Brasilien - Dilma Rousseff abseits westlicher Berichterstattung

d.a. Der in São Paulo beheimatete Autor und Journalist Wolf Gauer hat

uns über Jahre hinweg zuverlässige und ungefärbte Analysen über Lateinamerika zukommen lassen. Wir veröffentlichen hier seinen Bericht zur gegenwärtigen Lage in Brasilien  [1]: 

Die nationale Schande  -  Von Wolf Gauer   
Böllerschüsse und teures Feuerwerk in den »besseren« Vierteln von São Paulo signalisierten am 31. August 2016 das Ergebnis der Schlussabstimmung des brasilianischen Senats im beschämenden Amtsenthebungsprozess gegen Dilma Vana Rousseff, die legitime Präsidentin Brasiliens: Dilma ist abgewählt. Mit 61 Ja- und 20 Nein-Stimmen. Trotz ihrer fulminanten Verteidigungsrede, die so sicher in die brasilianische Geschichte eingehen wird wie das vergleichbare  Politische Testament des Präsidenten Getúlio Vargas, der sich 1954 nach der Niederschrift erschoss.

Der ungeliebte Interimspräsident Michel Elias Temer Lulia, vormals Rousseffs Vize  - eine Konzession an den sozialdemokratischen Koalitionspartenr PMDB -  ist nunmehr Regierungschef bis zu den Präsidialwahlen von 2018. Einige Senatoren geben zu, dass sie gegen ihre Überzeugung gestimmt haben, nämlich so, wie es die extreme Hasskampagne der Medienkonzerne gegen die integre Nachfolgerin von Präsident Lula da Silva diktierte.  [2]

Ihre politischen Rechte hat man Rousseff in separater Abstimmung überraschend belassen, und sie kämpft weiter. Beim Obersten Bundesgericht ist schon Beschwerde gegen das Verfahren eingelegt. Altpräsident Lula da Silva bemüht sich um eine nationale demokratische Front gegen die Regierung der Putschisten.

Laut Pressemitteilungen sind gegen 49 der 81 Senatsmitglieder Strafsachen anhängig, bislang ohne praktische Folgen. Vierzehn Jahre sozialer Ausgleich durch die Regierungen der Arbeiterpartei (PT) haben deutlich gemacht, dass Brasilien keine Spielwiese der Eliten mit Offshore-Konto und obligatorischer Zweitwohnung in Miami mehr sein kann. Lula da Silvas und Rousseffs Ausscheren aus der US-hörigen Nord-Süd-Gefolgschaft und ihre Hinwendung zur Süd-Süd-Solidarität, zur lateinamerikanischen Integration und schließlich zur BRICS-Gruppe waren die logische Folge ihres Bemühens um eine multipolare, solidarische Welt. Die von Rousseff angestoßene Offensive gegen die Korruption [Aktion Waschstraße] pervertierte in den Händen der bourgeoisen Justiz zur einer selektiven Hexenjagd auf die Arbeiterpartei, vor allem auf Altpräsident Lula da Silva. Seine für 2018 angekündigte erneute Kandidatur soll unbedingt verhindert werden. 

Der peinliche Nachfolger und Rio 2016‹ 
Michel Temer ist nun Präsident, obwohl er wegen Parteifinanzierungsvergehen in seinem heimatlichen Bundesstaat São Paulo für 8 Jahre unwählbar ist; weitere Korruptionsvorwürfe stehen an. Temer flieht sein Volk. Nach seiner olympischen Eröffnungsansprache von ganzen 7 Sekunden [ohne namentliche Ansage] war er mit 105 Dezibel ausgebuht worden. Keines der 18 angereisten Staatsoberhäupter  - 45 hatte man erhofft, bei der Olympiashow in London waren es 110 gewesen -  akzeptierte die Ehrenplätze neben dem Usurpator, wie ihn die kritischen Medien nennen. Nur 13 % der Bevölkerung würden ihn jemals wählen. Japans Regierungschef Shinzo Abe und Yuriko Koike, Gouverneurin der Präfektur Tokio, beide Gastgeber der nächsten Spiele, mussten sich bei der zeremoniellen Übernahme der olympischen Mission mit dem Parlamentsvorsitzenden Rodrigo Maia begnügen. Das Staatsoberhaupt hatte gekniffen, ein Skandalon in den olympischen Annalen. Temer schrieb den versetzten Japanern unverfroren, sie könnten ihn ja gerne in Brasilia aufsuchen. Präsident Lula da Silva hatte vormals den Olympiastandort Rio durchgesetzt, und Dilma Rousseff bewältigte die innenpolitischen und finanziellen Hürden. Brasiliens Olympioniken führen ihre Erfolge auf die Sportförderung der PT-Regierungen zurück. Seit 2005 wurden 17.000 SportlerInnen mit insgesamt 600 Millionen Real (rund 200 Mio. €) unterstützt. »Der Sport hat mein Leben verändert, für mich ist er die weltweit größte soziale Einbindung« versichert der Ringer Davi Albino, Afro-Brasilianer und vormals Straßenkind in São Paulo (Vermelho, 9. 8. 16); Rafaela Silva, die die Goldmedaille im Judo gewann, stammt aus einer Favela in Rio. Rafaela - ouro na favela (Rafaela - Gold in der Favela) skandierten die erstmals einbezogenen Mitbewohner. Die Sportbeihilfe ist nur eine der Errungenschaften, die nun der Sozialdemontage und Privatisierungswut der neuen Machthaber ausgeliefert sind.

Rio 2016 war so fremdbestimmt, korporativ dirigiert und durchkommerzialisiert wie die Fußball-WM 2014  -  der Zugang unerschwinglich für die ärmeren Brasilianer. Die elitären Sportarten der Kolonisatoren bis hin zu Golfspiel und Reiten in Frack und Zylinder illustrierten die persistente Führungs- und Normierungshoheit der reichen Länder. Das arrogante und unsportliche Verhalten einiger US-Olympioniken gegenüber russischen SportlerInnen und dem Gastland selbst spiegelte den hegemonialen Anspruch Supermacht im Norden. Die dennoch hochgestimmte und hoffnungsvolle Atmosphäre der Spiele war vor allem den teilnehmenden Frauen zu verdanken. Frauen sind dagegen im Kabinett Temer nicht vertreten, da gibt es nur Männer, weiße, versteht sich. Umso bedeutsamer war demgegenüber das Eintreten der Senatorinnen der Kommunistischen Partei (PCdoB) und der Arbeiterpartei (PT) für Dilma Rousseff. Sie waren Glanzlichter in der Woche der nationalen Schande, wie Lula da Silva die Gerichtstage im Senat etikettiert. (Brasil 247, 25. 8. 16).

Südamerika unter US-Hegemonie 
In Brasilien, im fünftgrößten Land und in der neuntgrößten Volkswirtschaft der Welt, leben 206 Millionen Menschen, die Hälfte aller Südamerikaner. Rousseffs ungerechtfertigte Ausschaltung  - und damit werden wir nun jeden Morgen wach -  bedeutet die endgültige Neokolonialisierung und den strategischen Missbrauch ganz Lateinamerikas. Sie ist im Zusammenhang mit der 2015 erfolgten fragwürdigen Wahl des US-hörigen Mauricio Macri in Argentinien zu sehen, Macri  sagte umgehend zwei US-Militärbasen zu, ebenso mit dem CIA-Monsanto Putsch gegen Präsident Fernando Lugo in Paraguay im Jahr 2012, der eine Basis für die US-Airforce erbrachte, ferner mit dem anhaltenden Wirtschaftsterror gegen Venezuela, der Wahl des US-Bürgers Pedro Pablo Kuczynski in Peru, die zu 3 US-Basen und mehreren Radarstützpunkte führte, mit den abstrusen Aktionen bolivianischer Bergleute, die sich auf einmal gegen die Gewerkschaften und für die Privatisierung stark machen, mit den unsäglichen Gräueln in Honduras und Mexiko und leider auch mit dem rätselhaften Weg, den Kuba eingeschlagen hat. 

Lula da Silva hatte der US-Regierung während seiner Amtszeit einen Marinestandort in Rio und die Nutzung einer Raumfahrtbasis in Alcântara (MA) verweigert  -  letztere flog daraufhin in die Luft. Temers Außenminister José Serra hat entsprechende Verhandlungen bereits wieder aufgenommen. Serra, selbst hochgradiger Korruption verdächtigt, gilt als der Mann Amerikas in der Regierung (Brasileiros, 3. 6. 16), der in Zukunft gegen Brasiliens BRICS-Zugehörigkeit eingesetzt wird. Bezeichnend für das Niveau der neuen US-Handlanger: Serra war auf Befragen der Journalisten nicht in der Lage, die einzelnen Mitglieder der BRICS-Staaten fehlerfrei zu benennen. 

Der US-gesteuerten Regierung Temer ist es gelungen, sämtliche Wirtschaftsindikatoren rapid zu verschlechtern. Die Inflation ist auf 9 % und das unter Rousseff kontrollierte Haushaltsdefizit von 70 Mrd. Real (20 Mrd. €) ist in 3 Monaten auf 170 Mrd. Real (48,5 Mrd. €) angewachsen, unter anderem wegen ebenso schamloser wie schlauer Gehaltsaufstockungen im oberen juristischen und administrativen Bereich. Dagegen haben 1,5 Millionen Brasilianer seit Temer ihre Stellung verloren. 

Die Automobilproduktion, wichtigster Industriewert, fiel allein im August um 18,4 %. Die Privatisierung der Bundesuniversitäten ist angepeilt, die Ausgaben im Schulbereich sollen um ein Drittel verringert werden, Schule ohne Staat ist die ausgegeben Losung, auch im öffentlichen Gesundheitswesen. Eine grundsätzlich private Gesundheitsversicherung für alle ist angepeilt. Argentiniens Präsident Mauricio Macri hat am 19. 9. 16 sein Land wieder der Verschuldungsagentur IWF geöffnet, Brasilien wird folgen. Brazil open for business konstatierte das Wall Street Journal am 15. 9. 16. In der Eröffnungsansprache zur 71. UNO-Sitzung am 20. September wollte Präsident Temer brasilianisches Volkseigentum zum Verkauf anbieten  -  ungeniert und am falschen Ort. 

Wie einem Bericht von Strategic Alert vom 23. 9. zu entnehmen ist, hat Michel Temer am 21. September bei einem Essen des Council of the Americas in New York ein erstaunliches öffentliches Geständnis ausgesprochen: Er sagte, das Absetzungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff, durch das er vor einem Monat Präsident wurde, sei begonnen worden, weil sie sich weigerte, das Austeritäts- und Privatisierungsprogramm der Banken durchzusetzen. Temer sagte, vor etwa zehn Monaten, »als ich noch Vizepräsident war, veröffentlichten wir ein Dokument mit dem Titel Eine Brücke in die Zukunft. …… Wir schlugen vor, daß die Regierung die in diesem Dokument vorgestellten Thesen übernimmt. Als das jedoch nicht funktionierte und der Plan nicht angenommen wurde, wurde ein Prozeß eingeleitet, der darin gipfelte, daß ich als Präsident der Republik eingesetzt würde.« Bekanntlich ist Rousseff offiziell wegen angeblicher Manipulation des Staatshaushalts abgesetzt worden und nicht, weil sie eine Wirtschaftspolitik betrieb, für die sie gewählt wurde. Zu seinen den Wall-Street-Investoren gegenüber erläuterten Plänen gehört neben den von Gauer genannten Punkten auch eine Beschneidung der Arbeitsrechte.  [3] 

Bei den Protesten gegen Rousseff, schrieb die Redaktion Konjunktion  [4]  Anfang Mai, hatten sich die Hinweise auf eine US-Einmischung gehäuft. »Washington hat ein gerütteltes Maß an Interesse, daß Brasiliens erfolgreiche gemeinsame Arbeit mit Rußland, China, Indien und Südafrika im Wirtschaftsbündnis der BRICS scheitert. Und was könnte da besser helfen, als einen oligarchischen Staatspräsidenten einzusetzen, dessen Partei die US-Interessen gutheißt und sogar verfolgt. Als wichtiger Verbündeter Rußlands und als wichtige Säule des BRICS-Wirtschaftsverbunds scheint Brasilien das nächste Opfer eines US-induzierten regime change zu werden. Der Hegemon kämpft an allen Ecken und Enden um sein politisches und wirtschaftliches Überleben. Anscheinend ziehen sich die Stricke um die USA immer enger, wenn man die vielen Brandherde betrachtet, die die USA auslösen und stetig anfachen.« Rousseff hatte während des Amtsenthebungsverfahren alle gegen sie gerichteten Vorwürfe zurückgewiesen, vor einem Bruch der brasilianischen Demokratie gewarnt und in ihrer Verteidigungsrede am 29. August erklärt: »Wir stehen vor einem Staatsstreich.« Sie unterstellte den Senatoren und Michel Temer, daß sie sich nicht mit einer Frau an der Staatsspitze abfinden könnten. Die frühere Guerillakämpferin erinnerte auch an ihre Zeit im Folterkeller während der Militärdiktatur: »Sie habe immer für eine freie und gerechte Gesellschaft gekämpft, eine solche drohe nun durch eine illegitime Regierung abgelöst zu werden.«

 

[1]  https://www.seniora.org/de/954
Die nationale Schande  -  Von Wolf Gauer    
[2]  Brasilien - Dilma und die repräsentative Demokratie - Von Wolf Gauer
19. 6. 16  Dilma und die repräsentative Demokratie - Von Wolf Gauer  
[3]  Strategic Alert Jahrgang 29, Nr. 39 vom 23. September 2016 
[4]  http://www.konjunktion.info/2016/05/brasilien-welches-ziel-verfolgen-die-usa-beim-amtsenthebungsverfahren-gegen-rousseff-einen-regime-change/
2. 5. 16