Der große Happen - Von Wolf Gauer

d.a. Von dem seit Jahren in São Paulo ansässigen Journalisten und Autor, von dem wir

drei gewichtige Berichte über Vorgänge in Lateinamerika veröffentlicht haben [1], erhielten wir jetzt den nachfolgenden Blick auf das BRICS-Mitglied Brasilien: 

»Während ich dies schreibe, lärmt ringsum wieder einmal das Protestritual des satten brasilianischen Bürgertums, der panelaço: Man schleppt sich nach dem Dinner auf den Balkon und klappert mit Töpfen, die ansonsten nur das Personal in die Hände kriegt. Vorzugsweise dann, wenn sich Präsidentin Dilma Vana Rousseff im Fernsehen an die Nation wendet. Brasiliens Begüterte wollen nicht, was Rousseff will. Sie wollen keinen sozialen Ausgleich, keine Landreform, keine Armen im Flugzeug, keine Schwarzen in der Universität. Sie wollen den alten Staat der Eliten, der ihre Privilegien verwaltet. Nicht den der Arbeiterpartei, der in 12 Jahren 70 Millionen der 200 Millionen Brasilianer ein Bankkonto verschafft hat. Sie verzeihen Rousseffs knappen Wahlsieg im Oktober 2014 so wenig wie die New York Times oder die deutschen Parteistiftungen. Was schert die Töpfetrommler die nach der Militärdiktatur von 1964–1985 so mühsam eingeübte Demokratie und die trotz vieler Mängel beachtliche soziale Besserung? Brasiliens Eintreten für den Mercosur, für Solidarität mit Kuba und Venezuela, für die lateinamerikanische Integration und für eine grundsätzlich multipolare Weltordnung? Vergessen wir nicht: Das infantile Blechgebimmel wurde von chilenischen Großagrariern aufgebracht und läutete ab 1971 den blutigen Coup des Kissinger-Pinochet-Faschismus gegen die gewählte sozialistische Regierung Allende ein, später auch die US-gesponserten Putschversuche gegen Präsident Hugo Chávez Frías in Venezuela. 

Tod für Lula - Dilma, warum haben sie dich nicht aufgehängt?    Im Schatten der NATO-Kriegstreiberei in Europa erlebt Brasilien eine völlig neue, deutlich maidan-mäßig synchronisierte Hasskampagne einschließlich erster tätlicher Ausschreitungen und Rechtsbeugungen. Sie richten sich gegen die Präsidentin, gegen ihren Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva, gegen die Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores PT, und gegen unbequeme Linke aller Couleur. Ein Phänomen, wie dies selbst der frühere rechtslastige Wirtschaftsminister Luiz Carlos Bresser Pereira zugibt, das ich nie in Brasilien gesehen habe. Ein plötzlicher, kollektiver Hass der Oberschicht, der Reichen, auf eine Partei und eine Präsidentin. Nicht Besorgnis oder Angst, sondern Hass. Hass, weil da zum ersten Mal eine Mitte-links-Regierung ist, die auch links geblieben ist. Sie hat Kompromisse gemacht, sich aber nicht ausgeliefert. Hass, weil die Regierung eine starke und klare Präferenz für die Arbeiter und die Armen gezeigt hat.  [2]  

Obwohl auch Brasiliens Konjunktur schwächelt, ist die Beschäftigungslage immer noch gut und die Konsumversorgung die beste meiner bislang 41 Jahre in Brasilien. Trotz der Blockierung aller sozial fortschrittlichen Gesetzesvorlagen durch die Oppositionsparteien und trotz der erwähnten Kompromisse mit den Rechtskonservativen. Ex-Präsident Lula konnte diesen am 1. Mai wahrheitsgemäß vorhalten: Niemals haben Industrie und Banken so gut verdient wie in den Jahren der PT-Regierung. Dennoch durchlöcherte am 30. Juli ein Sprengkörper das Tor seines Instituto Lula, das sich für soziale Inklusion in Lateinamerika und Afrika einsetzt. Indessen versuchen Länderstaatsanwaltschaften, Bundesrichter, Bundespolizei und der Bundesrechnungshof Lula und Rousseff persönlich mit den Korruptionsvorwürfen um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras in Verbindung zu bringen. Und die Hetztruppe Morte ao Lula [Tod für Lula mit 7600 Mitgliedern]  kann auf Facebook ungehindert zu Gewalt und Mord motivieren. Warum haben sie dich nicht aufgehängt? fragen Transparente in Anspielung auf die Folterungen der jungen Dilma Rousseff während der Militärdiktatur.  

Coup der Konzernmedien 
Die Präsidentin ist weitgehend entmachtet, ihre parlamentarische Unterstützung dahin. Ihre Neun-Parteien-Koalition Kraft des Volkes vom Oktober 2014 zerbröselt. Teils wegen des zunehmend kapitalorientierten, technokratischen Kurses ihrer Regierung, teils aus pragmatischem, medial verwertbarem Ärger über die Rückfälle einiger PT-Kader in die traditionelle Korruptionskultur, ironischerweise aber vom Justizapparat der PT-Regierung selbst aufgedeckt. Die Schuldigen wurden verurteilt und sitzen in Haft: Ein Novum. Die großen rechts-sozialdemokratischen Oppositionsparteien PMDB und PSDB bestimmen heute die parlamentarische Szene. Ihr zentraler und hysterisch nachgebeteter Vorwurf der Korruption hinderte sie selbst nicht daran, am 27. Mai ungeniert die Wahlkampffinanzierung durch Unternehmerspenden zu legalisieren. Eine unflätige und nur mit deutschen Verhältnissen vergleichbare Medienkampagne gibt Rückenwind. Etwa fünf bourgeoise Familienkonzerne bestimmen, was die Brasilianer zu denken haben. Rezept: Täglich drei diskreditierende Nachrichten über Rousseff, Lula und PT, je eine über China und Wladimir Putin. Folglich lehnen 71 % der Bevölkerung die Präsidentin ab – laut Befragung durch Institute derselben Medienzaren. Der spanische Medienwissenschaftler Ignacio Ramonet stuft die mediale Schlacht, den Medien-Coup, als wichtigstes Kennzeichen der aktuellen lateinamerikanischen Auseinandersetzungen ein. Private Medienkonzerne übernehmen die Funktion der rechtskonservativen Parteien, sobald es gegen die Linke geht.

Zermürbung der Präsidentin

Der gegenwärtige Präsident der Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha (PMDB) koordiniert und fanatisiert Rousseffs parlamentarische Demontage, die auf Amtsenthebung beziehungsweise Selbstaufgabe abzielt. Er kommt aus dem äußerst berüchtigten Dunstkreis des ehemaligen Präsidenten Fernando Collor, der 1992 wegen Korruption und einer Rekordinflation von 1200 % zurücktreten mußte. Cunha setzte danach auf die wachsende parlamentarische Präsenz der einflußreichen evangelikalen Sekten Brasiliens und vertritt heute deren machtpolitische und finanzielle Interessen. Wegen passiver Bestechung in Höhe von mindestens 5 Millionen US-$ wackelt sein Stuhl, der Bundesanwalt plädiert auf 180 Jahre Haft. Im Gegenzug bedroht Cunha die Präsidentin damit, daß er jederzeit 11 Amtsenthebungs-Anträge seiner Gesinnungsgenossen auf die Tagesordnung setzen könne, sollte man ihm auf die Pelle rücken. Er ist niveau-typisch für den mittlerweile sozialdemokratisch beherrschten Kongreß. Hinter Rousseff stehen lediglich noch die kommunistische PCdoB mit 357000 Mitgliedern, die sozialistische PSB und die traditionelle Arbeiterpartei PDT, der Dilma Rousseff selbst entstammt. 

Frei Betto, der Dominikaner und Befreiungstheologe Bruder Betto, Weggefährte und Berater von Fidel Castro und Ex-Präsident Lula, glaubt angesichts des Drohszenarios nicht an ein Amtsenthebungsverfahren: Es gibt kein Motiv dafür [...]. Selbst wenn Dilma persönlich weitere drei Jahre aushalten würde, fürchte ich eher, daß sie aufgibt.  [3]  Folgerichtig konzentriert die Rechte ihr Feuer zunehmend auf den proletarischen Altpräsidenten Lula. Er nämlich könnte 2018 wieder zur Wahl antreten, und seine Wähler sind die 70 Millionen, die nicht vergessen haben, wer ihnen einen Vorschuß auf Umverteilung und gesellschaftliche Inklusion ermöglicht hat. 

Washingtons langer Arm   
Nicht alle Fäden werden in Brasilien gesponnen. Eine Senatskommission unter Führung von Rousseffs Wahlgegner Aécio Neves (PSDB) reiste im Juni nach Venezuela, um sich mit den politischen Opfern der Regierung Maduro zu solidarisieren. Wasserträger der USA, die sich sowohl in Washington als auch in der EU profilieren will. Der kühle, aber korrekte Empfang in Venezuela geriet in den atlantischen Medien zu einer Bedrohung von Leib und Leben: Brazil senators flee Venezuela attack.  [4]  Seit dem Zweiten Weltkrieg versuchen US-amerikanische Politiker und regierungsnahe Institutionen, Brasilien als Schurkenstaat mit nuklearen Ambitionen zu etikettieren. Sie können dabei auf hiesige Sympathisanten zählen, laut Insidern auch in den drei Gewalten: Am 28. Juli erfolgte überraschend die Inhaftierung des 76 Jahre alten Vizeadmirals a.D., Ingenieurs und Wissenschaftlers Othon Luiz Pinheiro da Silva. Dem mittlerweile pensionierten Militär und nur noch privatwirtschaftlich tätigen Wissenschaftler und Energiemanager wird Korruption vorgeworfen: Der Erhalt von 4,5 Millionen US-$ von Seiten eines bekannt generösen Baukonzerns. Ein Vorwurf, dessen Klärung andere Beschuldigte in Freiheit abwarten können.  

Da Silva ist immerhin eine Symbolgestalt brasilianischer Eigenständigkeit und Selbstachtung, kein Joseph Blatter, und seine Inhaftierung eine offene Machtdemonstration gegenüber Brasiliens linker, US-kritischer Regierung. Er dirigierte seit 1978 mit viel Geschick und Beharrlichkeit die autonome Nuklearforschung des Landes, die nicht auf die Bombe abzielt, sondern auf den Bau nuklearer U-Boot-Antriebe und Kleinkraftwerke. Dies gegen den ständigen Widerstand der USA und mit bemerkenswerten technischen Lösungen, vor allem beim Bau neuartiger Zentrifugen zur Urananreicherung. Da Silva hatte die besondere Unterstützung von Präsident Lula, der US-amerikanische Pläne einer Raketenabschußbasis im Staat Maranhão und eines Marinestützpunkts in Rio de Janeiro abgelehnt hatte. Die New York Times vom 28. Juli hat die Festnahme of that figure bejubelt und den Admiral als Vordenker eines geheimen nuklearen Militärprogramms in den 70er und 80er Jahren verleumdet.  

Admiral da Silvas Inhaftierung erinnert an die Anfänge der brasilianischen Nukleartechnologie in den 1950er Jahren, die sich auf die reichhaltigen Thoriumvorkommen in Amazonien stützten. Brasilien hatte damals in der (noch weniger als heute souveränen) BRD erste Zentrifugen geordert, die bei der Verladung in Göttingen und Hamburg von den Alliierten beschlagnahmt wurden. Der damals federführende Wissenschaftler Alvaro Alberto, ebenfalls Admiral, wurde auf US-Druck hin gezwungen, das eigenständige und wissenschaftlich brillante Nuklearprogramm Brasiliens einzustellen. Admiral da Silvas Verhaftung ist auch deshalb brisant, weil er den Bau der von Siemens/KWU und Areva/AN gelieferten Kernkraftwerke Angra II und Angra III energisch vorangetrieben hatte. Angra I war dagegen noch aus der USA bezogen worden. Sein tatsächliches Verbrechen ist, daß er, obwohl Absolvent des elitären US-amerikanischen Technologieinstituts MIT, nicht vor dem Imperium kuschte.  

Brasilien ist der ganz große Happen, der längst wegen seiner BRICS-Zugehörigkeit, wegen seiner enormen Reserven an Agrarfläche, Süßwasser, Sonneneinstrahlung, Öl, Mineralien und Arbeitskraft auf der imperialen Abschußliste steht. Die innenpolitische Krise, die Gewissenlosigkeit und politische Unbildung breiter, ökonomisch saturierter Wählerkreise und ihrer parlamentarischen Vertreter, animieren zum Komplott von rechts. Jedoch wenden sich inzwischen erste landesweite Demonstrationen dagegen. Rund 200.000 Menschen skandierten am 20. August Es gibt keinen Coup“, Cunha raus“ und Dilma bleibt“. Sie repräsentieren das Volk: 24 % mit einem Einkommen von unter 500 und 5 % über 5000 €, insgesamt 49 % afrobrasilianischen Ursprungs. 

Sollte die brasilianische Linke dennoch scheitern, ist ganz Lateinamerika binnen kurzem wieder der Hinterhof der USA. Das BRICS-Bündnis verlöre seinen einzigen Partner in dieser Hemisphäre und der ärmere Teil der Welt einen unersetzlichen Helfer und Hoffnungsträger.  


Anmerkung politonline d.a. 
Es sei daran erinnert, dass die
Staats-und Regierungschefs der BRICS-Gruppe - Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und ihre Verbündeten am 15. 9. 2014 in New York während der Vollversammlung der Vereinten Nationen deutlich gemacht hatten, dass sie entschlossen seien, ihre Völker durch wirtschaftliche Entwicklung zu schützen und sich dem Diktat der Finanzoligarchie der Wall Street und der Londoner City nicht zu beugen. Im Gegensatz dazu haben die Regierungen des Westens signalisiert, dass sie entschlossen sind, das todgeweihte transatlantische Finanzsystem und seine Banken um jeden Preis zu verteidigen, nicht zuletzt durch immer offenere Angriffe auf die nationale Souveränität.  [5]   

Nicht, dass Feststellungen dieser Art jemals bewirken könnten, die Schlafwandler in den Parlamenten aufzuwecken. 
 

 

[1] 
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2087
  17. 3. 13 
Zum Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Frías - Von Wolf Gauer
http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=2328   2. 11. 14 
Zum Ausgang der Wahlen in Brasilien - Von Wolf Gauer 
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1528   30. 5. 10 
Militärische Kontrolle und Einkreisung Lateinamerikas durch die USA - Von Wolf Gauer 

[2]  Folha de São Paulo, 1. 3. 2015, Übersetzung. u. alle ff.: Wolfgang Gauer

[3]  Brasil 247, 10. 8. 2015

[4]  Brazil senators flee Venezuela attack - Brasilianische Senatoren flüchten vor venezolanischer Attacke; BBC vom 19. 6. 2015

[5]  Strategic Alert Jahrgang 27, Nr. 40 vom 1. Oktober 2014