EU-Niedergang - Segen oder Desaster? - Von Olivier Kessler 08.02.2016 00:50
Flüchtlingskrise, Eurokrise, Schuldenkrise, Legitimationskrise: Beliebte Experten der Leitmedien
fürchten sich angesichts
anhaltender Krisen vor einem Bedeutungsverlust der Europäischen Union und
plädieren für eine weitere Macht-Zentralisierung in Brüssel. Doch was, wenn die
EU auseinanderfällt? Wäre das ein Anlass zur Sorge?
Die Europäische Union kommt
kaum mehr aus den Negativschlagzeilen: Die Schulden- und Währungskrise konnten
etwas verschoben, aber nicht behoben werden. Die wirtschaftlichen Unterschiede
der EU-Mitglieder verschärfen sich. Die Flüchtlingskrise bringt die
unterschiedlichen Auffassungen der Mitgliedsländer zutage, sodass mittlerweile
sogar das Schengen-System offen infrage gestellt wird. Zudem scheint
Grossbritannien mit dem EU-Austritt ernst zu machen.
›Schlimmstmögliche
Wendung des europäischen Dramas‹
Dieter Freiburghaus ist emeritierter
Professor für europäische Studien an der Universität Lausanne. Wenn es um die
Schweizer Europapolitik geht, gilt er unter etablierten Medien als
Meinungsmacher. Auch am 27. Januar hat er in der ›NZZ‹ Stellung
bezogen. Dort hat er seine Bedenken zum Bedeutungsverlust der EU aufgrund der
vielen Krisen, der sie aktuell ausgesetzt ist, geäussert: «Es gab schon immer Ansichten, welche dem Projekt der
europäischen Integration keine lange Lebensdauer voraussagten, neu ist jedoch,
dass gewichtige politische Stimmen ein Scheitern nicht mehr ausschliessen. Das
wäre dann wohl die schlimmstmögliche Wendung des europäischen Dramas, das Ende
aller Bedeutung und aller Missionen, die dieser Kontinent je hatte.» Der Leser
reibt sich verwundert die Augen. Ein emeritierter Professor, wohnhaft in der
föderalistisch aufgebauten, demokratischen und relativ freiheitlichen Schweiz
kommt in der freisinnigen ›NZZ‹ zu dem
Schluss, dass ein Scheitern der EU das schlimmstmögliche Szenario wäre? Die EU,
die quasi die Antithese zur Schweiz darstellt: Nicht föderalistisch, sondern nach maximalem Zentralismus
strebend. Nicht demokratisch, da EU-Kommissare nicht vom Volk gewählt
werden und negative Volksentscheide zur Weiterentwicklung der EU einfach
ignoriert worden sind. Und auch nicht freiheitlich, da EU-Bürger zunehmend in
bürokratische Fesseln gelegt und in jedem Aspekt ihres Lebens bevormundet
werden. Doch es handelt sich nicht um ein Missverständnis. Freiburghaus ist es
ernst. Er schreibt weiter: «Die Gefahr sind nicht die Flüchtlinge, ist nicht
die Klimaerwärmung, nicht die Globalisierung, sind nicht die Arbeitslosen; die
Gefahr besteht in der Erschütterung des Vertrauens in den Rechtsstaat und in
die Demokratie, in dieses subtil ausbalancierte Gleichgewicht von
Handlungsmacht und Kontrolle. Die Konstruktion der Europäischen Union setzt
voraus, dass ihre Mitglieder demokratische Rechtsstaaten sind, denn sie ist
eine Konstruktion des Rechts, ihr fehlen die staatlichen Gewaltmittel. Nur eine
frei- und bereitwillige Respektierung des gemeinsamen Rechtsbestandes sichert
ihre Errungenschaften.»
Freiburghaus unterlässt es
freilich, darauf einzugehen, um welche EU-Errungenschaften es sich dabei
handelt. Welche übernatürlichen Kräfte besitzt die EU im Vergleich zu den Nationalstaaten?
Was kann sie soviel besser, damit man ihr nachtrauern müsste, wenn es sie
einmal nicht mehr gäbe? Natürlich hat Freiburghaus Recht, wenn er schreibt,
dass die Erschütterung des Vertrauens in den Rechtsstaat und in die Demokratie
eine Gefahr darstellt. Dass diese Erschütterung aber gerade daher kommen
könnte, dass die Repräsentanten der Nationalstaaten - ohne
ihr Volk zu fragen - Kompetenzen nach Brüssel delegiert haben,
darauf scheint Freiburghaus nicht gekommen zu sein. Dass machthungrige und
volksferne EU-Funktionäre diese Kompetenzen missbraucht haben, um ein regulatorisches
Bürokratiemonster zu schaffen, das den von Freiburghaus gelobten ›gemeinsamen Rechtsbestand‹ für eigene Zwecke
instrumentalisiert und umgeformt hat, scheint für Freiburghaus ebenfalls nicht die
Ursache der Erschütterung des Vertrauens in den Rechtsstaat zu sein.
Verdrehen
von Ursache und Wirkung Nein, nach Freiburghaus wird
das Vertrauen in den Rechtsstaat und in die Demokratie dadurch erschüttert,
dass Bürger der EU-Mitgliedsländer nun misstrauisch werden und ihre politische
Elite dazu drängen, endlich Schritte zu unternehmen, um die aktuellen Probleme
in den Griff zu bekommen. In der Welt des Professors erscheint es dramatisch,
dass Bürger nun jene Politiker abstrafen, die das Schlammassel zu verantworten
haben und zunehmend ›rechtspopulistisch‹ wählen. Freiburghaus‘ Äusserungen sagen mehr über seine eigene, von
Zentralismus-Phantasmen geprägte Welt aus, in der Recht und Gerechtigkeit
ausschliesslich von internationalistischen Organisationen durchgesetzt werden
können. Freiburghaus fürchtet sich, wohl nicht zu Unrecht, vor einem Erstarken
extremistischer Kräfte und bedauert, dass Brüssel diese nicht in die Schranken
weisen könnte. Freiburghaus erkennt also, dass es böse Menschen gibt, die - wenn sie denn einmal auf nationaler Ebene an
die Macht gekommen sind - Böses
anrichten könnten. Der blinde Fleck,
den der Professor nicht erkennt, ist der, dass böse Menschen nicht nur auf
nationaler Ebene, sondern eben auch auf internationaler Ebene wie der EU in
Machtpositionen gelangen und dort noch viel grösseres Unheil anrichten können.
Macht korrumpiert. Absolute Macht korrumpiert absolut.
EU-Krisen
sind Zentralisierungskrisen Das Gebot der Stunde besteht
nicht darin, wie Freiburghaus hofft, eine weitere politische
Machtzentralisierung hin zum Brüsseler Funktionärsapparat anzustreben, denn
sämtliche EU-Krisen sind Zentralisierungskrisen. Die Eurokrise kommt daher,
weil Staaten ihre Kompetenz über ihre Währung an die Europäische Zentralbank abgegeben
haben. Durch ihre fortschreitende Tiefstzinspolitik hat die EZB Anreize zu einer
noch höheren Verschuldung gegeben, wozu sich insbesondere die Südländer
verleiten liessen, die damit ins Desaster abglitten. Auch dass mit dem Europäischen
Stabilitätsmechanismus ›ESM‹ ein zentralistischer Umverteilungsmechanismus
zugunsten überschuldeter EU-Länder geschaffen wurde, förderte den Unmut der
Nettozahler und in der EU insgesamt. Die Briten wollen aus der EU austreten,
weil für ihr Dafürhalten zu viele Kompetenzen in Brüssel zentralisiert wurden.
Auch die aktuelle Schengen-Krise ist ein Zentralisierungsproblem: Da jedes
Schengen-Land seine Grenzkontrollen aufgegeben hat und die Aussengrenzen äusserst
lückenhaft kontrolliert werden, können sich riesige Menschenmassen in Richtung
Zentral- und Nordeuropa bewegen.
Die Auflösung
der EU wäre ein Schritt in die richtige Richtung Dezentralisierung lautet das
Gebot der Stunde, und so lautet auch die Antwort auf sämtliche EU-Krisen, die
in Tat und Wahrheit Zentralisierungskrisen sind. Kompetenzen müssen zurück an
die Nationalstaaten delegiert und von dort den Regionen, Gemeinden und
Individuen zurückgegeben werden. Nur eine Dezentralisierung erlaubt es Europa,
seine sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt auch in Frieden auszuleben.
Nur, wenn man den Völkern den Freiraum lässt, ihre Umgebung nach ihren Vorstellungen
zu gestalten, und wenn sie nicht länger von einer weit entfernten Brüsseler
Machtzentrale bevormundet werden, können Krisen gigantischen Ausmasses, wie sie
sich aktuell zusammenbrauen, verhindert werden. Wer dezentralisiert, erkennt an,
dass die Völker in Europa verschieden sind und ihre Probleme auf ihre ganz
spezielle Art und Weise lösen können und wollen. Allen Völkern Europas
etatistische Einheitslösungen von oben herab verordnen zu wollen, ist eine
zutiefst uneuropäische Idee.
Die EU hat allenfalls noch
als Freihandelszone, als wirtschaftliches Kooperationsforum ihre Berechtigung, aber
keineswegs als politisches Zentralisierungsvorhaben. Ein Zerfall der EU in
ihrer heutigen Form wäre kurzfristig vielleicht ein Schock, längerfristig
allerdings ein Segen für die Völker Europas.
Es verwundert doch sehr,
welch staatsgläubige, grössenwahnsinnige und unschweizerische Ideologen von
unseren Schweizer Universitäten angeheuert werden. Noch mehr verwundert, dass
die vermeintlich liberale ›NZZ‹ solchen
Stimmen breitwillig eine Plattform bietet.
Quelle: http://www.schweizerzeit.ch/cms/index.php?page=/news/euniedergang_segen_oder_desaster-2553 29. 1. 16
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