Auf dem Weg in den präventiven Sicherheitsstaat - Einfallstor für umstrittene Sicherheitsmaßnahmen und -techniken

Wir bringen hier ein von Birgit Gärtner mit dem Bremer Anwalt und Menschenrechtler Rolf Gössner über die innere Aufrüstung zur Fußball-WM und zum Bush-Besuch geführtes Gespräch

Manchmal erweckt es den Eindruck, als bereite sich das Land für die WM auf die Invasion feindlicher Truppen vor und nicht auf den Besuch von "Freunden" aus aller Welt. Ist die WM nun ein Sportereignis oder eine Militärübung?
Rolf Gössner: Selbstverständlich müssen die Sicherheitsorgane auf ein sportliches Großereignis dieser Dimension gut vorbereitet sein. Doch die Bundesrepublik geht weit darüber hinaus und nimmt dieses sportliche Mega-Ereignis zum Anlass, den Staat noch weiter aufzurüsten, verschärft auf Überwachung und Kontrolle zu setzen, auf Abschottung und Ausgrenzung, auf Machtdemonstration und Abschreckung. Schon im Vorfeld der WM schien es, als würde in einer Art von nationalem Sicherheitswahn der Ausnahmezustand geradezu herbeiphantasiert, als müsse sich der Gastgeber Deutschland vor einem feindlichen Überfall schützen, als wäre die WM ein Großschadensereignis und kein Sportfest.
 
Was bedeutet das in der Praxis?
R. G.: Die Fußball-WM gerät streckenweise zu einer Art Antiterrorübung und zugleich zum Einfallstor für umstrittene Sicherheitsmaßnahmen und -techniken: mit Überwachungschips verwanzte WM-Tickets, polizei- und geheimdienstliche Sicherheitsüberprüfungen von über einer Viertel Million WM-Bediensteten, Journalisten, Sicherheitspersonal, Würstchenverkäufer und Reinigungskräften; extensive Videoüberwachung von Stadien und Stadtzentren, Einsatz von Bundeswehrsoldaten, Überwachung des Luft- und Landraums durch AWACS-Aufklärungsflugzeuge, verdachtsunabhängige Kontrollen, Internationaler Datenaustausch über Risikofans und szenekundige verdeckte Ermittler, Gefährder-Ansprachen, also polizeiliche Haus- und Arbeitsplatzbesuche bei verdächtigen Personen, um sie vor der Teilnahme an Fußballspielen zu warnen, Reiseverbote, polizeiliche Meldeauflagen, Aufenthalts- und Stadionverbote, Präventivhaft in Gefangenensammelstellen, die in den Stadien eingerichtet wurden sowie kurze Prozesse in beschleunigten Strafverfahren, die gegen in flagranti ertappte Täter durchgeführt werden können...
 
Wie gefährlich ist denn so ein Wüstchenverkäufer?
R. G.: Das kann ich auch nicht sagen; es dürfte ja maßgeblich von der Qualität der Würstchen abhängen, die er verkauft. Aber im Ernst: Um etwas zu verhindern, das im Zweifel auch mit noch so rigiden Maßnahmen nicht zu verhindern sein wird, wurde vor der WM der größte Sicherheitscheck in der Geschichte der Bundesrepublik durchgeführt - und zwar ohne spezielle gesetzliche Grundlage. Im Rahmen der Akkreditierung für die WM mussten sich über eine Viertel Million Menschen, die irgendetwas mit der WM zu tun haben, einer polizei- und geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Sie mussten sich als mögliche "Innentäter" der Durchleuchtungsprozedur stellen, um in den Sicherheitszonen um und in den Stadien ihren beruflichen Tätigkeiten nachgehen zu können - sofern sie nicht als "Sicherheitsrisiken" aussortiert wurden.
 
Welche Kriterien werden dabei zugrunde gelegt?
R. G.: Schon die Teilnahme an Demonstrationen oder Kontakte zu Organisationen, die als "extremistisch" gelten, konnten dazu führen, dass die Antragsteller abgelehnt wurden - ungesicherte Verdachtsdaten von Geheimdiensten oder Polizei genügen insoweit. Auch die Besorgnis möglicher Erpressbarkeit, also etwa Schulden oder "Zweifel an der Zuverlässigkeit oder am Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung" reichen aus, um zu einem personellen "Sicherheitsrisiko" deklariert zu werden - was schwere berufliche und wirtschaftliche Nachteile nach sich ziehen kann, bis hin zu faktischen Tätigkeits- und Berufsverboten.
 
Keine Phantasie scheint zur politischen Dramatisierung des Sicherheitsrisikos zu weit hergeholt
Womit werden die genannten Maßnahmen legitimiert?
R. G.: Sicherheitspolitiker, Polizei- und Geheimdienststrategen feilten schon lange an einem Bedrohungsszenario, das solche Maßnahmen legitimiert und in dem besoffene Fußball-Fans, gewaltbereite Hooligans, fingerfertige Taschendiebe, brutale Zuhälter und Menschenhändler eine gewichtige Rolle spielen; nur noch getoppt von einer ständig lancierten "Gefahr des Internationalen Terrorismus", obwohl es für Terroranschläge selbst nach offiziellen Angaben keinerlei Anzeichen gibt - im Gegensatz zum alltäglichen rassistischen Terror gegen Migranten, der offiziell gehörig heruntergespielt wird, wie die erregte Debatte um
"no-go-areas" in Brandenburg zeigte. Die Sicherheitsbehörden wähnen Deutschland längst im Visier islamistischer Terroristen. Keine Phantasie scheint zur politischen Dramatisierung zu weit hergeholt: Schmutzige Bomben, Selbstmordanschläge, Flugzeuge als mörderische Waffen gegen Tausende. So lassen sich offensichtlich die absurdesten Sicherheitsmaßnahmen" der Bevölkerung als notwendig und wünschenswert verkaufen, die doch längst hätte erkennen können, dass auch mit noch so rigiden Präventionsmaßnahmen Gefahren und Gewalt nicht wirklich zu verhindern sind, wie der jüngste Amoklauf im Berliner Hauptbahnhof zeigte.
 
Wie groß ist die terroristische Gefahr real?
R. G.: Das weiß letzen Endes niemand so recht. Es gibt, wie gesagt, ein WM-Bedrohungsszenario, mit dem fleißig innere Sicherheitspolitik betrieben wird. Gerade diese Art von "Sicherheitspolitik" folgt einem Trend, der schon lange eingeschlagen worden ist und der seit den Terroranschlägen in den USA vom 11.9.2001 verschärft vorangetrieben wird. Seitdem liefert die "internationale Terrorgefahr" eine bewährte Superlegitimation für schwere Grundrechtseingriffe. Diese ständige diffuse Bedrohung legitimiert offenbar die Preisgabe von Bürgerrechten und begünstigt angepasstes Wohlverhalten der Bürgerinnen und Bürger: "Angst ist das Schmieröl der Staatstyrannei", so lautet eine frühe Erkenntnis sinngemäß. Es grenzt an Volksverdummung, wenn die herrschende Politik Allmacht suggeriert - während die staatliche Hochrüstung selbst zu einer Gefahr für die Bevölkerung wird. Unhaltbare Sicherheitsversprechen und das Streben nach totaler Sicherheit bergen vielmehr totalitäre Züge in sich. Sie können zerstören, was sie zu schützen vorgeben: die Freiheit.
 
 "Gewalttäterdateien" wurden von Hooligans auf andere Gruppen ausgeweitet
Hooligans sind indes ein reales Problem. Wie damit umgehen?
R. G.: Sicherlich ist hier ein manifestes Gewaltproblem auszumachen, aber längst nicht in der Dimension, wie uns immer wieder weisgemacht wird. An Hooligans wurden im übrigen schon früher bestimmte Gesetzesverschärfungen und Sicherheitsmaßnahmen zu allererst ausprobiert und angewendet, nicht selten später dann auf andere gesellschaftliche Gruppen ausgedehnt: Beispielswiese 2001 bei der Einführung der sogenannten Gewalttäterdatei "Links" zur "Verfolgung und Verhinderung politisch links motivierter Straftaten" (Kürzel: LIMO). Diese Datei ist nach dem Vorbild der Gewalttäterdatei "Sport" (auch "Hooligan"-Datei genannt) konstruiert, die es schon früher gab, nämlich seit 2000. Für die Betroffenen kann ihre Erfassung in beiden Dateien fatale Konsequenzen zeitigen, wie etwa polizeiliche Gefährder-Ansprachen und Hausbesuche, Meldeauflagen und Aufenthaltsverbote, Passentzug und Ausreiseverbote.
Wer wird in diesem Zusammenhang alles registriert?
R. G.: In diesen "Gewalttäter-Dateien" werden nicht nur rechtskräftig verurteilte Personen erfasst oder solche, bei denen etwa Waffen sichergestellt wurden, sondern auch bloß Verdächtige sowie Personen, gegen die in der Vergangenheit lediglich Personalienfeststellungen, Platzverweise oder Ingewahrsamnahmen angeordnet wurden. Das bedeutet: Wer mit der Polizei etwa im Zusammenhang mit prekären Versammlungen oder Fußballspielen auch nur in Berührung kommt und dabei erfasst wird, ohne jemals Gewalt ausgeübt zu haben, kann sich leicht als potentieller Gewalttäter in einer solchen Datei wiederfinden. Einzige Voraussetzung: Es müssen "bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Personen zukünftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden". Auch "sonstige Personen", also bloße "Kontakt- und Begleitpersonen" von Verdächtigen dürfen gespeichert werden, "soweit dies zur Verhütung oder zur Vorsorge für die künftige Verfolgung einer Straftat mit erheblicher Bedeutung erforderlich ist". Es handelt sich bei all diesen Voraussetzungen letztlich um reine Prognoseentscheidungen, die allein der Polizei überlassen bleiben und auch willküranfällig sind. Insofern ist diese Art von Dateien ein weiterer Baustein in einer längst eingeleiteten modernen Präventionsstrategie, die immer weiter im Vorfeld von strafbaren Handlungen und des Verdachts ansetzt. Damit geraten mehr und mehr Menschen - auch unbescholtene Personen - als "Sicherheitsrisiken" in polizeiliche Eingriffsmaßnahmen, die tief in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen ein-greifen.
 
Was passiert denn nach der WM mit all diesen Sondermaßnahmen?
R. G.: Es spricht vieles dafür, dass die Fußball-WM 2006 dazu genutzt, ja instrumentalisiert wird, um neue umstrittene Eingriffsbefugnisse und Sicherheitstechniken zu legitimieren, zu popularisieren und endgültig in großem Maßstab durchzusetzen. Also müssen wir auch damit rechnen, dass diese weiterhin genutzt werden - etwa die RFID-Chips in Zusammenhang mit Großereignissen und Veranstaltungen. Die RFID-Lesegeräte in den Stadien werden wohl kaum zum Ende der WM wieder abgebaut. Diese anlässlich der WM "salonfähig" gemachte Überwachungs- und Kontrollstruktur wird überleben und wohl auch ihren Siegeszug außerhalb der Stadien fortsetzen. Das heißt: Nach Abpfiff des Endspiels wird der Ausnahmezustand nicht einfach vorbei sein, sondern weitgehend Alltag bleiben.
 
Prävention spielt für den Sicherheitsdiskurs eine zentrale Rolle
Befinden wir uns auf dem Weg in den Polizeistaat?
R. G.: Nicht in den Polizeistaat, das wäre eine zu antiquierte und wenig differenzierende Bezeichnung für eine Entwicklung, die längst schon begonnen hat und die gegenwärtig noch forciert wird. Ich würde eher vom Weg in den autoritären und präventiven Sicherheitsstaat sprechen. Diese Bezeichnung trifft meines Erachtens die Entwicklung und den Stand, aber auch das Zukunftsbild besser als der Begriff des (historisch vornehmlich repressiv gedachten) Polizeistaats. Schließlich spielt im heutigen Sicherheitsdiskurs die Prävention eine ganz zentrale Rolle. Mit diesem Begriff wird nicht nur in der modernen Kriegspropaganda und im Gesundheitssektor mehr oder weniger erfolgreich operiert, sondern auch Politik der Inneren Sicherheit betrieben. Im Zuge der modernen Präventionsstrategie sind etwa Polizeiaufgaben und -befugnisse immer weiter in die Gesellschaft hinein vorverlagert worden, und zwar unabhängig von einem Straftatverdacht, unabhängig auch von einer konkreten Gefahr, die es etwa abzuwehren gälte. Bildlich gesprochen: Die Polizei soll schon vor dem potentiellen Täter am Tatort sein oder dessen Umfeld ausschnüffeln dürfen - ja, möglichst bevor dieser überhaupt einen Tatplan gefasst hat, überspitzt formuliert. Wo jedoch die Prävention zur vorherrschenden Logik erhoben wird, da verkehren sich die Beziehungen zwischen Bürger und Staat rasch: Das Verfassungsprinzip der Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert unter der Hand ihre Macht begrenzende Bedeutung, der Mensch mutiert zum potentiellen Sicherheitsrisiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss. Und die Sicherheit wird zum Supergrundrecht, das alle Grundrechte der Bürger als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates in den Schatten zu stellen droht.
 
Die bloße Existenz als ausreichendes Verdachtsmoment?
R. G.: Tatsächlich werden in diesem zur Maßlosigkeit, ja zum Totalitären neigenden Präventionskonzept immer mehr vollkommen unverdächtige Menschen polizeipflichtig ge-macht und in Sicherheitsmaßnahmen verstrickt. Zum Beispiel in die verdachtsunabhängige Schleierfahndung, bei der alle Verkehrsteilnehmer angehalten, kontrolliert, gegebenenfalls durchsucht werden dürfen - ohne jeglichen Verdacht oder Anlass; oder die Rasterfahndung, jene automatisierte Datenabgleichsmethode, bei der Tausende unverdächtiger Personen auf elektronischem Wege in Verdacht geraten können; oder die ausufernde Videoüberwachung im öffentlichen Raum, in die alle Passanten einbezogen werden - ohne zu wissen, was mit den Aufzeichnungen anschließend geschieht. Während der WM bilden sich mit flächendeckenden Videoüberwachungen in den Innenstädten und Stadien regelrechte Hochsicherheitstrakte her-aus, in denen fröhlich johlende Menschen spannende und unbeschwerte Stunden erleben sollen und, wie es scheint, wohl auch erleben.
 
Wieso gibt es so wenig Widerstand?
R. G.: Diese Frage ist überaus berechtigt, lässt sich aber auf die Kürze kaum befriedigend beantworten. Denn dieses diagnostizierbare Manko hat mit der Entwicklung der modernen Informationsgesellschaft und ihrem technischen Kontrollpotential zu tun - und mit der positiven Besetzung dieser Technologie durch die Nutzer, mit der Abstraktheit der Überwachungsvorgänge und der Gewöhnung daran. Im übrigen konzentrieren sich Fußball-Fans eben auf das WM-Event, während Nicht-Fans sich um die WM und ihr Umfeld nicht allzusehr kümmern. Nur Fan-Projekte und politisch denkende Fans, etwa solche, die im "Bündnis aktiver Fußballfans BAFF" organisiert sind, protestieren gegen die Auswüchse und Zumutungen im Zusammenhang mit der Sicherung der WM. Und nicht zu vergessen: Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen, die vor und während der WM etliche Veranstaltungen absolvieren, in denen eine kritische Auseinandersetzung mit diesem brisanten Überwachungsthema stattfindet, das ja weit über dieses Großereignis hinaus grundsätzliche Bedeutung hat. Kaum werden wir uns von der WM erholt haben, steht der Besuch des US-Präsidenten George W. Bush ins Haus und damit der Ausnahmezustand für halb Norddeutschland: 15.000 Polizeibeamte im Einsatz, Sperrung eines Straßennetzes von insgesamt ca. 400 km, zugeschweißte Gullideckel in zig Kilometer Umkreis, etc.
 
Hat es so etwas schon einmal gegeben?
R. G.: Schon beim Kurzbesuch von Georg W. Bush im Februar 2005 wurde das Rhein-Main-Gebiet in einen regelrechten Ausnahmezustand versetzt. Exzessive Sicherheitsvorkehrungen begleiteten US-Präsident Bush wie einen Despoten, der vor einer aufgebrachten Bevölkerung geschützt werden muss: Totalsperrung ganzer Autobahnen, Anhalten von Zügen und Schiffen, Flugverbot, Schließung von Behörden, Schulen und Geschäften, Abriegelung des Stadtzentrums von Mainz, Schaffung von Hochsicherheitszonen, Versiegelung von Garagen, Verbannung privater PKW aus der Innenstadt. Schwer bewaffnete Polizeieinheiten, Scharfschützen auf Balkonen und Hausdächern, Kampfhubschrauber und Kampfjets der Bundeswehr. Und auch damals schon weit über tausend zugeschweißte Kanaldeckel... Bush hat diesen Deutschland-Besuch unbeschadet überlebt; nun ist dieser Sicherheitsaufwand Standard, auf den nach Belieben draufgesattelt werden kann und wird. Die Bürgerkriegsübung in und um Mainz war ein Vorgeschmack auf den G-8-Gipfel in Heiligendamm im Sommer 2007. Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt und Publizist, seit 2003 Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitherausgeber der Zweiwochenschrift Ossietzky für Politik/ Kultur/ Wirtschaft und des Grundrechte-Reports ‚Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland’. Mitglied der Jury zur Vergabe des BigBrotherAwards und der Carl-von-Ossietzky-Medaille.
Links
http://www.rolf-goessner.de
http://www.ilmr.de
http://www.sopos.org/ossietzky
http://grundrechte-report.de
http://www.bigbrotherawards.de
 
Quelle: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/22/22937/1.html  vom 21. 6. 06