Anhaltender Widerstand gegen die TTIP 19.04.2015 20:23
In der gesamten EU haben am Wochenende Zehntausende gegen das umstrittene Freihandelsabkommen mit der USA protestiert.
Allein in München fanden sich 23.000 Demonstranten zusammen; in Leipzig
waren es 2000 und in Stuttgart gingen 1000 Demonstranten auf die Strasse. In
Berlin bildeten mehrere tausend Teilnehmer eine Menschenkette. Die Europäische
Bürgerinitiative ›Stop TTIP‹, die sich gegen die Handelsabkommen der EU mit Kanada
(CETA) und der USA (TTIP) wendet, hat mittlerweile in Deutschland eine Million
Unterschriften gesammelt, teilte die Initiative am 19. April mit. Fakt ist
indessen, dass die EU-Kommission dazu neigt, Proteste dieser Art, wozu auch ein
bereits in Brüssel vorliegendes, den Vorschriften entsprechend unterzeichnetes
Bürgerbegehren gehört, kalt zu übergehen.
Unter dem Stichwort ›Freihandel‹ resp. ›TTIP / CETA‹ haben wir eine ganze Reihe von Artikeln eingestellt.
Diesen fügen wir ein von der ›jungen Welt‹ am 15. April veröffentlichtes Interview hinzu, das
die Zeitung mit dem an der Universität Bremen lehrenden Professor Andreas Fischer-Lescano
geführt hat; dessen Forschungsschwerpunkte schliessen Öffentliches Recht und
Europarecht ein. Aus dem Gespräch geht Folgendes hervor:
»Fischer-Lescano hatte bereits vor
einiger Zeit in einem Gutachten darauf hingewiesen, dass mit den Handelsabkommen
CETA und TTIP sowohl gegen das Grundgesetz als auch gegen EU-Recht verstossen
wird: »Politische Entscheidungen müssen
demokratisch rückgebunden sein. Das ist bei den in CETA und TTIP geplanten Gremien
nicht im Ansatz realisiert. Sie sind nur mit Exekutiv-Vertretern besetzt; die
Mitgliedstaaten der EU sind in ihnen nicht vertreten, können also nicht
mitbestimmen.
Dennoch sollen sie weitreichende Entscheidungen treffen, teilweise sogar
in Bereichen, in denen die EU gar nicht tätig werden darf. Sie können zum
Beispiel den Geltungsumfang der Abkommen erweitern. Von diesen Gremien wird es
auch abhängen, welches Niveau im Hinblick auf die Verbraucherrechte und den Arbeitsschutz
realisiert werden kann. Das ist so etwas wie eine Generalermächtigung, die es
so nicht geben darf. Die Gefahr ist, dass auf diese Weise soziale Rechte
ausgehöhlt werden.
Sie vertreten die Ansicht, dass das in CETA
und TTIP vorgesehene Investor-Staat-Schiedsverfahren (ISDS) dem richterlichen
Rechtsprechungsmonopol widerspricht und sowohl das Grundgesetz als auch das
EU-Recht verletzt. Laufen die ISDS-Schiedsverfahren tatsächlich auf eine
private Paralleljustiz hinaus?
Das Stichwort ›private
Paralleljustiz‹ verharmlost die Probleme
des ISDS deutlich. Wenn dort das Problem läge, könnte man es in der Tat so
beheben, wie es Sigmar Gabriel nun vorgeschlagen hat, nämlich indem man einen
mit Berufsrichtern besetzten Investitionsschiedsgerichtshof gründet. Das wäre
aber ein Schritt in die falsche Richtung: Es gibt mit den
Menschenrechtsgerichtshöfen bereits Institutionen, die überstaatlich auch das
Eigentumsgrundrecht schützen. Sie tun das in einer ausgewogenen Weise unter Einbeziehung
von Gemeinwohlbelangen. Daneben spezielle Investitionsgerichte zu etablieren,
schwächt den allgemeinen Menschenrechtsschutz und verstärkt die Institutionen
der Freihandelsideologie. Das setzt sich nicht nur mit dem richterlichen
Rechtsprechungsmonopol des Grundgesetzes, sondern auch mit dem Grundsatz der
Autonomie des Unionsrechts in Widerspruch. Der grundrechtliche Kerngedanke,
dass ›Eigentum verpflichtet‹, wird durch diese ISDS-Verfahren ausgehebelt.
Eine
weitreichende Bestimmung bei CETA ist die sogenannte ›Ratchet Clause‹
[Sperrklinkenklausel]. Im Gegensatz zu der grossen Brisanz dieser Klausel
wissen die wenigsten, was sich dahinter verbirgt. Worum geht es?
Würde eine solche ›Ratchet-Klausel‹ in die Verträge eingebaut, wäre das eine Ewigkeitsgarantie
für die Privatisierung. Vorgenommene Privatisierungen öffentlicher
Dienste können dann zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr zurückgenommen
werden.
Die
Verträge führen also insgesamt zu einem Verlust staatlicher Souveränität. Wäre
das rechtmässig?
Grundgesetz und Unionsrecht verlangen, dass die Ausgestaltung der
Wirtschaftsordnung jederzeit der demokratischen Disposition unterliegen muss,
dass es jederzeit möglich sein muss, die Sozialbindung des Eigentums zu
erhöhen, die Strukturen der Sicherung öffentlicher Güter anders zu gestalten.
Diese Spielräume dürfen durch völkerrechtliche Verträge nicht ausgehebelt
werden.
Heribert
Prantl, Mitglied der Chefredaktion der ›Süddeutschen Zeitung‹ und
ehemaliger Richter, hat die ISDS-Schiedsverfahren vor fast einem Jahr ›eine
Perversion rechtsstaatlichen Denkens‹ genannt, die den ›Status der
Normalität‹ erhalten solle. Wie erklären Sie sich, dass die verfassungsrechtlichen
Bedenken öffentlich bisher so wenig zur Kenntnis genommen werden?
Die Debatte wird zur Zeit noch von den Investitionsschutzexperten, die
mit wenigen Ausnahmen die mit der Schiedsgerichtsbarkeit verbundenen Gefahren bagatellisieren,
dominiert. Die Diskussion wird aber noch an Fahrt aufnehmen, insbesondere wenn
die anhängigen Verfassungsbeschwerden verhandelt werden. Schon jetzt gibt es
durchaus auch prominente Verfassungsjuristen, die sich kritisch geäussert
haben, so unter anderem der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht,
Siegfried Broß. Ich bin optimistisch, dass es gelingen wird, das
rechtspolitische Problembewusstsein zu schärfen.« [1]
Die Konzerne reagieren auf die andauernden Proteste in ihrer Weise,
indem - der ›Frankfurter
Allgmeine Sonntagszeitung‹ vom 19. 4.
zufolge - die Vorstandsvorsitzenden
führender deutscher Konzerne jetzt für das Abkommen mobil machen. Daraus
erwächst dem Bürger, der ohnedies auf schwachem Boden angesiedelt ist, leider
zusätzlicher Widerstand. »Wir wollen
TTIP«, heisst die Aktion, für die der Bundesverband der
Deutschen Industrie, BDI, Top-Manager aus Industrie wie Mittelstand zusammengetrommelt
hat. Sie soll kommende Woche starten. »Die deutsche
Wirtschaft sieht in TTIP grosse Chancen«, betont
BDI-Präsident Ulrich Grillo gegenüber der ›F.A.S.‹ »TTIP ist nicht Kür, sondern Pflicht«, erklärt Daimler-Chef Dieter Zetsche. Wenn sich
Amerika in Richtung Pazifik orientiere, werde dies die Rolle Europas schwächen,
warnt der Automanager. Die erste Riege deutscher Konzerne ist in dem Bündnis
vertreten; zu den Unterzeichnern gehören Vorstandsvorsitzende wie Frank Appel
(Deutsche Post DHL), Kurt Bock (BASF) Marijn Dekkers (Bayer), Heinrich
Hiesinger (Thyssen-Krupp) Joe Kaeser (Siemens), Norbert Reithofer (BMW), Kasper
Rorsted (Henkel). Sie alle beschwören die Vorteile freier Märkte und verwahren
sich gegen den Verdacht, TTIP nutze nur Konzernen und gefährde das Wohl der
Verbraucher. [2]
Inzwischen wächst auch in der USA selbst der Widerstand gegen das
Abkommen. Allerdings ist bei dem unangefochtenen Einfluss, den die Konzernwelt
unvermindert auf Brüssel ausüben kann, absehbar, dass sich die
Auseinandersetzung noch lange hinziehen wird, mit ungewissem Ausgang.
[1] https://www.jungewelt.de/2015/04-15/003.php 15. 4. 15 »Eine solche Generalermächtigung darf es nicht geben« - Interviewer: Rolf-Henning Hintze
[2] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ttip-und-freihandel/daimler-chef-zetsche-ttip-ist-pflicht-13546605.html 19. 4. 15
|