenzu lassen. Schwierige offene Fragen zwischen der Schweiz und der EU bestanden zwar weder damals noch heute. Trotzdem liess sich der Bundesrat auf das Ansinnen aus Brüssel ein und erklärte sich zu Verhandlungen über die institutionelle Einbindungdes Landes in den EU-Apparat bereit. Hierzu wurde die Schaffung eines Rahmenvertrags vorgeschlagen, welcher die Bedingungen festlegen soll, die für sämtliche bilateralen Verträge und Vereinbarungen übergeordnete Gültigkeit hätten, sowohl für jene, die bereits in der Vergangenheit abgeschlossen wurden, als auch für solche, die in Zukunft erst noch abgeschlossen werden sollten. Und diese sollen auch gelten, wenn die EU an bestehenden Verträgen Änderungen vornehmen will.  

Drei Säulen 
Die EU hat sich kürzlich bereit erklärt, über einen solchen Rahmenvertrag mit der Schweiz zu verhandeln. Dies, nachdem in Vorverhandlungen, die im sogenannten
Non-Paper vom 13. Mai 2013 festgehalten sind, die drei tragenden Säulen, wie die von Brüssel der Schweiz abgeforderte institutionelle Einbindung konkretisiert werden soll, bereits festgeschrieben worden sind. Die drei Säulen lauten wie folgt: 

Erstens erklärt sich die Schweiz bereit, sämtliche EU-Beschlüsse, welche Sachverhalte betreffen, die in heutigen oder zukünftigen bilateralen Verträgen und Vereinbarungen geregelt worden sind oder noch geregelt werden, automatisch zu übernehmen. Die Schweiz verzichtet damit auf jede Mitbestimmung zu Beschlüssen, die mit einem bilateralen Vertrag in Verbindung gebracht werden können. Was Brüssel beschliesst wird automatisch auch für die Schweiz als verbindlich anerkannt. Die Schweiz unterwirft sich damit vorbehaltlos der Brüsseler Gesetzgebung

Zweitens verpflichtet sich die Schweiz dazu, bei allfällig auftretenden Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung bilateraler Verträge zu Einzelfragen den EU-Gerichtshof, also das höchste Gericht der Gegenseite, entscheiden zu lassen. Dessen Entscheide seien unanfechtbar und würden von der Schweiz vorbehaltlos anerkannt und vollzogen. Das EU-Gericht wird damit auch für die Schweiz zum höchsten Gericht in Sachverhalten, die in bilateralen Verträgen irgendwie und irgendwo berührt werden. 

Drittens anerkennt die Schweiz das Recht der EU, Sanktionen – also Strafmassnahmen – gegen die Schweiz zu erlassen, wenn sie je einen Entscheid oder ein Urteil des EU-Gerichtshofs nicht übernehmen kann. Dieser Fall tritt insbesondere dann ein, wenn ein Schweizer Volksentscheid dem Bundesrat verbietet, einen Entscheid oder ein Urteil aus Brüssel oder Luxemburg unverändert zu übernehmen.

So lautet das Angebot, das der Bundesrat der EU mit dem Rahmenvertrag unterbreitet.  

Alarmierender Vergleich  
Vergleicht man diese drei Zugeständnisse des Bundesrats an die EU mit der vor 14 Jahren vom Bundesrat der Bevölkerung vermittelten Botschaft, wie die Schweiz auf
bilateralem Weg ihre Unabhängigkeit bewahren wolle und könne, dann sind die Gegensätze frappant: Im Jahr 2000 versprach der Bundesrat, die Schweiz bleibe unabhängig, weil sie Brüsseler Recht und Brüsseler Gerichtsurteile als mit der EU bilateral verkehrender Staat eben gerade nicht übernehmen müsse. Hingegen bietet der Bundesrat im Rahmenvertrag von heute der EU genau das an, was gegen die Unabhängigkeit gerichtet ist: Die automatische Übernahme von Brüsseler Gesetzen und Brüsseler Beschlüssen und die Anerkennung des EU-Gerichtshofs als höchste Gerichtsinstanz auch für die Schweiz. Der Bundesrat gefällt sich darin, diese sehr weitgehenden Zugeständnisse als Erneuerung des bilateralen Wegs zu etikettieren. 

Der Leser mag anhand der bundesrätlichen Aussagen, zwischen denen lediglich 14 Jahre liegen, selber entscheiden, ob mit dem angebotenen Rahmenvertrag tatsächlich eine Erneuerung und nicht weit eher die Zerschlagung, der Verrat am bilateralen Weg der EU als Opfergabe dargebracht wird. Denn dieser Rahmenvertrag macht all dem den Garaus, was vor 14 Jahren gemäss Bundesrat die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der Schweiz auf Dauer garantieren sollen hätte.     

Das EU-Rahmenabkommen, führt Peter Aebersold aus, würde Schweiz in einen Satellitenstaat der EU verwandeln: Einseitige Zugeständnisse der Schweiz haben die Verhandlungsblockade mit der EU inzwischen wieder etwas gelockert, so dass nun der Weg für das sogenannte  Rahmenabkommen frei ist. Dieser gefährliche Vertrag stellt einen schleichenden EU-Beitritt dar. Die Schweiz wäre gezwungen, alle zukünftigen Änderungen bei den rund 120 Verträgen mit der EU automatisch  - neuerdings heisst es im Orwell’schen Neusprech verharmlosend: dynamisch -  zu übernehmen. Eine Opposition gegen Änderungen wäre zwar noch möglich, würde aber von der EU mit Ausgleichsmassnahmen - Neusprech für Sanktionen -  bestraft. Bei Streitfällen würde der Gerichtshof der EU (EuGH) als letzte Instanz bestimmen, wer recht hat. Bei dem von Bundesrat Burkhalter behaupteten Schiedsgericht handelt es sich lediglich um ein zahnloses Schweizer Beurteilungsgremium und nicht um ein echtes Schiedsgericht, bei dem beide Parteien gleichberechtigt an einem Tisch sitzen. Der Lockvogel der EU für die Zustimmung zum EU-Schleichbeitrittsvertrag soll ein weitergehender Zugang zum EU-Binnenmarkt sein, der für die Schweizer Wirtschaft angeblich vorteilhaft wäre, tatsächlich jedoch einen Anschluss an die EU wie der vom Volk 1992 abgelehnte EWR-Beitritt wäre.  

Was ist der Plan des Bundesrates? 
Die Stellungnahmen des Bundesrates werden offenbar von Spindoktoren, die man durchaus als   Wahrheitsverdreher klassifizieren kann, laufend bearbeitet. Die negativ behafteten Begriffe wie Übernahme fremden Rechts, automatisch und Sanktionen werden durch positiv tönende und nichtsagende wie institutioneller Vertrag, dynamisch und Ausgleichsmassnahmen ersetzt. Ein juristischer Begriff wie Schiedsgericht wird vom Bundesrat wahrheitswidrig als ein blosses   Beurteilungskomitee missbraucht. Der Bundesrat und die EU-Befürworter behaupten gebetsmühlenartig, es würde sich beim Rahmenvertrag nicht um einen schleichenden Beitritt handeln. Gleichzeitig weigert sich der Bundesrat, sein Beitrittsgesuch, das im Mai 1992 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in Brüssel deponiert wurde, zurückzuziehen.

 

Quelle: Schweizerzeit Juni 2014