Die Verdammung des Luiz Inácio Lula da Silva - Von Wolf Gauer

Wir veröffentlichen hier einen weiteren Beitrag des in São Paulo

lebenden Journalisten, die dieser uns zur politischen Lage in Mittel- und Südamerika jeweils übermittelt. Nicht übersehen werden sollte, dass die darin zum Ausdruck gelangende Welt des Aktienkapitals auch die Welt zahlreicher, das WEF in Davos besuchender Teilnehmer ist.

Nach der Bestätigung und Verschärfung der Erstverurteilung  des ehemaligen brasilianischen Präsidenten (2003  – 2011) am 24. Januar geriet Wall Street in Verzückung: Die Aktien des von der fragwürdigen Regierung Temer zur völligen Privatisierung und Verschleuderung an US- und EU-Interessenten bestimmten brasilianischen Volkseigentums legten drastisch zu: 8,63 % bzw. 11,55 % im Falle der Öl- und Energieriesen Petrobras und Eletrobras. 

Positivnannte auch Alberto Ramos, Lateinamerika-Chef von Goldman-Sachs, die Entscheidung der drei Berufungsrichter, die Lulas Gefängnisstrafe von 9 auf 12 Jahre aufstockten, eine große Farce dagegen der Diplomat und ehemalige Chef der Nationalen Wahrheitskommission (CNV) Paulo Sérgio Pinheiro: Er bescheinigte dem brasilianischen Rechtswesen die Rolle des Putsch-Beihelfers der jetzigen Regierung (Brasil de Fato, 26. 1. 18). Landesweit aber herrschten Verzweiflung und bittere Tränen, wie ich am Tag des Urteilspruchs auf dem Platz der Republik in São Paulo beobachten konnte. Krokodilstränen weint die New York Times, die plötzlich Brasiliens Demokratie im Abgrund sieht (Brazil’s Democracy Pushed Into the Abyss, 23.1.18). Also dort, wo die US-amerikanischen Regime-Change-Masche störende Demokratien zu entsorgen pflegt, und wo schon am 31. 8. 2016 die letzte legal gewählte brasilianische Regierung der Präsidentin Dilma Rousseff deponiert worden ist. 

Der britisch-australische Menschenrechtler Geoffrey Robertson präsentiert die juristische Verfolgung Lulas seit 2016 vor der UNO und konstatiert die traurige Erfahrung, internationale Rechtsnormen und das Recht auf ein korrektes Verfahren vom brasilianischen System nicht befolgt zu sehen (Brasil247, 25. 1. 18). Lula versichert, er habe ein besseres Gewissen als alle seine Richter, die lediglich seine Vorverurteilung durch die bürgerlichen Leitmedien  - an erster Stelle die allmächtige Fernsehkette TV Globo -  nachvollzögen.     

Sachverständige stellen die Zuständigkeit der damit bisher befassten Gerichte ohnehin infrage. Und sie registrieren seit der grotesken Amtsenthebung von Lulas Nachfolgerin und Parteigenossin Dilma Rousseff mittels gekaufter Hinterbänkler eine wachsende Einflussnahme der Regierung auf die Justiz, die dritte Gewalt im Staate. Beispielsweise durch taktische Neubesetzungen vakanter Posten und ein für europäische Verhältnisse kaum vorstellbares medienwirksames embedding der befassten Richter. Der Tod des gradlinigen Bundesrichters Teori Zavascki bei dem ominösen Absturz eines Kleinflugzeugs am 4. 1. 17 hat weitere Fragezeichen gesetzt.

Angesehene brasilianische Juristen bemängeln, dass sich Lulas Verurteilung nicht auf Fakten sondern auf Überzeugungen bzw. ungeprüfte Kronzeugen-Aussagen stütze. Auf Kronzeugen nämlich beruht im Wesentlichen der Anti-Korruptions-Feldzug namens Waschstraße: Wer den meisten Dreck am Stecken hat, kann über die kontroverse delação premiada  [sinngemäß: belohnte Kronzeugen- Aussage] eine erhebliche Strafverminderung erreichen. Besonders dann, wenn sich  der Inhalt gegen Lula da Silva richtet. Die Aussage eines schwer belasteten Direktionsmitglieds des Baukonzerns OAS unterstellte dem Präsidenten Lula die unbezahlte Annahme einer großen Eigentumswohnung. Der Konzern sollte damit an Großaufträge kommen. Fakt ist jedoch, dass sich Lula und seine Frau für den Kauf der Wohnung zwar einmal interessiert, davon aber längst wieder Abstand genommen hatten, während die Baufirma unbeauftragt aber hoffnungsvoll schon mal eine teure Renovierung in Angriff nahm. Lula hat diese Wohnung niemals betreten, eine notarielle Eigentumsübertragung gibt es nicht. Die Immobilie wurde wenige Tage vor dem Urteilsspruch gerichtlich als Eigentum des verschuldeten Konzerns gepfändet. Trotzdem ist sie für Lulas erst- und zweitinstanzliche Richter Beleg seiner Bestechlichkeit. Der einfache Lebensstil und der bescheidene Vermögensstand des Arbeiterpräsidenten und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff sind sprichwörtlich und kontrastieren mit den enormen legalen und illegalen Kapitaltransaktionen und Geldkoffer-Affären im Umfeld der Regierung Temer.

Sechs weitere Prozesse nach Waschstraße-Muster werden gegen Lula vorbereitet. Der Regierungschef, so heißt es, muss ja von jedwedem Unrecht gewusst haben. Die bürgerlichen Medien schreien inzwischen nach Verhaftung. Nach einer zweitinstanzlichen Verurteilung ist sie trotz weiterer Berufungsmöglichkeiten möglich. Lulas Pass wurde schon kassiert. Der siebte Sohn analphabetischer Landarbeiter und ehemalige Dreher bei VW durfte der Einladung der Afrikanischen Union nach Äthiopien, wo Ende Januar die Ernährungslage der ärmeren Staaten diskutiert wurde, nicht mehr folgen. Ausgerechnet Lula, der nach den Worten von Enrique Yeves, Chef der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen »mit der Umverteilung des Reichtums in weniger als 10 Jahren 36 Millionen Brasilianer aus der Armut geholt, die Kindersterblichkeit um 45 % verringert und die Unterernährung um
82 % vermindert […] hat.« (Brasil247, 28. 12. 17)
  

Selbst Rechtslastige räumen ein, dass mit der Verurteilung einzig und allein Lulas Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober verhindert werden soll. Wählerumfragen zufolge würde er schon im ersten Wahlgang mehr als 38 % erzielen. Und das gilt auch für seinen Kandidaten, bzw. seine Kandidatin einer linken Parteienfront, die Lula nun für den Fall des Verlusts seiner Freiheit und seiner politischen Rechte anstrebt.

Lulas Arbeiterpartei kann dabei auf mindestens 3 weitere Parteien zählen. Vor allem auf die beispielhafte Solidarität der Kommunistischen Partei von Brasilien (PCdoB) und ihre couragierten Vorkämpferinnen im Parlament. Die junge überparteilich beliebte und respektierte Präsidentin des PCdoB, Manuela d’Ávila, gilt als Hoffnungsträgerin der brasilianischen Linken, auch ihr Parteigenosse Flávio Dino, derzeit Gouverneur des Bundesstaats Maranhão.  

Unerwarteter Zuspruch kommt selbst von ver.di, IG Metall und von einigen US-Abgeordneten. Dennoch gilt unterm Strich und angesichts der Tatsache, dass in Brasilien die Hälfte aller Südamerikaner leben, das Fazit des portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos: »Lula war inakzeptabel für den US-Imperialismus«. (Sul21, 25. 1. 18).

 

Siehe hierzu insbesondere  
http://www.politonline.ch/?content=news&newsid=1528
  30. 5. 10 
Militärische Kontrolle und Einkreisung Lateinamerikas durch die USA - Von Wolf Gauer

Quelle:
https://www.seniora.org/politik-wirtschaft/politik/die-verdammung-des-luiz-in%C3%A1cio-lula-da-silva.html