Der Boden, das Sprungbrett der Banken - von Werner Müller

In China gab es eine Zeit, da war der Bodeneigentümer - und wenn es ein Literat war -gegenüber den Menschen, die einer Katastrophe ausgesetzt waren, z.B. einer Hungersnot, verantwortlich. Dass aus Besitz Pflichten erwachsen, entspricht heute noch ethischen Grundsätzen.

Boden ist nicht gleich Boden. Landwirtschaftlicher Boden - und um diesen wollen wir uns in erster Linie Gedanken machen - unterliegt besonderen Gesetzmässigkeiten, die zum Glück im Raumplanungsgesetz berücksichtigt worden sind. Es war eine der letzten Arbeiten von Frau Alt-Bundesrätin Elisabeth Kopp, die sie über die politische Bühne brachte. Ich höre immer wieder, dass ihr darin ein guter Wurf gelungen sei. Sie hatte die nicht leichte Aufgabe, raumplanerische Vorgaben mit erbrechtlichen und spezifisch landwirtschaftlich- ökonomischen Prämissen zu verbinden. So wurde im Grossen und Ganzen verhindert, dass die krebsartige Verwucherung und Verstädterung der Schweiz sich nicht ausschliesslich auf dem Rücken bäuerlichen Bodens ausbreitete, wenngleich Einzonungen von allzu grossen Baulandreserven die Verbauung nicht aufhalten konnte, sie sogar gefördert hat. Aus der Vogelperspektive betrachtet stellt sich die Schweiz - zumindest im Mittelland - als eine zusammenhängend überbaute Fläche dar, der in Europa nichts Vergleichbares gegenübersteht. Wer die Landesgrenzen überschreitet, erblickt im angrenzenden Ausland nach wenigen Kilometern eine Weite, die bei uns verlorengegangen ist. Demgegenüber erscheint bei uns alles eng und klein, kompliziert und teuer. Wir leisten uns den Luxus, auf den teuersten Böden der Welt zu produzieren und zu wohnen, was in den Diskussionen kaum erwähnt wird. Statt dessen heisst es, die Schweiz sei eines der reichsten Länder, alles sei zu teuer, die Löhne zu hoch. Mit all diesen Fragen steht der Boden in Verbindung. Wir haben eine ungemein viel grössere Verantwortung wahrzunehmen, als diesen Boden einfach den Banken als Sicherheit zu überschreiben.
 
Wie kam es dazu, dass sich die schweizerischen Bankunternehmungen an die Spitze der Weltwirtschaft emporschwingen konnten? Alle haben 1848 klein angefangen, einige blieben auf der Strecke. War es nicht das Hypothekargeschäft, mit dem sich die Bankunternehmungen hervorgetan haben? Es soll nicht die Solidität der Banker angezweifelt werden. Sie haben sich nicht bereichert. Sie haben dasjenige getan, was im Bankgewerbe üblich ist. Sie haben Kredite erteilt und je vorsichtiger die Erteilung der Kredite gehandhabt wurde, umso besser lief das Geschäft für sie. Sie haben sich bei der Kreditvergabe immer auf den Wert des Bodes gestützt. Mit dem Ansteigen des kapitalisierten Wertes von Boden stiegen die Bankvolumen, somit auch die übrigen Geschäfte. Die Banken sind am Wert des Bodens erstarkt, bzw. durch die Verschuldung der Volkswirtschaft über die Landesgrenzen hinaus  mächtig geworden. Sie haben sich praktisch ein Monopol geschaffen. Das ist eine der Säulen, an der das schweizerische Bankenwesen überdurchschnittlich gewachsen ist, indem das Volumen der Kredite stetig anstieg, nicht zuletzt dank der Redlichkeit derjenigen, welche die Schuldzinsen bezahlt haben. Es bleibt das Geheimnis der Banken, wie vielmal die Schulden zurückbezahlt worden sind.
 
Dann erwuchs den Banken eine zweite Säule im schweizerischen Markt. Als die zweite Säule der Altersvorsorge in den 70er Jahren mit einem Kapitaldeckungsverfahren für obligatorisch erklärt wurde (jeder spart mit Unterstützung des Arbeitgebers sein eigenes Kapital an), hatten die namhaftesten Arbeitgeber bereits ihre Pensionskasse. Man war überzeugt, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben. In der Tat bildeten Umlageverfahren plus Kapitaldeckung eine ideale Ergänzung zweier Verfahren. Ausserdem repräsentierte das international anerkannte Modell eine typisch schweizerische Kompromisslösung auf dem Hintergrund einer sozialistischen und privatwirtschaftlichen, sprich politisch/ökonomischen Basis. Dieses Modell stiess im Volk auf unerschütterliches Vertrauen. Es würde heute noch bestehen, hätte man einen wesentlichen Grundsatz nicht über Bord geworfen: die Vorsorgegelder in mündelsicheren Anlagen zu deponieren.
 
Angeblich befanden sich die Institutionellen Anleger in einem Anlagenotstand. Schrittweise wurden die Schleusen geöffnet, welche spekulative Anlagen in den wilden Ozean des Kapitals entliessen, wo sie sich selbständig vermehren sollten. Obwohl bei der Abstimmungskampagne zur 2. Säule die Sicherung von Vorsorgegeldern noch ein wichtiges Thema war, das viele Anwärter auf künftige Renten dazu bewogen haben mag, der privatwirtschaftlichen Lösung den Vorzug gegenüber einer Volkspension zu geben  (Umlageverfahren), wurde der Strom in den Ozean der Spekulation geleitet. Nur ganz besonnene Verwalter von Vorsorgegeldern fluteten ihre Rückhaltebecken nicht, und es sind bezeichnenderweise auch diese, die heute relativ unbeschädigt dastehen. Dem Volk aber wurde der Gesamtzusammenhang nicht erklärt, geschweige denn begangene Fehler eingestanden.
 
Dass in der kleinen Schweiz durch Spekulationen auf dem freien Kapitalmarkt - der eher einem Casino entspricht - innert kürzester Zeit ein Schaden von mindestens 100 Milliarden Franken entstehen konnte, wird der Bevölkerung gegenüber übertüncht, indem man die demografischen Entwicklung als Begründung heranzieht. Dem aufmerksamen Leser werden immer mehr Einzelfälle bekannt, wie jener der bernischen Lehrerversicherungskasse BLVK, der zwischen 2000 und 2004 über eine Milliarde Franken Deckungskapital abhanden gekommen ist. Versicherungstechnische Experten erteilten nämlich im Jahr 1999 der Verwaltungskommission die Zustimmung, den Anteil an Aktienanlagen von 28 % auf 42 % zu erhöhen. Prompt stiegen die Anlageverluste zwischen 2001 bis 2002 auf 5 Milliarden. Die bereits durch diverse Finanzpleiten des Kantons Bern strapazierten Steuerzahler sollen nun auch noch diese Last tragen.
 
Aber weit grösser sind die Fehlbeträge, die der Bund zu decken hat. Bei Altrentnern, die aus Kassen, die ausfinanziert und ausgegliedert wurden (Swisscom, Ruag, teilweise SRG, ETH), soll das Verhältnis von Rentnern innert nur 15 Jahren von 2,9 Beitragszahlern pro Rentner auf nur noch 1,39 gesunken sein. Per Juni 2003 wurde die neue Bundespensionskasse Publica geschaffen, was weitere 12 Milliarden zu Lasten der Steuerzahler erforderte. Insgesamt muss der Bund 34 Mrd. - immerhin ein Viertel der aktuellen Bundesschulden - aufbringen (incl. SBB, Post, Ruag, Swisscom und Skygide).
 
Bis heute habe ich keinen Kommentar gelesen, bzw. von einem Eingeständnis vernommen, dass Fehler bei der Verwaltung von Vorsorgegeldern begangen wurden und dass man die anfänglichen Vorsichtsmassnahmen - die zwingende Vorschrift von mündelsicheren Anlagen - fast mutwillig aufgegeben hat. Wer aber aus Fehlern nichts lernt, wird immer wieder die gleichen Fehler begehen. Die Banken sind derart mächtig, dass sie ungeniert weitermachen können. Wer hindert sie daran? Die nächste Finanzkrise? Leider ist das Casino-Denken derart verankert,  dass es schwerfällt, dagegen anzugehen.
 
Demgegenüber lesen wir von Spitzenergebnissen der UBS und der CS-Holding. Beim Zufluss neuer Anlagegelder ist die UBS einsame Spitze. Woher kommen diese Gelder? Marcel Ospel berichtete in der NZZ v. 19. Februar 2005: „Der Neuzufluss ist das Resultat einer mehrjährigen strategischen Ausrichtung auf wenige Kerngeschäfte. Daran haben wir uns auch über die schwierigen Zyklen der Finanzindustrie diszipliniert gehalten. Wir investierten viel und früh ins Vermögensverwaltungsgeschäft in Europa, Amerika und Asien.
 
Helmut Hubacher erinnert daran (Schweizer Illustrierte v. 27.2.06), dass der alte VR-Präsident, der noch nicht fusionierten UBS, Nicolas Senn, öffentlich verkündete: „Gewinnmaximierung allein könne niemals das einzige Kriterium sein. Die Bankgesellschaft habe auch eine Verantwortung gegenüber dem Staat, der Gesellschaft und dem Personal wahrzunehmen.“ Wie hat sich doch die Kultur der Schweizer Bank nach der Megafusion im Jahr 1998 verändert.
 
Der Boden ist eine mündelsichere Anlage. Man kann sich fragen, warum die Bodenbesitzer diese Wertsicherung ausschliesslich den Banken überlassen müssen. Könnte Bodenbesitz dort, wo er nicht übermässig belastet ist, nicht aus der Belehnung herausgeführt und anderen Zwecken zugeführt werden, z.B. als mündelsichere Anlage für Vorsorgeinstitutionen? Die institutionellen Anleger (Pensionskassen, Stiftungen etw.) reden seit langem von Anlagenotstand. Wie wäre es, wenn ein Modus vivendi gefunden würde, anlagesuchende Institutionen am Wert der Böden zu interessieren, z.B. mit der Auflage, dass die Böden nicht einer zweckentfremdeten Nutzung zugeführt werden dürfen. Ich könnte mir vorstellen, dass es innerhalb von Verbänden, Vereinen oder Genossenschaften Spezialisten  gibt, die mit dieser Idee etwas anzufangen wüssten. Meiner Ansicht nach sonnen sich die Banken in der Exklusivität einer Sicherheit, die sie sich genommen haben, weil niemand ausser ihnen damit etwas anzufangen wusste. Sie rechnen nicht damit, dass ihnen diese Garantie je einmal abspenstig gemacht werden könnte.
 
Es gibt genügend Beispiele, an denen die Verluderung der Bodenfrage studiert werden könnte. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Bodenfrage vor keinem Wirtschaftssystem Halt macht. Wenn wir die Auswüchse in liberalen Systemen hervorheben, müssen wir auch auf das Versagen im Sozialismus aufmerksam machen. Kein politisches und wirtschaftliches System hat die Mutter Erde schändlicher vergewaltigt, als dies in den sozialistischen Staaten geschehen ist und noch geschieht, unabhängig davon, ob es sich um Länder der ehemaligen Sowjetunion handelt, oder um Staaten in Zentral-Afrika oder im Sozialismus, wie er im arabischen Einflussgebiet (Libyen) studiert werden kann. Die Aufzählung zeigt, dass sich bisher kein System der Welt zu einer Lösung der uns hier interessierenden Frage bereitgefunden hat. Man kann sagen: die Menschen sind sich der Gefahr nicht einmal bewusst, in der sie sich begeben, wenn sie ihres freien Handlungsspielraums beraubt werden.
 
Der ganze Komplex von Fragen hat eine psychologische Seite, die zuvor durch religiöse Zwänge geregelt war. Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass die Gier nach immer mehr Geld - heute ein ökonomisches Dogma - auf einen psychischen Defekt hinweist. Erich Fromm hat bereits 1967 die Haltung des Habenwollens als das eigene Ich deformierend entlarvt, weil sich das Ich nach aussen orientiere, anstatt auf die Potentiale der Selbstverwirklichung, der Freundschaft, der Liebe und des Glücks. (Erich Fromm, Märchen, Mythen, Träume, Rohwolt 1981, Hamburg)
 
So ist es auffallend, dass wir ausgerechnet in den Ländern der sogenannten freien Marktwirtschaft kaum wahrnehmen, dass eine tiefgreifende Fehlentwicklung stattfindet, die sich durch die Vermaterialisierung von Werten ergibt, die eigentlich unantastbar sein sollten. Unser Wahrnehmungsvermögen ist in einer Welt, in der vordergründig das Geld regiert, derart eingeschränkt, dass wir die Versklavung nicht einmal mehr erkennen. Es handelt sich um Fragen, die verdrängt werden, so wie Alkoholiker oder Drogensüchtige verdrängen, was sie süchtig macht. Wer sich auf die Schiene zunehmender Verschuldung begibt, nimmt alle Folgen in Kauf, die damit eingehandelt werden, so, als seien diese Naturgesetze. Es werden tausend Antworten gefunden, um die absolute Notwendigkeit begründen zu können, die angeblich mit der rasanten Entwicklung des Marktes einhergeht. Es soll nicht verheimlicht werden, dass es leider oft Berater sind oder neue Gesetze, welche die Landeigentümer in eine zunehmende Abhängigkeit bringen .
 
Es scheint aber auch, dass Schweizerinnen und Schweizer diese existentiellen Fragen mit einer gewissen Nonchalence betrachten. Nonchalence deshalb, weil der Boden bei steigenden Preisen die Besitzer scheinbar automatisch reicher werden lässt. Dass dies ein Trugschluss ist, wird oft zu spät realisiert, denn „reicher“ kann und wird nur derjenige sein, der den Gewinn aus dem Verkauf realisiert, ohne dass ihm der Staat den grössten Teil wegsteuert. Ausserdem stellt sich die Frage, wie der Erlös anzulegen ist. Es gilt immer noch, was einst als Witz kursierte. Auf die Frage, wie der Erlös anzulegen sei, sagt der ehrliche Banker: Boden kaufen! Was sich der Volksmund ausdenkt, verbirgt in der Regel eine tiefschürfende Wahrheit. Boden sollte eigentlich kein handelbares Gut sein.
 
Wir haben vergessen, dass Boden in der alten Eidgenossenschaft Allgemeingut war und dem Meistbietenden zur Nutzung übergeben wurde. Hand aufs Herz: wäre das nicht immer noch die reellste Nutzungsform? Mein Vorschlag geht in diese Richtung. Es wird mir jedermann zustimmen, dass gegenwärtig keine politische Aussicht besteht, eine derartige Umgestaltung ins Auge zu fassen. Aber muss deshalb ein erstrebenswertes Ziel missachtet werden, um dauernd mit Vollgas in die falsche Richtung zu rasen? Vielleicht könnten wir in kleinen Schritten darauf hinarbeiten. Vielleicht sollten wir kleine Modelle schaffen, die ein leuchtendes Beispiel geben. Vielleicht geht es auch nur darum, ein Bewusstsein zu schaffen, um in der Lage zu sein, dass nur eine Änderung - ein Systemwechsel - die zunehmende Versklavung aufhalten kann.